Sachbuch REZENSIONEN

Die Abendröte des Friedens

Deutsche; über Stalin
1940 - Stalins glückliches Jahr
Mit 41 Abbildungen
BasisDruck, Berlin 2001, 236 S.

Als "eine historische Miniatur zum Sowjetjahr 1940" bezeichnen Wladislaw Hedeler und Nadja Rosenblum ihr Buch. Die Autoren stellen sich die Frage, ob und wann Stalin im politischen Handeln Glückserfahrungen gehabt haben könnte. "Umstände des Glücks wird man allerdings nicht in seinem einfachen Alltag identifizieren können. Viel Zeit für Glück blieb ihm nicht. Wenn überhaupt, dann eben in jenem Jahr 1940." 1940 war das Jahr nach dem Großen Terror und vor dem Überfall der deutschen Wehrmacht. "Es war das letzte Jahr der Sowjetunion in der Abendröte des Friedens."

Die Autoren haben das glückliche Jahr 1940 in Monats-Kapitel unterteilt. Im Monats-Kapitel Januar beginnt Stalin das Jahr 1940 als Sechzigjähriger. Aus Anlass seines Jubiläums ist er viel geehrt worden, wurde "Held der Arbeit" und Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Er scheint glücklich, die Gründergeneration der Sowjetunion liquidiert zu haben - "Er allein war jetzt der `Chosjain´, der unumschränkte Herr im Hause." - Im Monats-Kapitel Februar schreiben die Autoren von der Umsetzung des Leitmotivs Stalins - "Der Tod der Besiegten ist unerläßlich für die Ruhe der Sieger." - und ist die Rede von Wassili Ulrich, dem Vorsitzenden des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR. Der populäre Theatermann Meyerhold und der Journalist und Schriftsteller Michail Kolzow werden von ihm zum Tode verurteilt. Mit Kolzow verschwand auch dessen "Spanisches Tagebuch", das in jenen Tagen mehr Zuspruch fand als die "Geschichte der KPdSU (B). Kurzer Lehrgang." In allen Monatskapiteln machen Stalin die Ermordeten glücklich - meinen die Autoren: "Er will alle überleben, damit keiner ihn überlebt." - Im Monatskapitel März kommen polnische Militärs in sowjetische Kriegsgefangenenlager. Berija macht Stalin den Vorschlag, über die polnischen Gefangenen - 21 875 Personen (!) - die Höchststrafe zu verhängen: Tod durch Erschießen. Im Wald von Katyn geschieht dann das Unfassbare: Auf Befehl einer Sondertroika des NKWD werden die Gefangenen erschossen. Späte Rache für den missglückten Russisch-Polnischen Krieg im Sommer 1920? Isaak Babel verfasste über die Südwestfront jenes Krieges ein Tagebuch und seine Erzählungen "Die Reiterarmee"; der hauptverantwortliche Kriegskommissar jener unglücklichen Front war Josef Dschugaschwili, das ist Stalin.

Viele interessante Einzelheiten sind auch in den folgenden neun Monats-Kapiteln zu lesen, z. B dass Stalin im Frühjahr oft das Grab seiner zweiten Frau Nadeshda besuchte, auch nachts, weshalb neben dem Grab ein kompliziertes Scheinwerfersystem installiert wurde; dass die Sippenhaftung bis ins vierte Glied vorgenommen wurde; dass der brutale Jeshow (Generalkommissar für Staatssicherheit), als er hingerichtet wurde, seinen Henker bat, ihn "ruhig und ohne ihn zu quälen" zu töten; dass es (im August 1940) endlich gelang, Trotzki (im Exil in Mexiko) zu ermorden; die Autoren berichten auch ausführlich über den Nichtangriffspakt mit den bis 1988 geheimen Zusatzprotokollen zwischen Deutschland und der Sowjetunion, dem Gulag-System und seinen davon betroffenen Menschenschicksalen sowie über die "Säuberung" in der Roten Armee. Im Kapitel "Ausblick 1941" schildern Hedeler und Rosenblum das Schicksal der sowjetischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen in Deutschland, die in der Sowjetunion als Vaterlandsverräter galten. Bis Ende 1941 seien 3,8 Millionen Rotarmisten in deutsche Gefangenschaft geraten. Im weiteren habe es 4,8 Millionen zivile sowjetische Zwangsarbeiter gegeben, die nach ihrer Befreiung 1945 den Leidensweg in das Gulag-System anzutreten hatten.

