Sachbuch REZENSIONEN

Ein Erzfeind der Sowjetunion?

Über den Russen Alexander Solschenizyn
Geheime Dokumente des Politbüros der KPdSU und des KGB
Aus dem Russischen von Barbara und Lothar Lenhardt
edition q, Berlin 1994, 467 S.

(Rezensiert, entsprechend dem Gästebuch-Eintrag von Petra Peck und Hans Fischer.)

Der österreichische Schriftsteller Fred Wander ("Der siebte Brunnen") - für einige Jahre in die DDR übergesiedelt - lieh mir ein in der DDR "verbotenes" Buch: Solschenizyns "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch". Diese Erzählung über das grauenvolle Lagerleben in der Sowjetunion unter Stalin hat mich damals - es muss 1963 gewesen sein - zutiefst berührt. Doch dann, als ich seit 1964 als Journalistin der Illustrierten FREIE WELT regelmäßig die Sowjetunion bereiste und niemandem begegnete, der aus politischen Gründen eingesperrt war, gerieten Werk und Autor fast in Vergessenheit... 1988 dann erhielt ich als Geburtstagsgeschenk das in der DDR "verbotene" Buch "Archipel Gulag" von Alexander Solschenizyn, das mich fassungslos machte... Doch auch danach, in der Blüte von Perestroika und Glasnost offenbarte sich mir keiner meiner sowjetischen Bekannten. Erst Jahre später begriff ich die Angst, die die meisten Sowjetbürger - auch die zu Freunden gewordenen - ihr Leben lang peinigte.

Nun liegen vor mir Observierungs- und Verhörberichte des KGB, Sitzungsprotokolle des KPdSU-Politbüros, diplomatische Interventionen, Maßnahmen, Kampagnen, Überlegungen - 139 erstmals veröffentlichte Dokumente aus der Akte des russischen Schriftsteller Alexander Issajewitsch Solschenizyn; Boris Jelzin hat die Akte 1992 freigegeben.

,Achtundzwanzig Dokumente machen den ersten Teil aus: "Vom Publikationsverbot bis zum Ausschluss aus dem Sowjetischen Schriftstellerverband 1965 - 1969". Für mich war dieser Teil besonders interessant,  werden doch viele namhafte  sowjetische Autoren mit ihrer  Einstellung zu Solschenizyn zitiert  - manchmal wie es bösartiger nicht geht.  Bei einigen Autoren, z. B. bei Konstantin Simonow, spürt man, wie sie sich winden: Einerseits anerkennen sie Solschenizyns Talent, andererseits verurteilen sie ihn pflichtschuldigst. Interessant auch Solschenizyns Dankbarkeit gegenüber Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, dem er die russische Veröffentlichung seiner inzwischen längst weltberühmten Erzählung "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" zu verdanken hat. Chruschtschow glaubte, in Solschenizyn einen Mitstreiter im Kampf gegen den Personenkult gefunden zu haben. Er hatte die Veröffentlichung, angeregt von Wladimir Tendrjakow, dem Chefredakteur von "Nowy mir" (Neue Welt), gegen einige Politbüro-Mitglieder durchgesetzt. Solschenizyn nennt ihn dann auch den "mir so teuren Nikita Sergejewitsch Chruschtschow". Nach Chruschtschows Sturz wird während der Sowjetära nichts mehr von Solschenizyn veröffentlicht, statt dessen erfahren die Entscheidungsträger aus KGB-Akten seiner Werke Inhalt. Aus Akten, in denen Solschenizyn als "Erzfeind der Sowjetunion" beschimpft wird, als "Verräter", als "Renegat", als "bärtiger Prophet", als "übergeschnappter Schriftsteller", als "Geschichtsfälscher"... Man muss nicht allem beipflichten, was Solschenizyn sagt und schreibt, aber man kann nicht umhin, seinen Mut, seine Courage zu bewundern. So lässt er in seinen Werken kein gutes Haar an Lenin, an der Oktoberrevolution, an den Bolschewiken, an Stalin, an den derzeitigen Machthabern... Und wie außerordentlich mutig sein Brief an den IV. Schriftstellerkongreß der UdSSR im Mai 1967, in dem er die Abschaffung der Zensur - "dieses Relikt aus dem Mittelalter" - fordert. Den sowjetischen Schriftstellerverband wird Solschenizyn später als "angepaßtes Pack im Literaturtempel" bezeichnen, "dem nur die Peitsche geziemt". Es dauert dann noch zwei Jahre bis Solschenizyn tatsächlich aus dem Verband ausgeschlossen wird. Nur Twardowski ("Wassili Tjorkin") nannte diesen Beschluss "unzulässig und falsch", Okudshawa und Jewtuschenko (der Solschenizyn später als den "einzigen russischen Klassiker" bezeichnete) forderten, dass die "Frage Solschenizyn" auf dem Plenum des Schriftstellerverbandes behandelt werden sollte. Und der hochgeschätzte Daniil Granin, Sekretär des Vorstandes der RSFSR? Erst enthielt er sich der Stimme, revidierte dann aber seine Auffassung. Wir erinnern uns an seine Lebensbeichte "Das Jahrhundert der Angst". Geradezu schäbig verhielten sich Konstantin Fedin ("Frühe Freuden") und Nikolai Tichonow ("Wie Diamanten fallen die Sterne").

