Belletristik REZENSIONEN

Man beurteilt seine Freunde nicht, man liebt sie...

Über die Russen Bakunin, Herzen, Ogarjow u.a.
Romantiker der Revolution
Ein russischer Familienroman aus dem 19. Jahrhundert
Die Andere Bibliothek, Hrsg. von Hans Magnus Enzensberger
Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser
Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2004, 435 S.

Über den Russen Bakunin
Bakunin
Ein Leben für die Freiheit
Aus dem Französischen von Andreas Löhrer
Mit diversen Schwarz-Weiß-Fotos
Edition Nautilus, Hamburg 1999, 558 S.

Romantiker der Revolution ist eine Neuauflage des bereits 1933 erschienenen Buches von Edward Hallett Carr, dem berühmten englischen Historiker.

Zwar ist die russische Geistes- und Gewaltgeschichte im Buch immer gegenwärtig, doch geht es in diesem Familienroman - den der Autor (richtiger) eine Porträtgalerie nennt - auch um Liebe, Ehekrisen, Affären, absurde Heldentaten, dubiose Geschäfte von imaginären Revolutionskomitees, um merkwürdige Revolutionäre, um Intrigen und Duelle. Diese Porträtgalerie handelt vorrangig von Alexander Herzen (1812-1870), Nikolai Ogarjow (1814-1877) und Michail Bakunin (1814-1876) - jenen bedeutenden Vertretern des revolutionären Anarchismus, die die russische Autokratie vehement ablehnten und Russland Mitte des 19. Jahrhunderts hoffnungsfroh und voller Zuversicht in Richtung Westeuropa verließen, um ihre romantischen Ideale, die Vorstellung eines autoritäts- und herrschaftslosen Zusammenlebens, zu verwirklichen. Im Mittelpunkt von Romantiker der Revolution steht der russische revolutionäre Demokrat, Philosoph, Schriftsteller und Publizist Alexander Herzen, ein unehelicher Sohn des Iwan Jakow, der zu einer alten Moskauer Adelsfamilie gehörte. Die Mutter von Herzen (Herzen ist ein Phantasiename) war Henriette Wilhelmina Luisa Haag, die sich der Vater als Sechzehnjährige von einem Besuch nach Deutschland mitgebracht hatte. Sie war die Tochter eines ehrbaren, kleinen Stuttgarter Beamten. (In der Bakunin-Biographie von Madeleine Grawitz ist sie ein deutsches Dienstmädchen.) Sie wurde Jakows Geliebte, im höheren Alter dann seine Krankenpflegerin. Der Vater vererbte nach seinem Tode den größten Teil seines Vermögens seinem illegitimen ältesten Sohn - um die Verwandten leer ausgehen zu lassen... Alexander Herzen war damit bis an sein Lebensende finanziell unabhängig.

Auf Grund ihrer großen Ideen des libertären (freiheitlichen) Sozialismus in Russland verfolgt und immer wieder in die Verbannung geschickt, gingen Herzen, Ogarjow (russischer revolutionär-demokratischer Lyriker und Publizist) und Bakunin, der Gewalt gegen Personen verurteilte, Mitte des 19. Jahrhunderts ins Exil nach Europa, nach England, wo man seine Meinung frei äußern konnte, wo Demokratie praktiziert wurde, wo Debatten - selbst über den Sozialismus - kein Verbrechen darstellten; England erschien ihnen als das gelobte Land. Doch in London musste Herzen ernüchtert feststellen: "Das Leben hier ist ungefähr so langweilig wie das der Würmer im Käse." Begeistert dagegen war er von Italien: "Es gibt in Europa ein Land, das einen trösten und erfrischen und zu Tränen rühren kann, zu Tränen nicht des Abscheus und der Enttäuschung, sondern des Entzückens."

