Deutsch von div. Übersetzern
Nora Verlagsgemeinschaft Dyck & Westerheide, Berlin 2005, 172 S.
Diese armenischen Erzählungen waren einst für den
DDR-Verlag Volk
und Welt ausgewählt und übersetzt worden. Allein in diesem Verlag
waren zu DDR-Zeiten zehn Einzelausgaben armenischer Autoren
erschienen. Die Anthologie Sehnsucht ohne Ende sollte als
elftes Buch herauskommen. "Die aus der Wende erwachsenden
Zukunftsunsicherheiten", schreibt die Herausgeberin, "bestimmten
den Verlag allerdings im Frühjahr 1990, von diesem fast fertig
gestellten Projekt im Umfang von 400 Druckseiten Abstand zu nehmen."
Eineinhalb Jahrzehnte lang war Adelheid Latchinian daraufhin bemüht,
einen BRD-Verlag für die Anthologie zu finden. Sie fand keinen!
Woraufhin sie sich [auf eigene Kosten]
entschloss, "einen Teil der vor 15 bis 20 Jahren von erfahrenen
Übersetzerinnen und Übersetzern geleisteten Arbeit heutigen Lesern
zugänglich zu machen".
Im Selbstverlag. Ein Makel? Kein Makel! Viele Schriftsteller
sind heute, da sich auch ein Buch rechnen muss, gezwungen, in einem
Verlag zu veröffentlichen, bei dem sie die Herstellungskosten selbst
übernehmen müssen. Vor allem betrifft das DDR-Autoren, die ihre alten
Verlagsverbindungen in der Wendezeit verloren haben und in
BRD-Verlagen nicht Fuß fassen konnten. Helmut H. Schulz, ein zu
DDR-Zeiten recht bekannter Autor (zwanzig Bücher stammen aus seiner
Feder) nennt das eine "Art verdeckter Zensur"...
War in der DDR der Boden für eine armenische Anthologie bestellt
gewesen (neben den zehn genannten Einzelbänden waren allein von
dem Armenier Hrant Matewosjan in der Zeit von 1969 bis 1989
kontinuierlich Texte in fünf Sammelbänden erschienen), so ist die
armenische Literatur für die Alt-BRD ein unbearbeitetes Feld - weshalb
die armenischen Erzählungen in Sehnsucht ohne Ende nicht bei
allen deutschen Lesern auf gleiches Interesse stoßen dürften...Die zehn Erzählungen (von ehemals zwanzig), wurden innerhalb
eines halben Jahrhunderts in der Zeit von 1928 bis 1978 geschrieben. Zehn
Erzählungen aus fünfzig Jahren armenischer Literatur - das ist wenig.
Das ist, wie Adelheid Latchinian zugibt, "ein Tropfen im Ozean".
Dennoch: Mit Sachkenntnis ausgewählt, geben sie uns einen guten
Eindruck vom "armenischen Erzählschaffen" aus fünfzig
Jahren. Warum ist im Nachwort die Rede vom "vermittelten
Jahrhundertweg der armenischen Erzählung"? Von den ausgewählten
Autoren leben nur noch zwei, Howsepjan und Wahakn, der eine
neunundsechzig, der andere einundachtzig Jahre alt. Warum ist "der
Wunsch, jüngere Erzähler und Erzählerinnen vorzustellen", offen
geblieben? Aus Kostengründen? Die Herausgeberin hätte dennoch darauf
nicht verzichten sollen, zumal ja kein Nachfolgeband geplant ist.
"Gäbe es doch in der BRD", wünscht sich
Leonhard Kossuth - zu DDR-Zeiten
als Cheflektor im Verlag Volk und Welt verantwortlich für die Herausgabe von Literatur aus der
multinationalen Sowjetunion
- verlegerische Möglichkeiten für so systematische Aufmerksamkeit
gegenüber der armenischen Literatur wie einst in der DDR."
Die zehn von Adelheid Latchinian vorgestellten Autoren sind.
