Belletristik REZENSIONEN | |
Man beurteilt seine Freunde nicht, man liebt sie... | |
E. H. Carr | Über die Russen Bakunin, Herzen, Ogarjow u.a. |
Romantiker der Revolution Ein russischer Familienroman aus dem 19. Jahrhundert Die Andere Bibliothek, Hrsg. von Hans Magnus Enzensberger | |
Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2004, 435 S. | |
Madeleine Grawitz | Über den Russen Bakunin |
Bakunin Ein Leben für die Freiheit | |
Aus dem Französischen von Andreas Löhrer Mit diversen Schwarz-Weiß-Fotos Edition Nautilus, Hamburg 1999, 558 S. | |
Romantiker der Revolution ist eine Neuauflage des bereits 1933
erschienenen Buches von Edward Hallett Carr, dem berühmten englischen
Historiker. Zwar ist die russische Geistes- und Gewaltgeschichte im Buch immer gegenwärtig, doch geht es in diesem Familienroman - den der Autor (richtiger) eine Porträtgalerie nennt - auch um Liebe, Ehekrisen, Affären, absurde Heldentaten, dubiose Geschäfte von imaginären Revolutionskomitees, um merkwürdige Revolutionäre, um Intrigen und Duelle. Diese Porträtgalerie handelt vorrangig von Alexander Herzen (1812-1870), Nikolai Ogarjow (1814-1877) und Michail Bakunin (1814-1876) - jenen bedeutenden Vertretern des revolutionären Anarchismus, die die russische Autokratie vehement ablehnten und Russland Mitte des 19. Jahrhunderts hoffnungsfroh und voller Zuversicht in Richtung Westeuropa verließen, um ihre romantischen Ideale, die Vorstellung eines autoritäts- und herrschaftslosen Zusammenlebens, zu verwirklichen. Im Mittelpunkt von Romantiker der Revolution steht der russische revolutionäre Demokrat, Philosoph, Schriftsteller und Publizist Alexander Herzen, ein unehelicher Sohn des Iwan Jakow, der zu einer alten Moskauer Adelsfamilie gehörte. Die Mutter von Herzen (Herzen ist ein Phantasiename) war Henriette Wilhelmina Luisa Haag, die sich der Vater als Sechzehnjährige von einem Besuch nach Deutschland mitgebracht hatte. Sie war die Tochter eines ehrbaren, kleinen Stuttgarter Beamten. (In der Bakunin-Biographie von Madeleine Grawitz ist sie ein deutsches Dienstmädchen.) Sie wurde Jakows Geliebte, im höheren Alter dann seine Krankenpflegerin. Der Vater vererbte nach seinem Tode den größten Teil seines Vermögens seinem illegitimen ältesten Sohn - um die Verwandten leer ausgehen zu lassen... Alexander Herzen war damit bis an sein Lebensende finanziell unabhängig. Auf Grund ihrer großen Ideen des libertären (freiheitlichen) Sozialismus in Russland verfolgt und immer wieder in die Verbannung geschickt, gingen Herzen, Ogarjow (russischer revolutionär-demokratischer Lyriker und Publizist) und Bakunin, der Gewalt gegen Personen verurteilte, Mitte des 19. Jahrhunderts ins Exil nach Europa, nach England, wo man seine Meinung frei äußern konnte, wo Demokratie praktiziert wurde, wo Debatten - selbst über den Sozialismus - kein Verbrechen darstellten; England erschien ihnen als das gelobte Land. Doch in London musste Herzen ernüchtert feststellen: "Das Leben hier ist ungefähr so langweilig wie das der Würmer im Käse." Begeistert dagegen war er von Italien: "Es gibt in Europa ein Land, das einen trösten und erfrischen und zu Tränen rühren kann, zu Tränen nicht des Abscheus und der Enttäuschung, sondern des Entzückens." Im Exil veröffentlichten Herzen und Ogarjow zusammen mit Michail Bakunin das berühmte Wochenblatt "Die Glocke", das nicht nur großen Einfluss auf die russischen Emigranten ausübte, sondern auch nach Russland (bis in den zaristischen Haushalt) geschmuggelt wurde. Doch auch das private, an Tragik reiche Leben von Herzen, Ogarjow, Bakunin und Herwegh (Bakunin hatte Herzen mit dem deutschen Dichter Herwegh bekannt gemacht, der wenige Jahre später eine verhängnisvolle