Im Exil veröffentlichten Herzen und Ogarjow zusammen mit Michail Bakunin das berühmte Wochenblatt "Die Glocke", das nicht nur großen Einfluss auf die russischen Emigranten ausübte, sondern auch nach Russland (bis in den zaristischen Haushalt) geschmuggelt wurde. Doch auch das private, an Tragik reiche Leben von Herzen, Ogarjow, Bakunin und Herwegh (Bakunin hatte Herzen mit dem deutschen Dichter Herwegh bekannt gemacht, der wenige Jahre später eine verhängnisvolle Rolle in dessen Leben spielen sollte) wird in diesem Familienroman aus dem 19. Jahrhundert erzählt. Ich habe Ende der achtziger Jahre von Alexander Herzen "Mein Leben. Memoiren und Reflexionen" gelesen, 1962 im DDR-Aufbau Verlag erschienen. In diesen Memoiren, aus denen Carr des Öfteren zitiert, hat Alexander Herzen auch über die Vorkommnisse in seinem persönlichen Leben berichtet: Dass sich seine Frau Natalie in den berühmten Dichter Georg Herwegh verliebte. "Herwegh war kein Aristokrat", schreibt Madeleine Grawitz. "Als Sohn eines Hoteliers hatte er ein wertvolleres Gut als einen Titel: die Schönheit. Laut einem Zeitgenossen hatte er die schönsten bei einem Mann je gesehenen Augen." Schon damals hat mich diese Ehe- / Liebesgeschichte sehr bewegt. Bei Edward Hallett Carr nun lese ich, dass Herzens Version schwerwiegende Auslassungen und Ungenauigkeiten enthält. Carr hatte das Glück, mit Marcel Herwegh, dem Sohn des Dichters, Kontakt zu bekommen und alle diesbezüglichen Dokumente einsehen zu können. Carr: "Seine [Marcel Herweghs] Großzügigkeit hat es mir ermöglicht (...) die Geschichte offen und unparteiisch zu erzählen." So hat Carr die Rolle von Georg und der vermögenden Emma Herwegh (Bakunin war 1843 ihr Trauzeuge.) das erste Mal in ein wahres Licht gerückt "und beide nicht  als niederträchtige Ungeheuer, sondern als Menschen aus Fleisch und Blut" geschildert. Auch Herzen, der sich in die Frau seines engen Freundes Nikolai Ogarjow verliebte (ebenfalls mit Kindern als Folge) bleibt bei Carr ein sympathischer Mensch. Trotz der großen persönlichen Verwicklungen stehen die privaten Tragödien dennoch im Hintergrund, nimmt die Politik breiten Raum ein; denn jeden Tag lieferte der Terror neue Schlagzeilen.

E. H. Carr - dessen Quellenkenntnis ganz erstaunlich ist - schließt sein Vorwort zur ersten Ausgabe von 1933 mit den Worten: "Mir ist wohl bewußt, daß ich auf diesen Seiten der zugleich animalisch und übermenschlich anmutenden Gestalt von Michail Bakunin, diesem faszinierenden Enthusiasten des revolutionären Anarchismus, nicht gerecht geworden bin. Seine meteorische Bahn berührt und schneidet in unregelmäßigen Abständen die Kreise der `Romantiker der Revolution´, und nur an diesen Berührungs- und Schnittpunkten ist hier von ihm die Rede. Doch Bakunin verdient ein Buch für sich, und ich gestehe, daß ich nicht wenig Lust habe, dieses Buch eines Tages zu schreiben." E. H. Carr, der dieses Buch 1937 tatsächlich veröffentlicht hat, wurde 1892 in London geboren, wo er 1982 starb. Er arbeitete zwanzig Jahre lang im Foreign Office, war dann außenpolitischer Redakteur der "Times" und lehrte schließlich Geschichte in Oxford und Cambridge. Sein Hauptwerk ist die monumentale "History of Soviet Union" in vierzehn Bänden (1950 bis 1978). Überrascht und erfreut hat mich, dass der Verlag seinen Lesern nicht nur den Autor, sondern auch den Übersetzer Reinhard Kaiser vorstellt: geboren 1950, arbeitet er seit 1975 als Lektor, Autor und preisgekrönter Übersetzer; er lebt in Frankfurt am Main.

Romantiker der Revolution erschien in der von Hans Magnus Enzensberger - er wird im November 2004 fünfundsiebzig Jahre alt - herausgegebenen "Anderen Bibliothek" ("Wir machen nur Bücher, die wir gern selber lesen würden."), die im November 2004 ihr zwanzigstes Jahr vollendet.* Diese klassische Biographie von Edmund Hallett Carr liest sich streckenweise wie ein glänzend geschriebener, epischer Thriller, obwohl sich der Autor strickt an die historischen Fakten hält.


