BelletristikREZENSIONEN | |||||||||||||
Eine Enkelin und ein Berufskollege - über einen deutsch-russischen Architekten in St. Petersburg | |||||||||||||
Erika Voigt / Heinrich Heidebrecht Deutsche;übereinen Deutsch-Russen | td>|||||||||||||
Carl Schmidt - ein Architekt in St. Petersburg 1866-1945 | |||||||||||||
Verlag an der Wertach, Augsburg 2007, 296 S. | |||||||||||||
Sogar für Agathon Fabergé (1876-1951), dem Sohn des weltbekannten Hofjuweliers des russischen Zaren Karl Fabergé ( 1846-1920), hat der Architekt Carl Schmidt (geboren 1866 in einer deutschen Familie in St. Petersburg, gestorben 1945 in Berlin) gebaut: das gewichtige Geschäftshaus der Juweliersfirma Fabergé in der Bolschaja-Morskaja-Straße 24 in St. Petersburg, in Auftrag gegeben noch vom Vater Fabergé. Mit verschiedenfarbigem Granit, rundlichen "Melonensäulen" und Akanthusblattwerk gilt es als das bekannteste Werk des anerkannten Jugendstilarchitekten, das sogar der zeitgenössische Baedeker-Reiseführer als eine der Sehenswürdigkeiten von St. Petersburg empfahl. "Das Geschäftshaus hat die Unbilden der Zeit überstanden", schreibt Carl Schmidts Enkelin Erika Voigt, "und ist zum Symbol der russischen Juwelierkunst avanciert." - "Die gesamte technische Ausführung", informiert Carl Schmidts Berufskollege Heinrich Heidebrecht, "wurde als Musterbeispiel bei den Vorlesungen der [russischen] Akademie [der Künste] genannt." Der Petersburger Carl Schmidt mit doppelter - deutscher und russischer Staatsbürgerschaft - nannte sich in Russland Karl Karlowitsch Schmidt. Schon immer waren in der russischen Bauzunft die Deutschen stark vertreten, allein in St. Petersburg waren im Laufe des 19. Jahrhunderts bis zum Anfang des ersten Weltkrieges mehr als dreihundert Deutsche bzw. deutschstämmige Architekten tätig. Carl Schmidt gilt als einer von zwanzig deutschen Architekten und Baumeistern, die vor dem ersten Weltkrieg das Bild von St. Petersburg prägten. Die vorliegende Biographie bzw. Monographie hat zwei Autoren: Im Teil I erzählt die Enkelin Dr. Erika Voigt vorrangig über das wechselvolle Leben ihres Großvaters in Russland und über seine Flucht nach Deutschland nach einem halben Jahrhundert in russischen Landen. Mit der ausführlichen "Chronologie zum Leben von Carl Schmidt" lassen sich diese Wechselfälle noch einmal sachlich nachlesen. Die schlichte Zeile "Erinnerungen und das Fotoarchiv der Familien Schmidt, von Busch [Deutschland], Johansen [Estland] und Kusnezowa [Russland]" in ihrem Literaturverzeichnis lässt ahnen, welch aufwändige Recherchearbeit mit dieser Biographie - für die Erika Voigt auch schriftliche hinterlassene Erinnerungen des Großvaters, Briefe und zeitgenössische Dokumente auswertete - verbunden war. Erika Voigt (geboren 1935) studierte russische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, promovierte 1974 und war bis 1990 am Institut für Allgemeine Geschichte der Akademie der Wissenschaften zu Berlin tätig; von ihr stammen einige Arbeiten zur Geschichte der Petersburger Deutschen*. Wir haben von 1991 bis 1993 im "Kuratorium zur kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland"** zusammen gearbeitet. Sie als Vizepräsidentin von Leonhard Kossuth, ich als verantwortliche Redakteurin der vom Kuratorium herausgegebenen Zeitschrift HANDSCHLAG***. Damals lernte ich die Historikerin Dr. Erika Voigt als einen sehr sypathisch-engagierten Menschen kennen. So hat sie zum Beispiel Igor Trutanow aus Kasachstan für unser Kuratorium als (erfolgreichen) Autor entdeckt... Und schon damals erwähnte sie des öfteren ihren "'St. Petersburger Großvater". Mehr als eineinhalb Jahrzehnte später hat sie ihm nun mit diesem reich illustrierten Buch ein sehr würdiges Denkmal gesetzt - sowohl was den bedeutsamen Inhalt anbelangt, als auch was das ansprechende Buchäußere betrifft. Und sie hat sich, so gesteht sie mir, mit dieser Großvater-Biographie einen Kindheitstraum erfüllt. Neben dem großen Denkmal für den Großvater ist diese Biographie (der Mutter der Autorin Olga