Rolle in dessen Leben spielen sollte) wird in diesem Familienroman aus dem 19. Jahrhundert erzählt. Ich habe Ende der achtziger Jahre von Alexander Herzen "Mein Leben. Memoiren und Reflexionen" gelesen, 1962 im DDR-Aufbau Verlag erschienen. In diesen Memoiren, aus denen Carr des Öfteren zitiert, hat Alexander Herzen auch über die Vorkommnisse in seinem persönlichen Leben berichtet: Dass sich seine Frau Natalie in den berühmten Dichter Georg Herwegh verliebte. "Herwegh war kein Aristokrat", schreibt Madeleine Grawitz. "Als Sohn eines Hoteliers hatte er ein wertvolleres Gut als einen Titel: die Schönheit. Laut einem Zeitgenossen hatte er die schönsten bei einem Mann je gesehenen Augen." Schon damals hat mich diese Ehe- / Liebesgeschichte sehr bewegt. Bei Edward Hallett Carr nun lese ich, dass Herzens Version schwerwiegende Auslassungen und Ungenauigkeiten enthält. Carr hatte das Glück, mit Marcel Herwegh, dem Sohn des Dichters, Kontakt zu bekommen und alle diesbezüglichen Dokumente einsehen zu können. Carr: "Seine [Marcel Herweghs] Großzügigkeit hat es mir ermöglicht (...) die Geschichte offen und unparteiisch zu erzählen." So hat Carr die Rolle von Georg und der vermögenden Emma Herwegh (Bakunin war 1843 ihr Trauzeuge.) das erste Mal in ein wahres Licht gerückt "und beide nicht als niederträchtige Ungeheuer, sondern als Menschen aus Fleisch und Blut" geschildert. Auch Herzen, der sich in die Frau seines engen Freundes Nikolai Ogarjow verliebte (ebenfalls mit Kindern als Folge) bleibt bei Carr ein sympathischer Mensch. Trotz der großen persönlichen Verwicklungen stehen die privaten Tragödien dennoch im Hintergrund, nimmt die Politik breiten Raum ein; denn jeden Tag lieferte der Terror neue Schlagzeilen. E. H. Carr - dessen Quellenkenntnis ganz erstaunlich ist - schließt sein Vorwort zur ersten Ausgabe von 1933 mit den Worten: "Mir ist wohl bewußt, daß ich auf diesen Seiten der zugleich animalisch und übermenschlich anmutenden Gestalt von Michail Bakunin, diesem faszinierenden Enthusiasten des revolutionären Anarchismus, nicht gerecht geworden bin. Seine meteorische Bahn berührt und schneidet in unregelmäßigen Abständen die Kreise der `Romantiker der Revolution´, und nur an diesen Berührungs- und Schnittpunkten ist hier von ihm die Rede. Doch Bakunin verdient ein Buch für sich, und ich gestehe, daß ich nicht wenig Lust habe, dieses Buch eines Tages zu schreiben." E. H. Carr, der dieses Buch 1937 tatsächlich veröffentlicht hat, wurde 1892 in London geboren, wo er 1982 starb. Er arbeitete zwanzig Jahre lang im Foreign Office, war dann außenpolitischer Redakteur der "Times" und lehrte schließlich Geschichte in Oxford und Cambridge. Sein Hauptwerk ist die monumentale "History of Soviet Union" in vierzehn Bänden (1950 bis 1978). Überrascht und erfreut hat mich, dass der Verlag seinen Lesern nicht nur den Autor, sondern auch den Übersetzer Reinhard Kaiser vorstellt: geboren 1950, arbeitet er seit 1975 als Lektor, Autor und preisgekrönter Übersetzer; er lebt in Frankfurt am Main. Romantiker der Revolution erschien in der von Hans Magnus Enzensberger - er wird im November 2004 fünfundsiebzig Jahre alt - herausgegebenen "Anderen Bibliothek" ("Wir machen nur Bücher, die wir gern selber lesen würden."), die im November 2004 ihr zwanzigstes Jahr vollendet.