Awetik Issahakjan (1875 - 1957), ein Klassiker der
armenischen Literatur, ist der Älteste unter den Autoren; er
verbrachte nach antizaristischer Tätigkeit ab 1911 mehr als ein
Viertel Jahrhundert im Exil - in Deutschland, in der Schweiz, in
Frankreich. Seine Erzählung "Die Geduldspfeife" (aus dem Russischen
von Ganna-Maria Braungardt), fern der Heimat 1928 geschrieben, handelt
von dem alten Müller Ohan-emmi, der ein Einsiedler wurde. Die Rebellion gegen soziales Unrecht hatte ihn ins
Gefängnis gebracht. "Seine Maximen", schreibt Adelheid Latchinian in
ihrem Nachwort, "werden Geduld, Gelassenheit, Heiterkeit und
Illusionslosigkeit, aber auch tätige Güte gegenüber denen, die ihrer
bedürfen". Diese Erzählung über Ohan-emmi und seinem riesigen
Wolfshund Aslan habe ich zweimal gelesen, um die ganze Schönheit der
Worte auszukosten.
Derenik Demirtschjan (1877 - 1956) war ein Meister des
historischen Romans, was sich auch in der Erzählung "Buch der Blumen"
(aus dem Russischen von Heinz Kübart), zeigt, in der er "etwa tausend
Jahre armenischer Geschichte gleichnishaft verdichtet". Das Motto
der lebensweisen Erzählung, geschrieben 1938: Des Schreibers
Hand dereinst zerfällt zu Staub. / Das Buch jedoch - Jahrhunderte lebt
es fort.
Axel Bakuns (1899 - 1937, Bakuns starb infolge des
Stalinschen Terrors mit achtunddreißig Jahren) lässt uns in seiner
Erzählung "Lar-Makar" (aus dem Russischen von Brigitta
Schröder), geschrieben 1927, die Einheit
des Menschen mit der Natur miterleben: "Das größte Vergnügen im Leben
war für ihn, die Gärten und Felder des Dorfes zu bewässern. Wenn Lar-Markar barfuß, mit sonnenverbrannten Beinen an den Gräben
entlangging, um Unkraut und Steine herauszuschaufeln, damit das Wasser
schneller und besser fließen konnte, hatte er das Gefühl, daß die von
der Sonne versengten Felder und die dürstenden Bäume im Garten
schweigend auf ihn warteten", auf ihn, der wegen grausamer Massaker
sein Heimatdorf verlassen musste. (Massaker? Sind die
Auseinandersetzungen Ende des 19.
Jahrhunderts zwischen armenischen Nationalisten und Aserbaidshanern
gemeint?)
Gurgen Mahari (1903 - 1969) hatte, im westarmenischen Wan
geboren, als Kind die Schrecknisse des Genozids miterlebt; nach einem
Geschichtsstudium in Jerewan war er 1937 in die Mühlen des Terrors
geraten und für siebzehn Jahre in
sibirische
Arbeitslager verbannt
"aus all meinen Aufgaben herausgerissen". In seiner Erzählung "Nacht"
(aus dem Russischen von Lieselotte Remané), geschrieben 1964, erzählt
der Autor von beängstigenden Halluzinationen im
Lager-Krankenhaus und von seinem Überleben dank beherzter Solidarität
von Mithäftlingen.
Rafael Aramjan (1921 - 1978) war im
zweiten Weltkrieg
Soldat der Roten Armee. In seiner Erzählung "Die Hardenbergstraße"
(aus dem Russischen von Brigitta Schröder) hat ein
armenischer Soldat den sehnlichen Wunsch, sich nach dem Sieg in dieser
Berliner Straße mit armenischen Kameraden zu treffen. Zur
Erklärung heißt es in einer Fußnote: "Im Jahr 1921 hat in der Berliner
Hardenbergstraße der armenische Student Soghomon Tehlirjan einen der
Initiatoren und Organisatoren des Völkermordes an den Armeniern im
Osmanischen Reich, den ehemaligen Innenminister Talaat Pascha,
erschossen. (...)". Um diesen Tatbestand und um den Völkermord an den Armeniern geht es
auch in dem bewegenden Buch
"Operation Nemesis" von Rolf Hosfeld.
