Belletristik REZENSIONEN

Ein Säulenheiliger oder ein Gaukler - wer lebt gottgefällig?

Russe
Der Gaukler Pamphalon
Aus dem Russischen von Günther Dalitz
Mit Illustrationen von Katrin Saran
Patmos Verlag, Düsseldorf 2003, 112 S.

"Zu Kaiser Theodosius des Großen Zeiten lebte in Konstantinopel ein vornehmer Mann, ein ´Patrizier und Statthalter´, der den Namen Hermias trug. Er war reich, edel und angesehen; er besaß einen aufrichtigen und ehrlichen Charakter: Er liebte die Wahrheit und haßte Verstellung...", so beginnt Nikolai Leskow seine Erzählung Der Gaukler Pamphalon, die 1887 im "Istoritscheski westnik" (Der historische Bote) erschien. Um sein Seelenheil zu retten, entsagt dieser byzantinische Würdenträger all seinen Ämtern, verteilt sein Gut unter die Armen und verharrt dreißig Jahre lang auf einer hohen Steinklippe als Säulenheiliger. Er ernährt sich von dem, was mitleidige Menschen ihm darreichen, "er aß weder Brot noch irgendeine Speise, die auf Feuer zubereitet worden war und vergaß völlig, wie gekochte Nahrung schmeckte". Nach den damaligen Vorstellungen glaubte man, das sei Gott angenehm und wohlgefällig. Während des Lesens ganz beeindruckt von Hermias, finde ich, er hat es verdient, in den Himmel zu kommen. Doch erst einmal befiehlt dem Hermias eine göttliche Stimme, nach Damaskus zu gehen und dort den Menschen Pamphalon aufzusuchen. Als Hermias ihm begegnet, muss er entsetzt feststellen, dass dieser Pamphalon ein Tänzer und Sänger, ja, ein Gaukler ist, der seinen Beruf in den Häusern von Hetären zur Belustigung ihrer verworfenen Gäste ausübt. Doch warum hatte die göttliche Stimme Hermias diese Begegnung angeraten? In einem langen Gespräch stellt sich die ganz und gar unterschiedliche Lebensweise der beiden dar. Da ist der barmherzige Pamphalon, der zum Beispiel selbstlos-hilfsbereit der ins Unglück geratenen Magna, einer Mutter von zwei Kindern, vor Hunger und Verderben rettet, und da ist der ob seiner Frömmigkeit selbstgefällige Säulenheilige. Nach einem beeindruckenden Gespräch mit Pamphalon verdingt sich der betagte Hermias als Ziegenhirt - denn er hat begriffen, dass der Mensch dem Menschen dienen muss.

In seiner Todesstunde sieht Hermias in großen hebräischen Buchstaben das Wort "Eigendünkel" über das ganze Himmelsgewölbe geschrieben. Diese Schranke verwährt ihm den Eingang in die Ewigkeit. Es ist Pamphalon, der mit seinem Gauklermantel darüber hinfährt und das Wort vom unendlichen Himmel wischt. Hand in Hand fliegen nun der Gaukler und der Säulenheilige der Ewigkeit zu. "Wie konntest du", fragt Hermias während des Fluges den Gaukler, "die Sünde meines Lebens auslöschen?" Pamphalon antwortet ihm schlicht: "Ich weiß nicht, wie ich getan habe: Ich sah nur, du warst ratlos, und ich wollte dir helfen, wie ich es verstand. So habe ich immer gehandelt, während ich auf Erden weilte, ebenso halte ich es jetzt, da ich einziehe in eine andere Wohnstatt."

Nikolai Leskow (1831-1895), den Pëtr Kropotkin 1905 noch zu den weniger bedeutenden russischen Schriftstellern zählt,  wird von Peter Urban ein Jahrhundert später in den Anmerkungen zu "Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur"  als einer der bedeutendsten russischen Autoren des 19. Jahrhunderts anerkannt. Die Vorlage zu seiner Erzählung Der Gaukler Pamphalon hat Leskow dem "Prolog" entnommen. Der "Prolog" ist eine der damals bekanntesten und beliebtesten russischen Sammlungen von Heiligenleben und Heiligenlegenden. Byzantinischen Ursprungs (entstanden zwischen dem 10. und 11. Jahrhundert) wurde der "Prolog" im 12. und 13. Jahrhundert in den russischen Übersetzungen durch entsprechende Texte ergänzt. Auch Lew Tolstoj griff in seinen Volkserzählungen auf diese Quelle zurück. Leskow hat die Vorlage für seine Erzählung allerdings stark überarbeitet. Vor allem erscheint die Rolle der Frau bedeutender. Die Frau ist bei Leskow nicht nur dargestellte Person, sondern moralisch aktiv agierende Heldin - Magna ebenso wie Asella, die Hetäre. Aus dem unveröffentlichten Vorwort der Erzählung ist ersichtlich, dass Leskow seine Erzählung in polemischer Hinsicht verfasst hat. Es kam ihm darauf an, die damals häufig erscheinenden russischen Nacherzählungen christlicher Legenden durch seine Fassung zu korrigieren. Er suchte zu beweisen, dass auch den byzantinisch-russischen heiligen Schriften stoffliche Vielfalt und menschliche Wärme innewohnt. Leskow schuf nach seinen eigenen Worten eine Kunstlegende im Sinne Flauberts und Tolstojs. Diese Geschichten Leskows (auch "Der Berg", "Die schöne Asa") erscheinen uns Heutigen aber doch recht belehrend, allzu sehr spürt man den erhobenen Zeigefinger des Autors.

Erfreulich, dass der Verlag auf die bewährte Übersetzung von Günter Dalitz zurückgegriffen hat, 1971 im Ostberliner Verlag Rütten & Loening erschienen. Betrüblich, dass das Buch keine Nachbemerkung enthält und auch keine Anmerkungen,  zum Beispiel, dass Theodosius der Große, seit 379 römischer Kaiser, von 346-395 lebte; dass Edessa eine Stadt und ein altes Königreich von Mesopotamien war und ein wichtiges Zentrum des Christentums mit über dreihundert Klöstern; dass die Mutter der Makkabäer nach der biblischen Überlieferung ihren Tod und den Tod ihrer Kinder der Schande vorzog, als sie und ihre sieben Söhne den Geboten Gottes zuwiderhandeln sollten...  Erstaunlich, dass es sich ein Verlag leistet, eine einzige Erzählung Leskows als selbständiges Büchlein herauszugeben, ansprechend aufgemacht und mit hübschen Illustrationen versehen. Gewichtig genug ist Leskows Erzählung allemal, die einen Gaukler gottgefällig in den Himmel einlässt, und diesen einem Heiligen versperrt. 

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 19.09.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 23.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Knausere nicht mit Dank, selbst aber erwarte keinen.
Sprichwort der Russen

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