Sachbuch REZENSIONEN | |
Lenin, der Assoziationsathlet... | |
Jochen Richter | Deutscher; über den Russen Lenin |
Rasse, Eilite, Pathos | |
Eine Chronik zur medizinischen Biographie
Lenins und zur Geschichte der Elitegehirnforschung in Dokumenten Centaurus Verlag, Herbolzheim 2000, 334 S. | |
Das Gewicht von Lenins Gehirn wird mit 1 400 Gramm angegeben - was dem
durchschnittlichen Gewicht eines männlichen menschlichen Gehirns
entspricht;
Iwan Turgenjews Gehirn dagegen wog 2 012 Gramm, das von
Friedrich Schiller 1 788 Gramm. Das größte der in der wissenschaftlichen
Literatur beschriebenen Gehirne
hatte ein Gewicht von 2 850 Gramm und war - das Gehirn eines Idioten.
Offenbar ist also die Grundlage von Begabung nicht in der Masse des
Gehirns zu suchen.
Auf knapp einhundert Seiten gibt Dr. Jochen Richter eine auch für den Laien interessante "Medizinhistorische Einführung" zu den architektonischen Befunden am Gehirn Lenins. Das ganze ist gleichzeitig ein Beitrag zur Geschichte des Moskauer Instituts für Hirnforschung und zur Geschichte der Elitegehirnforschung. Erstmalig erfahre ich aber auch von deutsch-russischen Syphilisexpeditionen in die Burjatische Sowjetrepublik (1925 und 1928) und von einer medizinischen Pamir-Expedition (1928). "Es ist verständlich", schreibt Richter, "daß deutsche Pathologen und Tropenmediziner jede sich bietende Option nutzten, das sich über zwei Kontinente und vier Klimazonen erstreckende, 200 Völkerschaften umfassende Rußland für ihre anthropologischen und medizinischen Forschungen zu erschließen." Zweihundert Völkerschaften? Die letzte offizielle gesamtsowjetische Volkszählung von 1979 listete rund hundert Völker und Völkerschaften namentlich auf und fasste über sechzig weitere unter der Rubrik "Sonstige" zusammen. Seit der ersten, die ganze Sowjetunion erfassenden Volkszählung von 1926 sind immer wieder Völker verschwunden bzw. in den Tabellen und Statistiken der folgenden Erhebungen nicht mehr aufgetaucht - insgesamt 95 bis 1989. In zahlreichen Fällen sind sich Ethnologen (und Linguisten) über die historische Zuordnung einzelner Völkerschaften und Völkergruppen zwar grundsätzlich einig, nicht jedoch über den Grad ihrer ethnischen Verschiedenheit, da diese objektiv nicht messbar ist. So werden heute zum Beispiel die Huzulen zu den Ukrainern gerechnet, die Jasgulemen zu den Tadshiken. In den zwanziger Jahren jedenfalls verfügte das Moskauer Hirnforschungsinstitut über Gehirne von Menschen aus über zweihundert ethnischen Gruppen der Sowjetunion. Doch zu Wladimir Iljitsch Lenin*. Hier interessieren besonders zwei Aspekte. Hatte Lenin Syphilis und: War sein Gehirn das eines Genies? Die Diskussion um Lenins eventuelle Syphilis-Erkrankung ist bis heute nicht verstummt und taucht auch in nahezu jeder Lenin-Biographie wieder auf. Unter Bezugnahme auf einen Lues-Verdacht war unter den Nazis im "Schwarzen Korps" Lenins Hirn respektlos mit einem "Schweizer Käse" verglichen worden. Richters Nachforschungen sind eindeutig: Lenin hatte keine Syphilis, er starb an chronischer Sklerose der Blutgefäße des Gehirns. Und wie sieht es mit der Genialität Lenins aus? Die wissenschaftliche Untersuchung des Gehirns von Lenin und die allgemeine Leitung aller Arbeiten in Moskau wurde 1925 dem deutschen Hirnforscher Professor Oskar Vogt angetragen, dessen prominentester Patient in Deutschland ausgerechnet der Stahl- und Rüstungsindustrielle Friedrich Alfred Krupp war. Zwei