Die Idee der Monats-Kapitel ist reizvoll. Aber wie immer, wenn sich Autoren ein literarisches Korsett anziehen, muss manches im Text diesem Korsett entsprechend zurechtgeruckelt werden. Und so steht in jedem Monats-Kapitel oft auch gar nicht zum Monat Gehöriges (wenn auch immer durchaus Interessantes). Hedeler und Rosenblum bescheinigen Stalin (in ihrem Schlusswort), dass er zwischen seinem sechzigsten und siebzigsten Jahr auch noch gelegentlich Augenblicke der Genugtuung (des Glücks?) gehabt habe, aber nie wieder ein so glückliches Jahr wie 1940 - als er sechzig war.  Bei einigen Monats-Kapiteln des Jahres 1940 fragte ich mich, auf Grund welcher Tatsachen Stalin denn nun so glücklich gewesen ist... Das Jahr 1879 hatte Stalin übrigens selbst als sein Geburtsjahr angegeben. Die Wissenschaft datiert es nach neuesten Forschungen inzwischen jedoch auf 1878. Sollte das stimmen, bricht der Autoren Monats-Korsett wie ein Kartenhaus zusammen, denn dann war Stalin im Januar 1940 schon im 61. Lebensjahr und seine sechzigsten Geburtstagsfreuden lagen zwölf Monate zurück...

Von
Nikolai Bucharin ist eine Episode übermittelte, als Stalin Dzierzynski (dem Vorsitzenden der Tscheka) einen Einblick in seine Seele gewährte: "Sich sein Opfer wählen, den Plan bis ins kleinste vorbereiten, unerbittlich seinen Rachedurst zu stillen und dann zu Bett zu gehen - etwas Süßeres gibt es auf der ganzen Welt nicht." Wahrheit oder Legende? Wenn dieses Süße Stalin glücklich machte, dann müsste er 1937/38 während der Jahre des Großen Terrors eigentlich glücklicher gewesen sein als 1940.

Interessant ist der fast fünfzigseitige Anhang, beginnend mit der Chronik des Jahres 1940 - wie der Haupttext nach Monaten untergliedert. Es folgt ein Abkürzungsverzeichnis (mit einem Fehler: Bei RSFSR wurde - Wunschdenken? - das erste "S" nicht mit übersetzt, es steht für "Sozialistische": Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik.) Es schließt sich ein "Verzeichnis der 1940 von Stalin in seinem Arbeitszimmer im Kreml empfangenen Personen" an. Stalin empfing 1940 an 223 Tagen 110 Vertreter der Wirtschaft, 95 Militärs, 23 Parteifunktionäre verschiedener Ebenen, 18 Diplomaten, 14 Führungsmitglieder des NKWD aus der Hauptverwaltung Lager
(GULAG) und - zwei Schriftsteller: die polnisch-sowjetische Schriftstellerin Wanda Wassilewska (1905-1964), über deren Begehr im Buch nichts steht, und Michail Scholochow (1905-1984); Scholochow bat erfolgreich um die Aufhebung der Kolchos-Schulden des Weschensker Gebiets und setzte sich (erfolglos) für zu Unrecht verhaftete Funktionäre ein. Der arbeitsintensive und sehr informative Anhang endet mit einem Personenregister von Anna Achmatowa bis Marina Zwetajewa.

Hedeler und Rosenblum vertreten in ihrem Buch die Ansicht, dass es derzeit für eine Stalinbiographie keine dokumentarische Basis gäbe. Und Lourie? Und Montefiore? Ist nichtig, was diese Autoren so interessant darlegen?

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

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Am 24.10.2006 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

  
Jossif Wissarionowitsch Stalin:
Karikiert von Nikolaj Iwanowitsch Bucharin, entnommen dem Buch "Schweinefuchs und das Schwert der Revolution",
Verlag Antje Kunstmann, 2007. 

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