* Diese klassische Biographie von Edmund Hallett Carr liest sich streckenweise wie ein glänzend geschriebener, epischer Thriller, obwohl sich der Autor strickt an die historischen Fakten hält. Im Anhang zu ihrem Buch über Bakunin nennt Madeleine Grawitz weitere Biographien, die über Michail Bakunin erschienen sind. Über drei große, auf Deutsch verfasste Bände von Max Nettlan urteilt sie: "Das Studium von Bakunins Ideen hat bei Nettlan mehr Interesse geweckt als sein Leben. Dabei hat Bakunin doch gerade durch seine Persönlichkeit Einfluß ausgeübt und seine Epoche geprägt." Ich gestehe, dass mich bei der Biographie von Madeleine Grawitz Bakunins Leben über alle Maßen faszinierte. Die Biographie Bakunin. Ein Leben für die Freiheit ist wie Romantiker der Revolution eine Zeitgeschichte ebenfalls des 19. Jahrhunderts. Die Biographie handelt vom Prager Kongress (1848), von der gescheiterten Revolution in Dresden (1849), von der ersten Bruderschaft (1864), der Genfer Internationale (1867-1868), der Allianz der Sozialistischen Demokratie (1868), dem Deutsch-Französischen Krieg und der Lyoner Internationale (1870), der Londoner Konferenz (1871), dem Haager Kongress, dem Ende der Internationale (1872)... Madeleine Grawitz, eine Psychologin und erfahrene Historikerin, beschreibt, wie ein romantischer russischer Aristokrat, der im kultivierten Milieu des "Paradieses von Prjamuchino" erzogen wurde, zum Begründer des Anarchismus heranwächst. (Am 18. Mai) 1814 in Prjamuchino, in der Provinz Twer geboren, wird Michail Bakunin abgöttisch seine vier Schwestern (Ljubow, Alexandra, Tatjana und Warwara) lieben; das Verhältnis zu seinen fünf Brüdern gestaltet sich distanzierter. Mit vierzehn Jahren geht Michail auf Wunsch des Vaters zur Artillerieschule in St. Petersburg, wird mit zwanzig Jahren (trotz schlechter Noten) zum Leutnant ernannt, und quittiert ein Jahr später zum Kummer seines Vaters den Dienst. Michail Bakunin strebt nach Freiheit und Unabhängigkeit. Deshalb reist er nach Moskau, wo er die Universität besucht und für sich Kant, Schelling und vor allem Hegel entdeckt. Teils aus privatem Interesse, teils aus revolutionärem Eifer lernt er viel von der Welt kennen: St. Petersburg, Deutschland (Berlin, Dresden, Frankfurt am Main, Köln, Anhalt-Kotha, Leipzig, Chemnitz), die Schweiz (Genf, Zürich, Jura, Bern), Brüssel, Paris, Breslau, Prag, Sibirien (Verbannung in Tomsk und Irkutsk), London, Stockholm, Italien (Bologna, Luganow)... Bakunin beschließt 1842, nicht mehr nach Russland zurückzukehren. Fünf Jahre später wird er auf Ersuchen der russischen Regierung aus Frankreich ausgewiesen und kehrt nach Brüssel zurück. 1848 reist er nach Paris, Frankfurt am Main, Köln, Berlin, Breslau, Prag. Als er wieder in Berlin ist, erscheint am 6. Juli 1848 in der von Karl Marx geleiteten "Neuen Rheinischen Zeitung" ein Artikel, laut dem George Sand Beweise besäße, dass Bakunin ein russischer Spion, ein "Agent Russlands", sei. Etwa einen Monat später musste Marx eine Gegendarstellung drucken, rechtfertigte die falschen Behauptungen allerdings mit der "Pflicht der Presse, öffentliche Charakteure streng zu überwachen". Ob es sich bei der Falschmeldung um eine politische Intrige oder nur um Fahrlässigkeit gehandelt hat, ist nicht nachzuweisen. Jedenfalls wurde Bakunin aus Berlin ausgewiesen, dann aus Breslau, dann aus Dresden; in Anhalt-Köthen schließlich durfte er bleiben. (Das kleine Fürstentum war ein unabhängiger Staat und hatte eine der liberalsten Verfassungen Europas.) Kaum einer interessierte sich hier für Politik, und Bakunin begnügt sich damit, auf die Jagd zu gehen. Sein ganzes Leben ist Bakunin auf Reisen - von einem Kongress zum nächsten Aufstand. Woher nimmt er das Reisegeld? Immer in Erwartung seines Erbes (auf das er sein Leben lang vergeblich wartet), ist er absolut skrupellos darin, sich überall und von jedem Geld zu borgen, auch wenn er weiß, dass er es nicht zurückzahlen kann. Sich mit Arbeit sein Geld zu verdienen, "bleibt eine in seinen Augen ungewöhnlich erscheinende Möglichkeit..." (Grawitz) Allerdings gab er das Geld nicht für sich persönlich