Jahre später, 1927, legte Vogt in einem inoffiziellen Bericht dar, dass sich ganz klar ein scharfer Unterschied der Struktur des Gehirns von Lenin und der Struktur gewöhnlicher Gehirne abzeichne. "Die Pyramidenzellen waren bei Lenin bei weitem stärker entwickelt, die verbindenden Assoziationsfasern zwischen ihnen bei weitem zahlreicher; auch die Körnerzellen waren bedeutend größer und hervorstechend." Vogts Fazit daraus war die Feststellung, dass Lenins Gehirn im Vergleich mit den Gehirnen von durchschnittlich intelligenten Menschen über "eine bei weitem reichere materielle Basis" verfüge; die assoziative Fähigkeit Lenins sei viel höher entwickelt, wofür die höhere Vernetzung zwischen den Pyramidenzellen kennzeichnend sei. Professor Vogt erklärte so Lenins Fähigkeit, sich in komplizierten Situationen schnell zu orientieren, sowie seine Fähigkeit zu schnellem Handeln. Im ersten offiziellen Bericht von 1927 wiederholte Vogt im wesentlichen diese Fakten. Später legte er wiederum in einem inoffiziellen Bericht dar, dass sich ganz klar ein scharfer Unterschied der Struktur des Gehirns von Lenin und der Struktur gewöhnlicher Gehirne abzeichne: "Wir haben also in dem Leninschen Gehirn auffallend große und besonders zahlreiche Pyramidenzellen in der III. Schicht, wie der Athlet durch eine besonders stark entwickelte Muskulatur charakterisiert ist." Was dann folgt, ist wohl doch nur dem Fachmann verständlich. Jedenfalls schlussfolgert Vogt: "Aus allen diesen Gründen lässt unser hirnanatomischer Befund Lenin als einen Assoziationsathleten erkennen. Speziell machen uns diese großen Zellen das von allen denjenigen, die Lenin gekannt hatten, angegebene außergewöhnlich schnelle Auffassen Lenins, sowie das gehaltvolle in seinem Denken oder - anders ausgedrückt - seinen Wirklichkeitssinn verständlich." Inzwischen ist, wie Richter ausdrücklich vermerkt, die Zeit über den damaligen Reduktionismus, Genialität allein aus zellulären Strukturen erklären zu wollen, hinweg gegangen und das von Vogt gegründete Moskauer Institut zu einem ganz normalen Grundlagenforschungsinstitut mit etwa zweihundert Mitarbeitern geworden. Dr. Richter ist Wissenschafts- und Medizinhistoriker. Er studierte Philosophie und Biologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, bis 1990 war er als Mitarbeiter im Bereich Wissenschaftsgeschichte des Instituts für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft an der Akademie der Wissenschaften der DDR, seitdem freischaffend, wissenschaftlich forschend tätig. Seit 1992 hat Richter das Projekt zum Thema Rasse, Elite, Pathos anfangs als freier Mitarbeiter der Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V. Berlin und "seit 1995 in privater Initiative und mit aus eigener Tasche erbrachtem finanziellen Aufwand fortgeführt"; wesentlich für das Zustandekommen der Edition - sei vor allem "die Ermutigung und das Interesse von Seiten Professor Günter Rosenfelds" gewesen. Das Cover von Rasse, Elite, Pathos - der Band 8 von "Neuere Medizin- und Wissenschaftsgeschichte", herausgegeben von Wolfgang U. Eckart - schmückt ein Affe mit Totenschädel und Messzirkel - eine Bronzefigur, die auf dem Schreibtisch Lenins im Kreml stand. Lenin hatte das symbolträchtige kleine Kunstwerk von dem amerikanischen Industriellen Armand Hammer bei dessen Besuch im Kreml geschenkt bekommen. Richter, Jahrgang 1934, hofft, dass sein Buch auch für einen breiteren Leserkreis geeignet