Hrant Matewosjan (1935 - 2002) erzählt in seiner Geschichte
"Der Fremdling" (aus dem Russischen von Charlotte Kossuth),
geschrieben 1978, wie Halbwüchsige in seinem Heimatdorf zur
Wehrertüchtigung herangezogen werden. Ein Junge, Fremdling geheißen,
wird von seiner Klasse ausgegrenzt, niemand will den schwächlichen
Jungen beim Wettkampf um körperliche Ertüchtigung dabei haben. Der
Ich-Erzähler nimmt den Fremdling in seine Gruppe auf, lässt ihn aber
dann zurück, als dieser der Anstrengung des Laufes nicht gewachsen
ist. Obwohl seitdem fünfundzwanzig Jahre vergangen sind, nennt der
Autor dieses Ereignis "die Geschichte seines kranken Gewissens. (...)
nie gerät in Vergessenheit, nie verblaßt in dir, was du in deiner
Kindheit erlebt hast, was du selbst getan hast." - "Als einer der
produktivsten zeitgenössischen armenischen Schriftsteller wurde er bei
uns wohl auch der bekannteste, schreibt Adelheid Latchinian. "Bei
uns"? Wo? In der DDR? Ist das (schon damals geschriebne) Nachwort an dieser Stelle nicht
aktualisiert worden?
Ruben Howsepjan (geb. 1939) lässt seinen kranken Helden
in der Geschichte "Noah" (aus dem Russischen von Helga Gutsche) mit
seinem Arzt reden. Das Gespräch reicht "von der biblischen Sintflut
und der einst auf dem Ararat gelandeten Arche Noahs bis zu den
heutigen Sorgen um die Zukunft der Menschheit". Am
Schluss der Erzählung, geschrieben 1977, ruft der Kranke aus: "Gott ist
machtlos. Wir müssen uns was einfallen lassen, Doktor."
"(...) während zur Zeit etwa zwei Millionen Armenier im Mutterland
und über drei Millionen im benachbarten
Russland leben, wohnen
schätzungsweise weitere fünf Millionen verstreut über die Welt,
besonders im Vorderen Orient, in Westeuropa und in den Vereinigten
Staaten". Deshalb, schreibt Adelheid Latchinian in ihrem Nachwort,
habe sie es für angebracht gehalten, auch drei
[armenische] Autoren aus dem
Libanon bzw. aus den USA auszuwählen. "Wenn auch die von ihnen
beschriebenen Handlungsorte zum Teil tausende Kilometer entfernt von
der armenischen Heimat liegen und das von ihnen benutzte Armenisch
gewisse lexikalische, grammatische und orthographische Differenzen zum
Ostarmenischen aufweist, ja einer von ihnen, nämlich der in
Kalifornien geborene Saroyan gar dem Amerikanischen den Vorzug gegeben
hat - ungeachtet all dessen betrachten die Armenier die westarmenische
Literatur als einen unverzichtbaren Bestandteil ihrer
Nationalliteratur. Denn auch in jener äußern sich unverkennbar
Armenier, wenn auch zwangsläufig aus anderen Blickwinkeln."
William Saroyan (1908 - 1981), Sohn eines eingewanderten
armenischen presbyterianischen Geistlichen, erzählt in seiner
Geschichte "Siebzigtausend Assyrer" (aus dem Amerikanischen von Helmut
Bode), geschrieben 1934, von einer nachdenkenswerten Begegnung in
einem Friseursalon in San Francisco im Jahre 1933. "Wir sind ein
kleines Volk, und wann auch immer einer von uns einen anderen trifft,
ist´s ein Ereignis." Die Nase des Friseurs und die Augen scheinen dem
Ich-Erzähler armenisch zu sein. Deshalb fragt er ihn, ob er Armenier
sei? Doch der Friseur ist Assyrer, siebzigtausend gibt es von ihnen
noch. "'Wir waren einst ein großes Volk (...). Aber das war gestern,
vorgestern. Jetzt sind wir ein Lehrgegenstand der Alten Geschichte."
Saroyan fragt sich, warum er keine schönen Liebesgeschichten schreibt,
die man verfilmen kann, warum er nicht versucht, dem amerikanischen
Publikum zu gefallen - wenn er statt dessen über "unwichtige und
lästige Dinge" schreibt wie das Schicksal der Armenier und Assyrer...