von Busch gewidmet, die "das Andenken an unsere Vorfahren bewahrt hat") auch ein kleineres Denkmal für die Großmutter Erika Schmidt, die mit ihrem Mann Carl Schmidt "knapp 48 Jahre durch schöne und durch schwere Zeiten" gegangen war; in einem Anhang sind u. a. um die zwanzig ihrer meist sehr ausdrucksvollen Gedichte veröffentlicht. Nimmt der verschlungene Lebensweg von Carl Schmidt - dessen Vater, von Beruf Schiffsbauingenieur, 1863 auf der Suche nach Arbeit aus dem Pommerschen Anklam nach Russland eingewandert war - den größten Teil des Buches ein, so sind etwa fünfzig Seiten vorrangig seinem beruflichen Werdegang gewidmet. Dieser Teil II der Monographie wird von Heinrich Heidebrecht (geboren 1958 in einer deutschen Familie in Nowosibirsk) bestritten. Er hat Architektur in seiner Heimatstadt studiert und dort bis zu seiner Ausreise in die Bundesrepublik 1986 als Architekt gearbeitet. Heute ist er als freier Architekt in Stuttgart tätig. Von ihm sind zahlreiche Publikationen**** über das Wirken deutscher Baumeister in Russland erschienen. "Der Nachlaß von Carl Schmidt", schreibt Heinrich Heidebrecht, "umfaßt über zwanzig Bauten allein in St. Petersburg [z. B. eine Arbeitersiedlung, einschließlich einer Bibliothek, für zweitausend Arbeiter] und mindestens genau so viel in der hauptstädtischen Umgebung [z. B. das Palais der Fürstin Paley in Zarskoje selo] sowie in Moskau [z. B. das GUM - Staatliches Warenhaus -, an dessen Projekt Carl Schmidt als Praktikant mitarbeitete] und in Twer [z. B. eine Hängebrücke über die Wolga]." Ein ausführliches Werkverzeichnis informiert über weitere Bauwerke Schmidts, viele davon Industriebauten [z. B. eine Baumwollspinnerei, eine Ziegelei, ein Kesselhaus, eine Montagehalle, eine städtische Elektrostation]. Vorgesehen ist eine größere Nachfolgearbeit von Ortwin Greis über den ambitionierten Philatelisten Carl Schmidt - worauf im Buch des öfteren hingewiesen wird. Schmidt war nicht nur ein bedeutender Architekt, sondern auch ein bedeutender Philatelist Russlands und seinerzeit der bedeutendste Sammler von Semstwo-Briefmarken, das sind Postwertzeichen, die nach 1864 bis zum ersten Weltkrieg von den lokalen Selbstverwaltungsorganen (Semstwo) herausgegeben wurden.1932 veröffentlichte Carl Schmidt - da lebte er bereits dreizehn Jahre in Deutschland - einen Katalog über die Semstwo-Postwerttzeichen, der heute als Standardkatalog gilt. Wer das Buch Carl Schmidt - ein Architekt in St. Petersburg 1866-1945 erwirbt, wird durch diesen Titel erst einmal in die Irre geführt; denn die Jahreszahlen stellen nicht die Arbeitsjahre des Architekten in St. Petersburg dar, sondern sind seine Lebensdaten. Er selbst war mit seiner Familie bereits 1918 von Russland nach Deutschland ausgereist. Die deutsche Staatsangehörigkeit hatte sich da als großes Glück erwiesen. "Während der Bürgerkrieg bis über zwei Millionen Menschen außer Landes trieb", schreibt Heinrich Heidebrecht, "und vielerorts halsbrecherische Fluchtversuche unternommen wurden, durfte er [Carl Schmidt] mit seiner Familie und seinen fünf Kindern das im Chaos versinkende Russland legal verlassen. So gelang es ihm zwar mit vielen Strapazen, aber ohne direkte Gefahr für Leib und Leben 1918 in Richtung Deutschland auszureisen." Erst im Juli 1919 traf Schmidt mit seiner Familie in Deutschland ein. Als Architekt konnte er hier nicht mehr Fuß fassen - das einzige Bauwerk in Deutschland ist das von ihm gestaltete Einfamilienhaus in der Bürgerhaussiedlung in Kleinmachnow bei Berlin; er bezog es mit seiner Frau Erika 1934. Nach einigen erfolglosen Geschäftsgründungen widmete sich der anerkannte Philatelist Schmidt ganz der Zusammenarbeit mit dem Reichspostministerium. Eigentümlich mutet an, dass sich Erika Voigt der neuen Rechtschreibung (die so neu nun auch wieder nicht mehr ist) verpflichtet fühlt, sich Heinrich Heidebrecht jedoch der alten Rechtschreibung befleißigt. Zwei Orthographien in ein und demselben Buch! Ein Namensverzeichnis zu Carl Schmidts Biographie (zu dem