Im Anhang zu ihrem Buch über Bakunin nennt Madeleine Grawitz weitere Biographien, die über Michail Bakunin erschienen sind. Über drei große, auf Deutsch verfasste Bände von Max Nettlan urteilt sie: "Das Studium von Bakunins Ideen hat bei Nettlan mehr Interesse geweckt als sein Leben. Dabei hat Bakunin doch gerade durch seine Persönlichkeit Einfluß ausgeübt und seine Epoche geprägt."

Ich gestehe, dass mich bei der Biographie von Madeleine Grawitz Bakunins Leben über alle Maßen faszinierte. Die Biographie Bakunin. Ein Leben für die Freiheit ist wie Romantiker der Revolution eine Zeitgeschichte ebenfalls des 19. Jahrhunderts. Die Biographie handelt vom Prager Kongress (1848), von der gescheiterten Revolution in Dresden (1849), von der ersten Bruderschaft (1864), der Genfer Internationale (1867-1868), der Allianz der Sozialistischen Demokratie (1868), dem Deutsch-Französischen Krieg und der Lyoner Internationale (1870), der Londoner Konferenz (1871), dem Haager Kongress, dem Ende der Internationale (1872)...

Madeleine Grawitz, eine Psychologin und erfahrene Historikerin, beschreibt, wie ein romantischer russischer Aristokrat, der im kultivierten Milieu des "Paradieses von Prjamuchino" erzogen wurde, zum Begründer des Anarchismus heranwächst. (Am 18. Mai) 1814 in Prjamuchino, in der Provinz Twer geboren, wird Michail Bakunin abgöttisch seine vier Schwestern (Ljubow, Alexandra, Tatjana und Warwara) lieben; das Verhältnis zu seinen fünf Brüdern gestaltet sich distanzierter. Mit vierzehn Jahren geht Michail auf Wunsch des Vaters zur Artillerieschule in St. Petersburg, wird mit zwanzig Jahren (trotz schlechter Noten) zum Leutnant ernannt, und quittiert ein Jahr später zum Kummer seines Vaters den Dienst. Michail Bakunin strebt nach Freiheit und Unabhängigkeit. Deshalb reist er nach Moskau, wo er die Universität besucht und für sich Kant, Schelling und vor allem Hegel entdeckt. Teils aus privatem Interesse, teils aus revolutionärem Eifer lernt er viel von der Welt kennen: St. Petersburg, Deutschland (Berlin, Dresden, Frankfurt am Main, Köln, Anhalt-Kotha, Leipzig, Chemnitz), die Schweiz (Genf, Zürich, Jura, Bern), Brüssel, Paris, Breslau, Prag, Sibirien (Verbannung in Tomsk und Irkutsk), London, Stockholm, Italien (Bologna, Luganow)... Bakunin beschließt 1842, nicht mehr nach Russland zurückzukehren. Fünf Jahre später wird er auf Ersuchen der russischen Regierung aus Frankreich ausgewiesen und kehrt nach Brüssel zurück. 1848 reist er nach Paris, Frankfurt am Main, Köln, Berlin, Breslau, Prag. Als er wieder in Berlin ist, erscheint am 6. Juli 1848 in der von Karl Marx geleiteten "Neuen Rheinischen Zeitung" ein Artikel, laut dem George Sand Beweise besäße, dass Bakunin ein russischer Spion, ein "Agent Russlands", sei. Etwa einen  Monat später musste Marx eine Gegendarstellung drucken, rechtfertigte die falschen Behauptungen allerdings mit  der "Pflicht der Presse, öffentliche Charakteure streng zu überwachen". Ob es sich bei der Falschmeldung um eine politische Intrige oder nur um Fahrlässigkeit gehandelt hat, ist nicht nachzuweisen. Jedenfalls wurde Bakunin aus Berlin ausgewiesen, dann aus Breslau, dann aus Dresden; in Anhalt-Köthen schließlich durfte er bleiben. (Das kleine Fürstentum war ein unabhängiger Staat und hatte eine der liberalsten Verfassungen Europas.) Kaum einer interessierte sich hier für Politik, und Bakunin begnügt sich damit, auf die Jagd zu gehen.