Armen Tarjan (1922 - 1990), in Aleppo (Syrien) geboren,
besuchte er dort die armenische und französische Schule, studierte am
armenischen Seminar bei Venedig und nahm danach
seinen Wohnsitz in Beirut (Libanon). In seiner Erzählung "Das erste
Abc" (aus dem Armenischen von Adelheid und Sarkis Latchinian),
geschrieben 1963, geht es um den Pogrom der Türken gegen die
armenische Bevölkerung von Izmir 1922. Das Mädchen Lusik
verliert Mutter, Vater und Bruder während des Feuers in der Stadt, es
gelangt als Waise in ein griechisches Waisenhaus. Von einer nach
vierzig Jahren gefundenen Tante erhält sie ein vergilbtes Stück
Papier, darauf einige kaum leserliche Buchstaben: ihr erstes Abc, von
der Mutter aufbewahrt - Gegenstand einer Sehnsucht ohne Ende.
Sarkis Wahakn (geb. 1927) aus Beirut beschreibt in
seiner Erzählung "Ein Gesang von Kampf und Farbe" (aus dem Armenischen
von Adelheid und Sarkis Latchinian), geschrieben 1969, den Kampf eines
Malers, die Kindheit, die Jugend, die Eltern, das Massaker, die Sehnsucht nach
der Heimaterde... auf die Leinwand zu bannen. Er reist nach
Paris, London, Rom. Aber erst in der Heimat erschließt sich ihm das
Rot als die Farbe des Blutes der siegreichen Vorfahren, das Blau als
die Farbe des unsterblichen Traums, das Gold als die der Ähren, das
Grün als die des Grases auf den Gräbern der Helden und das Rosa als
die der verschämten Wangen der Bräute...
Alle Erzählungen haben traurige Begebenheiten zum Inhalt, nur die
letzte Geschichte bietet einen hoffnungsvollen Ausblick.
Adelheid Latchinian ist mit einem in Beirut geborenen Armenier
verheiratet, mit Sarkis Latchinian, der an der Leipziger Universität
zum Professor berufen wurde. Er gab seiner Frau "erste
erschütternde Kunde vom Völkermord im Osmanischen Reich als Teil
seiner Familiengeschichte". Adelheid Latchinian arbeitete an derselben
Universität als Dozentin für russische Literaturgeschichte. "Auch nach
Rückschlägen ermutigte er mich", schreibt sie, "diesem infolge der
Wende liegengebliebenen Buch - zumindest in einer knappen Auswahl -
doch noch den Weg zu seinen Lesern zu bahnen" - was bei einem
Selbstverlag ohne Werbung und organisiertem Vertrieb gar nicht so
einfach ist. Leider nehmen sich auch Rezensenten nur selten eines Buches
an, das in einem Selbstverlag erschienen ist. Da freut es, dass
im "Neuen Deutschland" eine Rezension zu Sehnsucht ohne Ende
erschien. Doch bleibt mir unverständlich, wie ausgerechnet in dieser
Zeitung ein Autor schreiben kann: "Armenien! Wer kennt schon das
kleine transkaukasische Land am Rande Europas, über das zu DDR-Zeiten
allenfalls `Sender Jerewan-Witze´ kursierten." Den DDR-Bürgern
war Armenien durchaus ein Begriff: Sowohl aus der kontinuierlich
erscheinenden armenischen
Literatur als auch aus der vorrangig über die Sowjetunion berichtenden
Illustrierten FREIE WELT - um nur zwei Medien zu nennen. Außerdem
reisten viele DDR-Bürger in ihrem Urlaub in die Sowjetrepubliken, besonders
gern in die kaukasischen - nach
Armenien,
Georgien,
Aserbaidshan. Wenn
Alt-Bundesbürger "von den weißen Flecken auf Sowjetkarten" schreiben, wie z. B.
Ingo Petz in
"Kuckucksuhren in Baku", verstehe ich das ja noch, aber wenn
eine Zeitung wie das "Neue Deutschland" so etwas druckt, verschlägt es
mir (als ehemalige DDR-Bürgerin) dann doch die Sprache...
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