ich mir noch Seitenangaben gewünscht hätte) und ein stark verästelter Stammbaum der Familien - soweit sie in der Biographie genannt werden, runden das in vieler Hinsicht aufschlussreiche Buch über Carl Schmidt ab, von dem Heinrich Heidebrecht sagt, dass er nicht nur ein produktiver, sondern auch ein guter Architekt gewesen sei. "Noch bis vor kurzem", schreibt Heinrich Heidebrecht, "wurde das bedeutungsvolle Wirken deutscher Baumeister in Russland weder von russischer noch von deutscher Seite thematisiert. Der Zerfall des Sowjetsystems lockerte zunehmend auch dieses Tabu." Gegenwärtig werden Verhandlungen mit einem Verlag in St. Petrersburg geführt, um das Buch Carl Schmidt - ein Architekt in St. Petersburg 1866-1945 in der St. Petersburger Geburtsstadt des deutschen Architekten auf Russisch zu veröffentlichen. Der Verlag an der Wertach übrigens wurde von Waldemar Weber (geboren 1944 in einer russlanddeutschen Familie in Sarbala, Westsibirien) gegründet, den ich vor etwa drei Jahrzehnten in Moskau kennenlernte. Hier war er Dozent an der Gorki-Literaturhochschule für angehende Literaten. Er ist als Russlanddeutscher nach Augsburg übergesiedelt, war Gastprofessor an verschiedenen österreichischen Universitäten, ab 1998 Chefredakteur der zweisprachigen "Deutsch-Russischen Zeitung" in München, schreibt Lyrik, Prosa und Essays in russischen, österreichischen und deutschen Periodika in russischer und in deutscher Sprache. | |||||||||||||
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de * Z. B. Robert Leinonen / Erika Voigt, Deutsche in St. Petersburg. Ein Blick auf den deutschen Evangelisch-Lutherischen Smolenski-Friedhof und in die europäische Kulturgeschichte, Lüneburg 1998, Bd. 1, S. 150. ** Kuratorium zur kulturellen Unterstützung deutscher Mindlerheiten im Ausland e. V., Vortrag für die Bildungsakademie der Volkssolidarität, Landesverband Berlin e. V. am 19. Oktober 2005 - für die Publikation durchgesehen und mit Anlagen versehen, herausgegeben von Leonhard Kossuth unter Mitarbeit von Gotthard Neumann, NORA Verlagsgemeinschaft Dyck & Westerheide (2008). *** In HANDSCHLAG 3/1993 schrieb Gisela Reller über den Deutschen Smolenski-Friedhof in St. Petersburg den Beitrag "Weiße Friedhofs-Nacht": "Hätte mir jemand prophezeit, daß ich mich einmal bis Mitternacht auf einem Friedhof aufhalten würde, ich hätte ihn für einen miserablen Hellseher gehalten. Und doch... Wir wohnen in St. Petersburg im Hotel `Pribaltiskaja´ am Finnischen Meerbusen, nahe der letzten Metro-Station Primorskaja. Sehenswürdigkeiten gibt es hier draußen nicht. Für mich jedoch entdecke ich eine: den Deutschen Evangelisch-Lutherischen Smolenski-Friedhof, über den HANDSCHLAG 2/1993 schon ausführlich berichtet hat. Ich kann an unserem einzigen freien Abend meine Reisegefährtin Maria davon überzeugen, den Friedhof mit mir zu inspizieren, der während des zweiten Weltkrieges so barbarisch zerstört worden ist - Ausdruck des Hasses auf die deutschen Angreifer. Allein getraue ich mich trotz der hellen Weißen Nächte nicht - weniger wegen der Toten, denn wegen der Lebenden: Weit über siebentausend Ausländer wurden im Rußland dieses Jahres Opfer von Verbrechen. - Ja... viele Grabsteine sind böse zugerichtet, deutsche Schriftzeichen weggeschabt, Engel geköpft, Gruftstätten aufgebrochen; Bäume liegen, wo sie umstürzten, Unkraut erreicht gigantischen Höhenwuchs. - Und doch: Man spürt inzwischen auch fürsorgliche Menschenhand! So ist der Friedhof ringsum wieder eingefriedet, sind Wegeplatten gelegt, verspricht am Eingang ein Schild Angehörigen Auskunft. Rußlanddeutsche Enkel können hier seit kurzem ihre beigesetzten Ahnen wieder ausfindig machen, ihrem `Lebens-Blatt´ wichtige Zeilen zu ihrer Identität hinzufügen." ´ **** Z. B. Heinrich Heidebrecht, Baumeister in Rußland: 18. Jahrhundert, Stuttgart 1996.
Am 26.09.2009 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am
26.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
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