Der zweite Teil der Akte hat die Jahre 1970/71 im Blick - die "Aktionen gegen den Nobelpreisträger für Literatur". Solschenizyn war 1970 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden, den er in Moskau entgegennahm, weil er sich nicht getraute, nach Schweden zu reisen aus Angst, für die Sowjetunion kein Rück-Einreise-Visum zu bekommen. In meiner Rezension zu Jewtuschenkos Autobiographie "Wolfspass" schreibe ich, dass ich manche geschilderte Episode  lieber in einer Biographie über Jewtuschenko statt in einer Autobiographie von Jewtuschenko gelesen hätte, weil einiges, wenn man es über sich selbst schreibt, da kann man sich drehen und wenden wie man will, doch irgendwie nach Eigenlob klingt. Oft habe ich seitdem in Werken anderer Autoren Jewtuschenkos mutige Haltung bestätigt gefunden, so auch in dieser Akte, in der Jewtuschenko in einer Notiz der Staatssicherheit so zitiert wird: "Es gibt einen einzigen Ausweg, zu dem sich aber niemand entschließen kann: Solschenizyn anzuerkennen, wieder in den Schiftstellerverband aufzunehmen und zu erklären, daß `Krebsstation´ gedruckt wird." Bemerkenswert auch ein Brief des Cellisten Mstislaw Rostropowitsch an das ZK der KPdSU vom Oktober 1970: "Man erkläre mir bitte, warum gerade in unserer Literatur und Kunst so häufig Leute das Sagen haben, die davon absolut nichts verstehen." In einer Information der Staatssicherheit vom 25. Juni 1971 werden Rostropowitsch, Lydia Tschukowskaja, Twardowski, Kopelew, Medwedjew... zu Solschenizyns engem Personenkreis gezählt.

Die Dokumente des dritten Teils "Verschärfte Observation und Vorbereitung der Ausbürgerung" betreffen die Jahre 1972/73. Auffällig oft wird in diesem Teil der Name Solschenizyns mit dem Sacharows genannt; die beiden Regimegegner trafen sich zwar des öfteren, agierten aber nicht gemeinsam. Breshnew - leider "gibt es bei uns kein Gesetz, das politisches Geschwätz unter Strafe stellt" -, Suslow, Andropow, Podgorny - um nur einige zu nennen - diskutierten lang und breit und immer wieder ohne Beschluss, was der Sowjetmacht "besser zu Gesicht stünde": Die Verbannung Solschenizyns oder die Aberkennung seiner Staatsbürgerschaft und die Ausweisung aus der Sowjetunion. Bei solchen Diskussionen machte Breshnew sogar den abwegigen Vorschlag, Solschenizyn in ein sozialistisches Land auszuweisen. Ich stelle mir Solschenizyn im DDR-Exil vor! Nach endlosen Debatten - auch die Schriftsteller werden wieder zugeschaltet - entscheidet man sich für Variante 2: die Ausbürgerung.