Sein ganzes Leben ist Bakunin auf Reisen - von einem Kongress zum nächsten Aufstand. Woher nimmt er das Reisegeld? Immer in Erwartung seines Erbes (auf das er sein Leben lang vergeblich wartet), ist er absolut skrupellos darin, sich überall und von jedem Geld zu borgen, auch wenn er weiß, dass er es nicht zurückzahlen kann. Sich mit Arbeit sein Geld zu verdienen, "bleibt eine in seinen Augen ungewöhnlich erscheinende Möglichkeit..." (Grawitz) Allerdings gab er das Geld nicht für sich persönlich aus. Als er in Paris zu Heinrich Börnsteins Bruder zieht, dem Herausgeber des Wochenblattes "Vorwärts", war der über den Umzug seines Gastes verblüfft: eine Truhe, ein zusammenklappbares Feldbett und ein Zinnbecher. "Er war der bedürfnisloseste aller Menschen." Bakunins Intuition war außergewöhnlich, zum einen wenn es darum ging, die ersten revolutionären Anzeichen zu erkennen oder zum anderen die Leute ausfindig zu machen, die ihm möglicherweise Geld leihen würden. "Wenn seine politischen Freunde ihn oft enttäuscht haben, so haben die Frauen Bakunin - trotz oder wegen seiner Unverfrorenheit - materiell stets geholfen.

Bakunin - dem der russische Senat 1843 sowohl seines Dienstgrades enthoben hat, als auch seines Adelstitels und seiner Privilegien ist mit vielen Großen seiner Zeit bekannt oder befreundet: mit Herwegh (Auf die Angriffe gegen Herwegh sagte er die wahrhaft bakuninschen Worte: `Man beurteilt seine Freunde nicht, man liebt sie."), Turgenjew, Ogarjow, Herzen, Belinskij, Marx, Weitling, George Sand... (Erstmals erfahre ich, dass Turgenjew die berühmte Sängerin Pauline Viardot nicht nur verehrte, sondern auch ihr Geliebter war. Übrigens hatte sich Bakunins Lieblingsschwester Tatjana 1841 unsterblich - aber folgenlos - in Turgenjew verliebt.) Einige Orte lernt der redegewandte Bakunin durchaus unfreiwillig kennen: In Chemnitz (nach seiner Beteiligung am Aufstand in Dresden 1849) wird er festgenommen und in die Festung Königstein gebracht. Zum Tode verurteilt, wird die Strafe in lebenslängliche Haft umgewandelt; Bakunin wird an Österreich ausgeliefert, in Prag inhaftiert und in die Festung Ölmütz verlegt. Am 17. Mai 1851 wird er an Russland ausgeliefert, gelangt in die Peter-Pauls-Festung von St. Petersburg, später nach Schlüsselburg. Das Gnadengesuch seiner Mutter wird abgelehnt, aber seine Haftstrafe in Verbannung nach Sibirien umgewandelt. Noch in der Verbannung - er gibt in Tomsk Französischunterricht - heiratet Bakunin, dieser "gutmütige Riese mit dem treuherzigen Blick", 1858 seine siebzehn Jahre alte polnische Schülerin Antonia Xarerjewna Kwiatkowska. 1859 erhält Bakunin die Erlaubnis, nach Irkutsk zu ziehen und im Auftrag von Kaufleuten Reisen zu unternehmen. Durch eine abenteuerliche Flucht über Japan und die USA gelingt es ihm, nach London zu gelangen, wo er Herzen und Ogarjow wieder begegnet. 1863 trifft seine Frau Antonia in London ein. Nach einem Aufenthalt in der Schweiz lässt sich das Ehepaar in Florenz nieder. (In ihrem Erinnerungsbuch schreibt Anna Grigorjewna Dostojewskaja über Ogarjow: "Von den früheren [Bekanntschaften] begegnete er [Fjodor Dostojewski] in Genf lediglich N. P. Ogarjow, dem berühmten Dichter und Freund Herzens, bei dem sie sich seinerzeit auch kennengelernt hatten. Ogarjow kam öfter einmal zu uns, brachte Bücher sowie Zeitungen und lieh uns sogar manchmal zehn Francs, die wir ihm so bald wie möglich zurückgaben. Fjodor Michailowitsch schätzte viele Gedichte dieses offenherzigen Poeten, und wir freuten uns immer beide über seinen Besuch.")

