Belletristik REZENSIONEN

Keine Angst, banal zu sein...

Russe
Taiga Blues
Aus dem Russischen von Annelore Nitschke
Alexander Fest Verlag, Berlin 2002, 176 S.

Da hackt die Melkerin Krotowa ihrem Mann im Suff ein Bein ab, da wird ein Rekrut von seinen Kameraden in der weiten kasachischen Steppe (auch im Suff?) einfach vergessen, da kommt in der "Chronik eines siebenjährigen Krieges" ein hergereister Farmer in einen alteingesessenen Kolchos, weil er seinen Kindern - was ihm niemand glaubt - die Abgase der Stadt nicht länger zumuten will. Weil der Fremde nicht trinkt, über Eigeninitiative verfügt und überhaupt tüchtiger ist als die Dörfler, bringt er es zu was. Doch der Neid der Nachbarn ist allgegenwärtig. Sie bestehlen ihn, sorgen für bürokratische Hürden, vergewaltigen seine Tochter, brennen sein Eigentum nieder - soll der doch gefälligst so arm bleiben, wie man selbst schon immer war...

All das Geschichten, Kurzgeschichten, aus der russischen Provinz, die so durchaus auch woanders spielen könnten. Aus der russischen Provinz dagegen ist der Autor selbst, der in Kirow an der Wjatka lebt, ungefähr achthundert Kilometer östlich von Moskau. Den Stoff für seine gewöhnlich-ungewöhnlichen Geschichten sucht der ehemalige Dorfschullehrer per Anhalter. Es sind Geschichten von Dörflern und Kleinstädtern, Jungen und Alten, von wenigen Mächtigen und vielen Hungerleidern, die gegen die Tücken des Alltags kämpfen, indem sie ihn sich erträglich trinken. Ikonnikows vierundvierzig Geschichten sind oft grotesk, oft traurig, oft desillusionierend, auch komisch, eigentlich nicht humorvoll, aber immer schonungslos, unbestechlich und doch voller Anteilnahme. In seinem russischen Manuskript  trägt das Buch den sehr treffenden Titel "Berichte aus der Schlammzeit". Ikonnikows "Berichte" sind äußerst lakonisch, er erklärt nichts, beschreibt nie, was den beschreibenswerten Ereignissen vorausgegangen ist oder was ihnen folgt. Das Ereignis steht nackt und bloß. Alexander Ikonnikow liebt das trockene Erzählen, einer Analyse verweigert er sich. "Hab keine Angst, banal zu sein, das Leben selbst ist banal" - das der Wahlspruch eines seiner Helden. Auch der seine? So richtig neu erscheinen die Figuren und Umstände nur demjenigen, für den Russland ein weißer Fleck auf der Landkarte ist. Die anderen erinnern sich lebhaft an die vielen skurrilen Figuren von Gogol bis Tschechow.

Alexander Ikonnikows Geschichten sind bis jetzt in Russland nicht erschienen, da hätten sie auch nicht diesen Aha-Effekt wie in Deutschland, wo die Deutschen - gemeint sind da wohl eher die Westdeutschen - von solchen russischen Vorkommnissen im Wilden Osten  fast nichts wissen.

Ikonnikow ist nicht der erste und nicht der einzige Russe, der in der kleinen Form über den schnöden Alltag der kleinen Leute schreibt. Aber so kurz und bündig wie er, der in die (russische) Seele seiner Helden nur ganz flüchtige Blicke wirft, schreibt sonst keiner von ihnen. Zugegeben, auch das hat seinen Reiz. Nur, Ikonnikow schreibt gegenwärtig an seinem ersten Roman. Da kann man gespannt sein, wie er, gerade er, die große Form meistern wird.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 

Weitere Erzählungen, Geschichten, Kurzprosa:

  • Jeremej Aipin, Ich höre der Erde zu. Zwei Erzählungen.
  • Pjotr Aleschkowski, Stargorod. Stimmen aus einem Chor. Erzählungen.
  • Dmitri Bakin, Die Wurzeln des Seins. Erzählungen.
  • Nina Berberova, Die Damen aus St. Petersburg. Zwei Erzählungen.
  • Iwan Bunin, Liebe und andere Unglücksfälle.
  • Anton Čechov, Freiheit von Gewalt und Lüge.
  • Anton Čechov, Ein unnötiger Sieg.
  • Daniil Charms, Zwischenfälle.
  • Daniil Charms, Fälle, Hörbuch.
  • Irina Denežkina, Komm.
  • Andrej Dmitriew, Die Flussbiegung.
  • Fjodor Dostojewskij, Meistererzählungen.
  • Asar Eppel, Die Straße aus Gras. Erzählungen.
  • Daniil Charms, Zwischenfälle.
  • Anatoli Gawrilow, Zum Besuch von N. Geschichten aus der russischen Provinz.
  • Nikolaj Gogol, Petersburger Geschichten.
  • Nikolaj Gogol, Meistererzählungen.
  • Friedrich Gorenstein, Champagner mit Galle. Erzählungen.
  • Maxim Gorki, Meisternovellen.
  • Elena Guro, Lieder der Stadt. Prosa und Zeichnungen.
  • Viktor Jerofejew, Männer. Ein Nachruf.
  • Wladimir Kaminer, Russendisko.
  • Wladimir Kaminer, Die Reise nach Trulala.
  • Wladimir Kaminer, Mein deutsches Dschungelbuch.
  • Christoph Keller, Petersburg erzählt.
  • Julia Kissina, Vergiß Tarantino.
  • Andrej Kurkow, Herbstfeuer. Erzählungen.
  • Adelheid Latchinian, Sehnsucht ohne Ende. Armenische Erzählungen.
  • Wladimir Makanin, Der kaukasische Gefangene.
  • Maria Marginter / Fyodor Gawrilow, St. Petersburg. Weiße Nächte, kalte Tage.
  • Walter Neumann, Eine Handbreit über den Wogen. Baltische Geschichten.
  • Jewgeni Popow, Wie es mit mir bergab ging. Erzählungen.
  • Nina Sadur / Jekaterina Sadur, Die Wunde Ungeliebt. Zwei Erzählungen.
  • Olga Sedakova, Reise nach Brjansk. Zwei Erzählungen.
  • Alexander Solschenizyn, Heldenleben. Zwei Erzählungen.
  • Stefan Sullivan, Sibirischer Schwindel. Zwei Abenteuerromane.
  • Wladimir Tutschkow, Der Retter der Taiga.
  • Ljudmila Ulitzkaja, Sonetschka und andere Erzählungen.
Weitere Titel zum Thema "Russland heute":

  • Pjotr Aleschkowski, Der Iltis.
  • Arkadi Babtschenko, Die Farbe des Krieges.
  • Galina Baschkirowa, Mir allein, in: Immerhin ein Ausweg, Hrsg. Natalija Nossowa / Christiane Körner.
  • Sergej Bolmat, In der Luft.
  • Michail Chodorkowski, Briefe aus dem Gefängnis.
  • Sophia Creswell, Der Bauch von Petersburg.
  • Viktoria Fomina, Der betrunkene Ratte in der Küche, in: Immerhin ein Ausweg,
    Hrsg. Natalija Nossowa / Christiane Körner.
  • Michail Ionow, Quo vadis, Russland?
  • Wladimir Makanin, Der kaukasische Gefangene.
  • Marina Palej, Der Tag des Pappelflaums, in: Immerhin ein Ausweg, Hrsg. Natalija Nossowa / Christiane Körner.
  • Grigori Pasko, Die rote Zone. Ein Gefängnistagebuch.
  • Wiktor (Viktor) Pelewin, Das Leben der Insekten.
  • Viktor (Wiktor) Pelewin, Buddhas kleiner Finger.
  • Viktor (Wiktor) Pelewin, Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin.
  • Ljudmila Petruschewskaja, Der jüngere Bruder, in: Immerhin ein Ausweg, Hrsg. Natalija Nossowa/Christiane Körner.
  • Anna Politkovskaja, Putins Russland.
  • Anna Politkovskaja, Russisches Tagebuch.
  • Irina Poljanskaja, Mama, in: Immerhin ein Ausweg, Hrsg. Natalija Nossowa / Christiane Körner.
  • Oksana Robski, Babuschkas Töchter.
  • Roman Senčin, Minus.
  • Alexej Slapovsky, Das Formular.
  • Alexej Slapovsky, Der heilige Nachbar.
  • Vladimir Sorokin, LJOD. DAS EIS.
  • Stefan Sullivan, Sibirischer Schwindel. Zwei Abenteuerromane.
  • Alexander Terechow, Rattenjagd.
  • Donald M. Thomas, Solschenizyn. Die Biographie.
  • Tatjana Tolstaja, Lilith, in: Immerhin ein Ausweg, Hrsg. Natalija Nossowa /Christiane Körner.
  • Elena Tregubova, Die Mutanten des Kreml. Mein Leben in Putins Reich.
  • Wladimir Tutschkow, Der Retter der Taiga.
  • Robin White, Sibirische Tiger.
  • Marina Wischnewezkaja, Der Architekt Komma Der nicht mit mir spricht, in: Immerhin ein Ausweg,
    Hrsg. Natalija Nossowa / Christiane Körner.
  • Andrej Wolos, Der Animator.
  • Benno und Petra Zielecinski, Die Fleischfabrik. Ein Russlandreport.
Weitere Titel zum Thema "Kriminalität im heutigen Russland":

    (Kriminalliteratur siehe bei Alexandra Marinina.)
  • Sophia Creswell, Der Bauch von Petersburg.
  • Grigori Pasko, Die rote Zone. Ein Gefängnistagebuch.
  • Grigori Pasko, Honigkuchen. Anleitung zum Überleben hinter Gittern.
  • Anatoli Pristawkin, Ich flehe um Hinrichtung.
  • Oksana Robski, Babuschkas Töchter.
  • Elena Tregubova, Die Mutanten des Kreml. Mein Leben in Putins Reich.
  • Wladimir Tutschkow, Der Retter der Taiga.

Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 22.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

In der Brautwerberin Krallen hilft kein Lallen.
Sprichwort der Russen

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