Belletristik REZENSIONEN | |||||||
Von der Grauzone des Erwachsenwerdens | |||||||
Irina Denežkina | Russin | ||||||
Komm | |||||||
Erzählungen Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja und Franziska Seppeler S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2003, 255 S. | |||||||
In Russland gibt es mittlerweile 731 Literaturpreise, darunter
anerkannte, prestigereiche und hoch dotierte - vom Staatspreis über den
begehrten Bookerpreis bis zum Debütpreis. Schon gleich nach Erscheinen
2003 waren die Erzählungen der Denežkina
ein großer Erfolg und wurden für den russischen nationalen
Bestsellerpreis nominiert, erhalten hat ihn dann allerdings der "rechte"
Schriftsteller Alexander Prochanow für seinen politischen Roman "Herr
Sexogen". Da war die Autorin des Buches Komm, das zeitgleich
weltweit in zwölf Sprachen in den renommiertesten Verlagen erschien, gerade mal
zwanzig Jahre alt.
Sie hatte ihre Geschichten zunächst für sich und ihre Freunde
geschrieben. Dann stellte sie ihre Erzählungen ins Internet, und es
meldeten sich auf Anhieb drei Verlage. "Meine Mutter arbeitet als
juristische Beraterin in einem Verlag, und sie hat sich die drei
Offerten angesehen und die beste für mich ausgesucht."
In zehn Geschichten voller Witz, Tempo, Musikalität und individueller Charaktere schreibt Irina Denežkina über die verworrenen Gefühle der Dreizehn- bis Zwanzigjährigen - über die Grauzone des Erwachsenwerdens. Der fließende Übergang vom Kindsein zum Erwachsenen ist Dreh- und Angelpunkt aller Erzählungen, die im lockeren Jugend-Jargon geschrieben sind, den viele ältere Leser kaum noch verstehen dürften. (Große Anerkennung für die Übersetzerinnen!) "Popliteratur"? Die Autorin kann mit diesem Begriff nichts anfangen. In Russland, so sagt sie, gebe es keine derartige Kategorie: "Vielleicht repräsentiere ich Popliteratur, ohne es zu wissen. Oder ich bin deren Beginn." Pubertäts-Prosa? Vielleicht auf den ersten Blick. Aber wirklich nur auf den ersten, denn die Denežkina, die sich, wie sie selbst sagt, für Politik nicht interessiert ("Ich habe kaum bemerkt, dass wir in einer Zeit der großen Veränderungen lebten. Ich war ein Kind, dann wurde ich älter, ging zur Schule und hatte meinen ersten Freund. Alles war normal."), hat beeindruckend direkte Geschichten geschrieben, alles andere als naiv und harmlos. Zum Beispiel die Geschichte vom autistischen, stillen Denja, der im Krieg in Tschetschenien war. Seitdem findet er sich nicht mehr zurecht. Sein Kopf mit tiefer Narbe steckt voller Gewaltphantasien: "Ich will in den Krieg. Damit ich dort umkomme. Aber richtig." In der Titelerzählung "Komm" wird einer von zwanzig Jugendlichen zusammengeschlagen. Ein Typ in weiten Hosen schlägt ihn mit einer Kette, "Auf dem Asphalt bildete sich eine dunkle Pfütze Blut." Und ausgerechnet in diesen Rapper-Typ verguckt sich die Heldin der Erzählung: "(...) langes, dunkles Haar, braune Augen, ein kolossales Selbstbewußtsein und die Figur eines Fotomodels". Mit ihrer Freundin, der Wolkowa, zieht sie von Party zu Party, auf denen schnell wechselnde oder parallele Liebesbeziehungen die Regel sind. Außerdem: viel Alkohol, viele Küsse, viel Musik. Wir lesen von BANDerlot, einer Punkgruppe aus dem Freundeskreis der Autorin, von den russischen Hip-Hop-Bands "Delfin" und "Dezel", von dem Sänger der moldawischen