In der Ersten Internationale stellt sich Bakunin gegen den Autoritarismus von Marx. Zwar bewundert Bakunin Karl Max seit Beginn ihrer Beziehungen, seine "Intelligenz, sein Engagement für die Sache", aber er mag den Menschen nicht. "Unsere Temperamente vertrugen sich nicht. Er nannte mich einen sentimentalen Idealisten, und er hatte Recht; ich nannte ihn einen perfiden und tückischen eitlen Menschen, und ich hatte auch Recht." Während Bakunin die Kinder von Antonia und deren Geliebten, dem neapolitanischen Anwalt Carlo Gambuzzi, großzog und liebte, übergab Marx seinen Sohn, den sein Dienstmädchen Helene Demuth geboren hatte, an Engels. Für mich ist Bakunin ein sympathischer Visionär und ein Prophet, Marx ein weniger sympathischer Theoretiker und Taktiker.

Madeleine Grawitz schreibt auf S. 125, dass Marx die slawischen Völker von Natur aus für minderwertig und konterrevolutionär hielt. Wo steht das geschrieben? Eine Quellenangabe nennt die Autorin nicht.

Bakunin verlor in der Verbannung alle seine Zähne und seine Gesundheit (aber nicht seine Träume), ist früh gealtert, unansehnlich fett geworden, ergraut, mit aufgedunsenem Gesicht und ungepflegter Kleidung. Bakunins Appetit ist legendär: Er kann auf einmal eineinhalb Kilo Fleisch verschlingen, riesige Steaks sind seine Lieblingsspeise. Trotzdem bleiben seine revolutionäre Begeisterung und sein revolutionärer Wille intakt. "Wenn es mir schlecht geht, so erinnere ich mich meines Lieblingsspruchs `Vor der Ewigkeit ist alles nichtig.´"

E. H. Carr zieht sein Fazit: "Eine  Kombination aus Bakunins Begeisterung und Herzens Erfahrung hätte vielleicht etwas auszurichten vermocht, aber jeder ging seinen eigenen Weg, und statt zu einem Bündnis kam es zu kleinlichen Reibereien und gegenseitigem Mißtrauen." Obwohl Herzen sicherlich Recht hatte, wenn er meinte, dass mit Bakunin zusammen zuarbeiten unmöglich sei, wirkt - menschlich gesehen - der "große Fleischkloß" Bakunin liebenswerter als der begüterte Herzen, dem Bakunin "das Zeug zum revolutionären Führer" abspricht.

Bakunins Frau Antonia jedenfalls blieb bis an sein Lebensende bei dem unansehnlichen Mann, trotz ihrer drei Kinder (Carlo, Sofia, Maria) von  Carlo Gambuzzi, der ein italienischer Internationalist und treuer Anhänger Bakunins war. In welchem Maße fühlte sich Gambuzzi für seine Kinder verantwortlich und in welcher Weise trug er zu deren Unterhalt bei? Madeleine Grawitz weiß nur zu berichten, dass er am 17. Januar 1879, drei Jahre nach Bakunins Tod, Antonina heiratete; sie starb am 2. Juni 1887. Im Todesjahr von Bakunin hatte sie an Gambuzzi geschrieben: "Michail ist immer noch derselbe, gibt sich als ernsthafter Mann und ist dennoch ein schreckliches Kind." Bakunin hatte alle drei Kinder als die seinen anerkannt. Wieder eine Parallele zu Carrs Buch: Nachdem Natalia Herzen den Dichter Herwegh leidenschaftlich lieb gewonnen hatte, verliebte sich Herzen in die Frau seines Freundes Ogarjow. "Ogarjow (...) hat Herzen lieber seine Frau überlassen, als seine Freundschaft zu ihm zu opfern. (Wir erinnern uns: Auch die Krupskaja ist trotz Inès Armand an Lenins Seite geblieben.) Und: Auch Ogarjow hat die Kinder  von seiner Frau und Herzen anerkannt.

Liest sich Carrs Buch streckenweise wie ein Thriller, so verschlingt man auch Grawitz kluge Biographie von dem "kleinen, sensiblen und liebevollen Jungen, der zu einem großen, einsamen Rebellen wird" in einem Zug. (Mich hat die Grawitz-Biographie zwei Nächte gekostet.) Madeleine Grawitz wurde in Marseille geboren, ist Lehrbeauftragte für öffentliches Recht und hat an der Rechtsfakultät von Lyon unterrichtet, bevor sie Professorin für Politologie an der Sorbonne in Paris wurde. Wer die bei E. H. Carr agierenden Personen von Angesicht kennen lernen möchte, findet sie im Bakunin-Buch der Madeleine Grawitz.