Der vierte Teil beinhaltet "Die Ausbürgerung" 1974. KGB-Chef Andropow: "Wir haben seinerzeit auch Trotzki ausgebürgert, ohne ihn zu fragen." Breshnew: "Wir haben keine Angst davor gehabt, die Allilujewa ausreisen zu lassen..." Am 7. Februar 1974 fasst das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Beschluss über die Aberkennung der Staatsbürgerschaft und die Ausweisung Solchenizyns aus der UdSSR. Man hatte ein Ausreiseland gefunden: die Bundesrepublik Deutschland; denn "das ungestrafte Verhalten Solschenizyns hat für uns im Land bereits größere negative Folgen, als sie auf internationaler Ebene im Falle der Ausweisung oder Verhaftung Solschenizyns entstehen können." (Andropow) Solschenizyn wird verhaftet und ohne noch einmal nach Hause gehen zu dürfen, in die BRD abgeschoben. Die Familie - seine zweite Frau, die vier Söhne und die Schwiegermutter - darf auf Wunsch zu ihm ausreisen - "ohne staatliche Verwaltungsgebühr". Wie großzügig.

Im fünften Teil ist der "Staatsfeind weiter im Visier", gilt er weiter als "erbitterter Klassenfeind und überzeugter politischer Gegner". Konzentriert wird sein Auftreten im Ausland beobachtet - seit 1977  lebt er mit seiner Familie in Kanada -, werden seine Werke durchweg als "Machwerke" bezeichnet, nimmt man mit Befriedigung zur Kenntnis, dass das Interesse an seiner Person nachlässt. Im März 1977 wird auch seiner Frau Natalja Dmitrijewna, die laut Solschenizyn nicht nur seine Gesinnungsgenossin und zuverlässige Helferin war, sondern ihm auch bestimmte Verhaltensvarianten aufgezeigt und Ratschläge erteilt hat, die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen.

Die Akte schließt mit zwei Dokumenten aus den Jahren 1979 und 1980, in denen es um ein Ausreisevisum für Solschenizyns Tante Irina, seiner einzigen lebenden Verwandten, nach Kanada geht. Die Ausreise der neunzigjährigen Irina Stscherbak, zu der Zeit blind und taub,  wird verweigert. So also war es in der Sowjetunion um die Menschlichkeit bestellt...

Die genau zwanzig Jahre nach Solschenizyns Ausweisung ans Licht gekommene Akte des Nobelpreisträgers zeigt ein hilfloses Politbüro und meist "angepasste" Schriftsteller. Spektakuläre Offenbarungen gibt es zwar nicht, doch es überrascht trotz heutigen Wissens, mit welcher Akribie der Staatssicherheitsdienst jedes Wort erlauschte, jeden Schritt beschattete. Zu vielen Personen - zu Politikern, Schriftstellern, Freunden und Verwandten Solschenizyns - hätte ich mir biographische Angaben gewünscht. Bei manchen Dokumenten nämlich kann man die Brisanz der Äußerungen nur dann richtig einschätzen, wenn man (über den Namen hinaus) weiß, von wem sie stammen. Es wäre auch angebracht gewesen, wenn auf offensichtlich falsche Angaben in den Dokumenten - z. B. ist in einem Aktenvermerk die Rede von sieben Jahren Freiheitsentzug für Solschenizyn, obwohl es sich um acht Jahre handelt oder es steht  geschrieben, dass er 1956 rehabilitiert wurde, obwohl dies erst 1957 geschah -  in Fußnoten hingewiesen würde. Und: Es gibt zahlreiche Druckfehler.

Vieles, was nach dem Lesen der "Akte" unverständlich bleibt, erschließt sich, wenn man die Solschenizyn-Biographie von Donald M. Thomas gelesen hat.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

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Am 24.10.2006 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 05.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Nicht einmal Feuer kann ein Fass reinigen, in dem Teer gewesen ist.
Sprichwort der Russen

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