sein möge. Es ist durchaus geeignet, denn hier finden sich viele allgemein interessierende Fakten; man beachte unbedingt auch die zahlreichen Anmerkungen, in einer geht es unter anderem um den Altbundespräsidenten von Weizsäcker. Danach war Lenins Vater der in den Adelsstand erhobene Beamte Ilja Nikolajewitsch Uljanow, ein Wolgarusse, dessen Vater ein leibeigener Bauer und dessen Mutter die Tochter eines getauften Kalmyken. Lenins Mutter, Maria Alexandrowna Uljanowa, geborene Blank, stammte von beiden Eltern her von Deutschen ab. Ihr Vater, der Arzt Alexander Dimitrewitsch Blank, stammte aus einer wolhynien-deutschen Familie; ihre Mutter, Anna Großschopf, war die Tochter des in Petersburg lebenden Kaufmanns Johann Gottlieb Großschopf und einer schwedischen Mutter. Die Petersburger Familie Großschopf entstammte einem seit dem 18. Jahrhundert hoch angesehenen Lübecker Kaufmannsgeschlecht, auf das, neueren Forschungsergebnissen des Schweizer Historikers Brauer zufolge, auch die Genealogie der Familie Richard von Weizsäcker zurückgeht. Diese interessante Tatsache erfahren wir aus der Anmerkung 277. Man versäume auch nicht, die über einhundertfünfzig Seiten Dokumente zu lesen, sie sind geradezu spannend. | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de * Der 140. Geburtstag Lenins war für die Kommunistische Partei der Russischen Föderation Anlass, das Jahr 2010 zum Lenin-Jahr zu erklären. Wladislaw Hedeler schreibt im "Neuen Deutschland" vom 4./5.12.2010: "Alexander Prochanow, Wortführer des nationalistischen Flügels (der KPFR), setzt Leninismus mit `Kosmismus´ gleich. Seine Opponenten wiederum stellen Lenin in eine Reihe mit Stalin. Anhänger Trotzkis, die im August dieses Jahres an dessen Ermordung vom siebzig Jahren erinnerten, kontern mit ihrem Idol, der in seiner Stalin-Biografie geschrieben hatte: `Der übliche offizielle Vergleich Stalins mit Lenin ist einfach ungehörig.´ Die Publikationen, die nach dem Ende der institutionalisierten Leninforschung erschienen, bedienen alle hier skizzierten Lesarten. Die Diskussion wird emotional geführt. Immerhin hat sich, um dem Lenin-Jubiläum Rechnung zu tragen, die Führung der KPRF (die es bis dahin vorgezogen hatte, die Ausgabe der Werke Stalins zu fördern) entschlossen, in der `Prawda´ Auszüge aus dem zweiten Band der von Wladlen Loginow verfassten Lenin-Biografie zu veröffentlichen. Loginow war 1999 Herausgeber der Dokumentenedition `Der unbekannte Lenin´. Auf den zweiten Band, der ein Bild des `knallharten Pragmatikers und willensstarken Führers´ im Entscheidungsjahr 1917 zeichnet, soll ein dritter folgen. Im Interview für das populäre Journal `Ogonjok´ äußerte der Publizist und Philosoph Michail Epstein am Vorband des 7. November, dass man heute Lenin mit mehr Interesse, als nach dem Zusammenbruch der UdSSR begegne. Die Bezugnahme auf ihn sei weniger aggressiv als in den Jahren der Perestroika. `Er ist nicht zu einem Monster geworden, wie Stalin oder Hitler, doch er bleibt weiterhin der große Unbekannte, während andere Gestalten der russischen Geschichte stärker ins Bewusstsein gerückt sind."
Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
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Wladimir Iljitsch Lenin: Karikiert von Nikolaj Iwanowitsch Bucharin, entnommen dem Buch "Schweinefuchs und das Schwert der Revolution", Verlag Antje Kunstmann, 2007. |
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