aus. Als er in Paris zu Heinrich Börnsteins Bruder zieht, dem Herausgeber des Wochenblattes "Vorwärts", war der über den Umzug seines Gastes verblüfft: eine Truhe, ein zusammenklappbares Feldbett und ein Zinnbecher. "Er war der bedürfnisloseste aller Menschen." Bakunins Intuition war außergewöhnlich, zum einen wenn es darum ging, die ersten revolutionären Anzeichen zu erkennen oder zum anderen die Leute ausfindig zu machen, die ihm möglicherweise Geld leihen würden. "Wenn seine politischen Freunde ihn oft enttäuscht haben, so haben die Frauen Bakunin - trotz oder wegen seiner Unverfrorenheit - materiell stets geholfen. Bakunin - dem der russische Senat 1843
sowohl seines Dienstgrades
enthoben hat, als auch seines Adelstitels und seiner Privilegien ist mit vielen
Großen seiner Zeit bekannt oder befreundet: mit Herwegh (Auf die
Angriffe gegen Herwegh sagte er die wahrhaft bakuninschen Worte: `Man
beurteilt seine Freunde nicht, man liebt
sie."), Turgenjew,
Ogarjow, Herzen, Belinskij, Marx, Weitling, George Sand... (Erstmals erfahre ich,
dass Turgenjew
die berühmte Sängerin Pauline Viardot nicht
nur verehrte, sondern auch ihr Geliebter war. Übrigens hatte sich
Bakunins Lieblingsschwester Tatjana 1841 unsterblich - aber folgenlos
- in Turgenjew verliebt.) Einige Orte lernt der redegewandte Bakunin
durchaus unfreiwillig kennen: In Chemnitz (nach seiner Beteiligung am
Aufstand in Dresden 1849) wird er festgenommen und in die Festung
Königstein gebracht. Zum Tode verurteilt, wird die Strafe in
lebenslängliche Haft umgewandelt; Bakunin wird an Österreich
ausgeliefert, in Prag inhaftiert und in die Festung Ölmütz verlegt.
Am 17. Mai 1851 wird er an Russland ausgeliefert, gelangt in die Peter-Pauls-Festung von
St. Petersburg, später nach Schlüsselburg. Das
Gnadengesuch seiner Mutter wird abgelehnt, aber seine Haftstrafe in
Verbannung nach Sibirien
umgewandelt. Noch in der Verbannung - er gibt
in Tomsk Französischunterricht - heiratet Bakunin, dieser "gutmütige
Riese mit dem treuherzigen Blick", 1858 seine siebzehn Jahre alte
polnische Schülerin Antonia Xarerjewna Kwiatkowska. 1859 erhält Bakunin
die Erlaubnis, nach Irkutsk zu ziehen und im Auftrag von Kaufleuten
Reisen zu unternehmen. Durch eine abenteuerliche Flucht über
Japan und die USA gelingt es ihm, nach London zu gelangen, wo er Herzen und Ogarjow wieder
begegnet. 1863 trifft seine Frau Antonia in London ein.
Nach einem Aufenthalt in der Schweiz lässt sich das Ehepaar in Florenz
nieder. (In ihrem Erinnerungsbuch schreibt Anna Grigorjewna
Dostojewskaja über Ogarjow: "Von den früheren
[Bekanntschaften] begegnete er [Fjodor
Dostojewski] in Genf lediglich N. P. Ogarjow, dem berühmten Dichter und
Freund Herzens, bei dem sie sich seinerzeit auch kennengelernt hatten.
Ogarjow kam öfter einmal zu uns, brachte Bücher sowie Zeitungen und lieh
uns sogar manchmal zehn Francs, die wir ihm so bald wie möglich
zurückgaben. Fjodor Michailowitsch schätzte viele Gedichte dieses
offenherzigen Poeten, und wir freuten uns immer beide über seinen
Besuch.")
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Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de * Hans Magnus Enzensberger hat seine Herausgeberschaft 2004 gekündigt. Ab Oktober 2007 wird der Eichborn Verlag die renommierte "Andere Bibliothek" mit Michael Naumann und Klaus Harpprecht als Herausgeber fortsetzen. | |
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Am 03.02.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 19.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Mach dich nicht über eine fremde Schwester lustig, wenn deine eigene noch Jungfrau ist. | |
Sprichwort der Russen |
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