Trotz der vielen erschienenen Werke über Michail Bakunin bedaure ich es, dass er selbst keine Autobiographie geschrieben hat...


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

  * Hans Magnus Enzensberger hat seine Herausgeberschaft 2004 gekündigt. Ab Oktober 2007 wird der Eichborn Verlag die renommierte "Andere Bibliothek" mit Michael Naumann und Klaus Harpprecht als Herausgeber fortsetzen.

Weitere Rezensionen zum Thema "Russische Geschichte":

  • Ellen Alpsten, Die Zarin.
  • Isaak Babel, Tagebuch 1920.
  • Erich Donnert, Rußland (860-1917). Von den Anfängen bis zum Ende der Zarenzeit.
  • Michail Gorbatschow, Über mein Land.
  • Daniil Granin, Peter der Große.
  • David King, Stalins Retuschen. Foto- und Kunstmanipulationen in der Sowjetunion.
  • Anna Larina Bucharina, Nun bin ich schon weit über zwanzig. Erinnerungen.
  • Iny Lorentz, Die Tatarin.
  • Leonid Luks, Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin.
  • Klaus-Rüdiger Mai, Michail Gorbatschow. Sein Leben und seine Bedeutung für Russlands Zukunft.
  • Simon Sebag Montefiore, Stalin. Am Hof des roten Zaren.
  • Reinhold Neumann-Hoditz, Iwan der Schreckliche/Peter der Große.
  • Boris Pasternak, Dr. Shiwago.
  • Boris Pasternak, Doktor Schiwago, Hörbuch.
  • Protokoll einer Abrechnung. Der Fall Berija. Das Plenum des ZK der KPdSU Juli 1953.
  • Edward Rutherfurd, Russka.
  • Martha Schad, Stalins Tochter. Das Leben der Swetlana Allilujewa.
  • Serge Schmemann, Ein Dorf in Rußland. Zwei Jahrhunderte russischer Geschichte.
  • Alexander Solschenizyn, Zweihundert Jahre zusammen. Band 1: Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916.
  • Alexander Solschenizyn, Zweihundert Jahre zusammen. Band 2: Die Juden in der Sowjetunion.
  • Leo Trotzki, Stalin.
Weitere Rezensionen zu "Biographien und Autobiographien":