Hardrock-Band, von der russischen Sängerin Zemfira Ramazanowa und ihrer 1998 gegründeten Band "Zemfira". Wie ein Leitmotiv ziehen sich als Selbstverständlichkeit Gewalt durch das Buch und der Satz : "Lass uns eine Band gründen." Alle Texte in Komm erzählen von typisch neurussischen "Beziehungskisten" im jungen Russland der Gegenwart, wie sie die Autorin zum Teil selbst erlebt hat: "Ich schreibe ja hauptsächlich über mich, und in meinem Leben hat es sich nun mal ergeben, dass ich immer an irgendwelche Missgeburten geraten bin." So manche russischen Eltern werden nicht glauben wollen, was sie in der Erzählung "Walerotschka" zu lesen bekommen - von Dreizehnjährigen in einem postsowjetischen Ferienlager. Da wird gesoffen und gebumst wie in einem Bordell, und Lidija, die Ferienlager-Verantwortliche, hält sich raus, aus Angst, verprügelt zu werden; als "räudige Hündin" hat man sie schon beschimpft. Aber die hübsche Autorin mit dem halblangen Haar und dem prallen Jeans-Popo beschreibt dies und anderes mit so scharfem Blick, dass man sicher sein kann, sie weiß sehr genau, wovon sie schreibt. Irina Denežkina - man nennt sie gern die "Francoise Sagan aus Jekaterinburg" - wurde 1981 im Ural geboren und studierte an der Jekaterinburger Universität Journalistik; gegenwärtig schreibt sie für die Studentenzeitung "Studio"; sie lebt in St. Petersburg. Über sich und ihr Buch sagt sie (in: "Rußland, 21 neue Erzähler, Deutscher Taschenbuch Verlag 2003"): "Ich komme immer wieder auf diesen Satz, den irgendein Regisseur gesagt hat: `Ich wollte einen guten Film sehen. Also mußte ich ihn machen.´ Das klingt ziemlich großkotzig. Aber, Mann, ich lese nun mal gern Geschichten über Teenager. Und bisher ist mir noch nichts untergekommen, was richtig supergut wäre..." Irinas Buch ist richtig gut. Supergut? Jedenfalls: Irina Denežkina (besser wäre die Schreibweise Deneshkina) ist ein Jungstar, den ich zur Frankfurter Buchmesse 2003 kichernd mit ihrer Übersetzerin sah, Augen rollend bei Interviews, zickig bei Fototerminen. Aber es ist ja auch nicht ganz einfach, mit zarten einundzwanzig Jahren immer cool zu bleiben, wenn man in der Heimat in den Bestsellerlisten ganz oben steht und im Ausland geradezu hofiert wird und außerdem: "Ohne den Anschein, stark und machtvoll zu sein, gelten Teenager als Verlierer." Die Originalausgabe erschien unter dem Titel "Daj Mne!" - "Gib´s mir!" Wäre dieser Titel nicht auch auf Deutsch passend gewesen? Bei dem deutschen Titel Komm werden viele Frauen der älteren Generation wohl unwillkürlich an "Frau, komm" erinnert und denken an die Vergewaltigungen durch Russen in den Wirren nach dem zweiten Weltkrieg. Das aber wird doch vom Verlag nicht beabsichtigt gewesen sein... Irina Denežkina war die erste, die sich der ganz jungen Russen literarisch annahm, hautnah und zeitnah die "next generation" zur Buchheldin machte. In Kürze bringt der russische Verlag, bei dem Komm mit so großem Erfolg erschien, eine Anthologie heraus, die "Denežkina & Co" heißt - darin sind alle Autoren erst zwischen einundzwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt. | |||||||
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
| |||||||
Weitere Rezensionen zum Thema "Tschetschenien": |
|||||||
|
Zum Vergrößern klicken. |
Russische Püppchen: aus Stroh, Pawlowsk, 1988. |
[ | zurück | | | | | nach oben | ] |