  • Sabine Adler, Russenkind. Eine Tochter auf der Suche nach ihrer Mutter.
  • Tschingis Aitmatow, Kindheit in Kirgisien.
  • Ellen Alpsten, Die Zarin.
  • Anton Bayr, Vergessene Schicksale. Überlebenskampf in sowjetischen Lagern - ein Kriegsgefangener erinnert sich.
  • Nina Berberova, Ich komme aus St. Petersburg.
  • Ivan Bunin, Čechov, Erinnerungen eines Zeitgenossen.
  • Juliet Butler, Masha & Dasha. Autobiographie eines siamesischen Zwillingspaares.
  • Alexandra Cavelius, Die Zeit der Wölfe.
  • Marc Chagall, Mein Leben.
  • Jerome Charyn, Die dunkle Schöne aus Weißrußland.
  • Kurt Drawert / Blaise Cendrars, Reisen im Rückwärtsgang.
  • Werner Eberlein, Geboren am 9. November.
  • Irina Ehrenburg, So habe ich gelebt. Erinnerungen aus dem 20. Jahrhundert.
  • Ota Filip, Das Russenhaus.
  • Natalija Geworkjan / Andrei Kolesnikow / Natalja Timakowa, Aus erster Hand. Gespräche mit Wladimir Putin.
  • Natalia Ginzburg, Anton Čechov, Ein Leben.
  • Michail Gorbatschow, Über mein Land.
  • Friedrich Gorenstein, Malen, wie die Vögel singen. Ein Chagall-Roman.
  • Friedrich Gorenstein, SKRJABIN.
  • Daniil Granin, Das Jahrhundert der Angst. Erinnerungen.
  • Viktor Jerofejew, Der gute Stalin.
  • Jewgeni Jewtuschenko, Der Wolfspass. Abenteuer eines Dichterlebens.
  • Kjell Johansson, Gogols Welt.
  • Michail Kalaschnikow (Mit Elena Joly), Mein Leben.
  • Wladimir Kaminer, Russendisko.
  • Wladimir Kaminer, Militärmusik.
  • Wladimir Kaminer, Die Reise nach Trulala.
  • Jelena Koschina, Durch die brennende Steppe.
  • Leonhard Kossuth, Volk & Welt. Autobiographisches Zeugnis von einem legendären Verlag.
  • Gidon Kremer, Zwischen Welten.
  • Anna Larina Bucharina, Nun bin ich schon weit über zwanzig. Erinnerungen.
  • Richard Lourie, SACHAROW.
  • Klaus-Rüdiger Mai, Michail Gorbatschow. Sein Leben und seine Bedeutung für Russlands Zukunft.
  • Medina Mamleew, Ich öffne meine ganze Seele.
  • Andreas Meyer-Landrut, Mit Gott und langen Unterhosen. Erlebnisse eines Diplomaten in der Zeit des Kalten Krieges.
  • Fritz Mierau, Mein russisches Jahrhundert. Autobiographie.
  • Simon Sebag Montefiore, Stalin. Am Hof des roten Zaren.
  • Boris Nossik, Vladimir Nabokov. Eine Biographie.
  • Ingeborg Ochsenknecht, "Als ob der Schnee alles zudeckte". Eine Krankenschwester erinnert sich. Kriegseinsatz an der Ostfront.
  • Bulat Okudshawa, Reise in die Erinnerung. Glanz und Elend eines Liedermachers.
  • Irina Pantaeva, Mein Weg auf die Laufstege der Welt.
  • Edward Radsinski, Die Geheimakte Rasputin. Neue Erkenntnisse über den Dämon am Zarenhof.
  • Alexander Rahr, Wladimir Putin. Der "Deutsche" im Kreml.
  • Günter Rosenfeld (Hrsg.), Skoropadskyj, Pavlo. Erinnerungen 1917 bis 1918.
  • Anatoli Rybakow, Die Kinder vom Arbat.
  • Anatoli Rybakow, Roman der Erinnerung.
  • Juri Rytchëu, Im Spiegel des Vergessens.
  • Juri Rytchëu, Die Reise der Anna Odinzowa.
  • Martha Schad, Stalins Tochter. Das Leben der Swetlana Allilujewa.
  • Olga Sedakova, Reise nach Brjansk. Zwei Erzählungen.
  • Wolfgang Seiffert, Wladimir W. Putin.
  • Michael Senkewitsch, Elga. (Aus den belletristischen Memoiren).
  • Helga Slowak-Ruske, Rote Fahnen und Davidstern.
  • Gabriele Stammberger / Michael Peschke, Gut angekommen - Moskau. Das Exil der Gabriele Stammberger 1932-1954.
  • Frank N. Stein, Rasputin. Teufel im Mönchsgewand.
  • Carola Stern, Isadora Duncan und Sergej Jessenin. Der Dichter und die Tänzerin.
  • Stefan Sullivan, Sibirischer Schwindel. Zwei Abenteuerromane.
  • Donald M. Thomas, Solschenizyn. Die Biographie.
  • Nyota Thun, Ich - so groß und so überflüssig. Wladimir Majakowski, Leben und Werk.
  • Leo Trotzki, Stalin.
  • Henri Troyat, Rasputin.
  • Semjon S. Umanskij, Jüdisches Glück. Bericht aus der Ukraine 1933-1944.
  • Marina Vlady, Eine Liebe zwischen zwei Welten (mit dem Schauspieler und Liedersänger Wladimir Wyssozki).
  • Erika Voigt / Heinrich Heidebrecht, Carl Schmidt - ein Architekt in St. Petersburg 1866-1945.
  • Julius Wolfenhaut, Nach Sibirien verbannt. Als Jude von Czernowitz nach Stalinka 1941-1994.
  • Solomon Wolkow (Hrsg.), Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch.
  • Jewsej Zeitlin, Lange Gespräche in Erwartung eines glücklichen Todes.
Weitere Rezensionen zu Büchern aus der Reihe "Die Andere Bibliothek":

  • Anatolij Marienhof, Der rasierte Mann und Zyniker.
  • Stefan Sullivan, Sibirischer Schwindel. Zwei Abenteuerromane.

Am 03.02.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 19.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Mach dich nicht über eine fremde Schwester lustig, wenn deine eigene noch Jungfrau ist.
Sprichwort der Russen

 [  zurück  |  drucken  |  nach oben  ]