Belletristik REZENSIONEN | |
Auch antike Scherben aus dem 11. Jahrhundert sind nicht unpolitisch... | |
Jurij Dombrowskij | Russischer Rom (Zigeuner) |
Der Hüter der Eigentümer | |
Aus dem Russischen von Margret Fieseler Claassen Verlag, Hildesheim 1997, 383 S. | |
Der serbische Rom (
Zigeuner) Rajko Djuric erzählt in seinem Buch
"Die Literatur der Roma und Sinti"
auch viel Interessantes und vor allem
Neues über die russischen
Roma-Schriftsteller. So entdeckte ich
überrascht den Namen Jurij Dombrowskij (1909-1978). Überrascht, weil ich
diesen Autor bisher für einen Russen gehalten hatte; denn 1980 war von ihm
beim Berliner
Verlag Volk und Welt "Die
dunkle Lady" erschienen, als Spektrum-Bändchen 136; es enthält drei Novellen über Shakespeare. Mit
diesem (unverfänglichen) Bändchen stellte der Verlag den DDR-Lesern
erstmals den "sowjetischen Prosaiker" vor, der seine literarische
Tätigkeit 1937 mit Gedichten begann. Weder in der Vorbemerkung des
Verlages, noch im Nachwort von Marianne Misgin, ein Wort darüber, dass
Dombrowskij ein russischer Rom war, noch natürlich, dass er
zwölf Jahre im Gefängnis, im Straflager und in der Verbannung zugebracht
hatte. Immerhin werden seine Shakespeare-Novellen als stimmungsvoll und
brillant gelobt. Aus der editorischen Notiz des Verlages
erfahren wir über Dombrowskij immerhin, dass er einer
Rechtsanwaltsfamilie entstammte und in
Moskau
Literatur studierte.
Erstaunt lesen wir, dass er "lange Jahre als wissenschaftlicher
Mitarbeiter eines Museums in Alma-Ata"
lebte. Hier habe er die Romane "Dershawin" (1939) und "Der Affe kommt
seinen Schädel holen" (1959) geschrieben. Wer gelernt hat, zwischen den
Zeilen zu lesen, dem sagen die zwanzig Jahre Pause zwischen 1939 und
1959 so einiges...
Im kasachischen Alma-Ata, das wissen wir heute, lebte Dombrowskij in der Verbannung. In Kasachstans Hauptstadt, vor allem im Zentralmuseum von Kasachstan, spielt in den dreißiger Jahren denn auch sein Roman Der Hüter der Altertümer, geschrieben in der Ich-Form; sein Held heißt Sybin. Der ist im kasachischen Zentralmuseum mit der Sichtung archäologischer Funde beauftragt, "( ) ich grub Hügelgräber um, ich inventarisierte antike Scherben, ich diktierte der ältlichen, gebrechlichen Stenotypistin Texttafeln zu allen möglichen Dingen, die unvorsichtigerweise ins Museum geraten waren, von der Kopeke aus der Zeit Nikolajs bis zum Flughund aus Java, ich machte noch hundert andere Sachen, große und kleine, nötige und unnötige." Sybin hält sich und seine Arbeit für unpolitisch... Doch bald schon wird ihm klar, dass jeder in die vom Kreml geschürten hysterischen Atmosphäre hineingerissen werden kann, sogar in der fern gelegenen Sowjetprovinz und in einem von der Tagespolitik weit entfernten Beruf. Der Antritt der Verbannung im Sommer 1933 wird von Dombrowskij so geschildert, als habe Sybin von Moskau aus eine Bildungsreise nach Kasachstan angetreten. Das erste Kapitel preist die Ende des 19. Jahrhunderts nach einem schrecklichen Erdbeben in Alma-Ata von Andrej Senkow erbaute Kathedrale und sucht durch Fußnoten aus Zeitungen den Eindruck zu erwecken, es handle sich um eine kulturhistorische Abhandlung. Doch von Kapitel zu Kapitel spürt der Leser, mehr und mehr, dass "etwas im Busch" ist, fühlt er Bedrohliches auf Sybin zukommen - obwohl nichts Derartiges direkt ausgesprochen wird. Im Kapitel fünf dann ein erstes sichtbares Zeichen: Die "Massenerzieherin" Soja Michailowna hat vom Direktor den Auftrag, die Fotos von Volksfeinden abzuhängen. Sybin kommt gerade dazu, als sie Tschapajew abhängt. Er beschwert sich, doch der Direktor erklärt Sybin scharf: "Nicht Tschapajew wird abgenommen, sondern die mit ihm auf dem Bild sind. Ein sowjetisches Museum darf sich nicht in eine Galerie von Volksfeinden verwandeln, und auf dieser Fotografie sind Volksfeinde. Tschapajew konnte sie nicht kennen, aber wir kennen sie." (In diesem Zusammenhang sei auf den phantastischen Bildband von David King, "Stalins Retuschen" verwiesen.) Und noch etwas wird Sybin angekreidet: Dass er das Porträt Iossif Castagniers, Archäologe und Lehrer für Französisch am Orenburger Gymnasium, aufgehängt hat. "Natürlich, Castagnier hatte einen schauderhaften Geschmack gehabt. Er hatte sich in der Pose Hamlets fotografieren lassen. Ein wallender schwarzer Mantel, eine Uniform, ein schwarzer breitkrempiger Hut, in der Hand einen Schädel." - "Wie er angezogen ist, wie er anzogen ist!" schrie die Massenerzieherin erbost. In eine kasachische Idylle geraten, nimmt es Sybin kaum war, wie er als unpolitischer Archäologe in Widerspruch zum "System" gerät. Doch der Leser weiß spätestens jetzt, dass es in Der Hüter der Altertümer nicht um karachanidische Scherben aus dem 11. Jahrhundert geht... Sybin erfährt, dass in der Besonderen Abteilung ein Dossier über ihn existiert, das von Tag zu Tag wächst und ihn "mit der üblichen Unheil verkündenden Unpersönlichkeit jener Zeit" belastet. Nur aus dem Epilog zum Roman erfährt der Leser von Sybins weiterem Schicksal im GULAG, im Lager Kolyma. Nach 1959 lebte Dombrowskij in Moskau. Seinen Roman Der Hüter der Altertümer druckte die Moskauer Zeitschrift "Nowy Mir" ("Neue Welt") im Spätsommer 1964 - als die kurze Periode des kulturpolitischen Tauwetters unter Chruschtschow schon fast vorüber war. Bereits seit einiger Zeit sei spürbar gewesen, schreibt die Übersetzerin Margret Fieseler in ihrer Nachbemerkung, dass sich das politische Klima wieder änderte und die konservativen Kräfte ihren Einfluss zurück gewannen. Chruschtschows Sturz im Oktober 1964 besiegelte diese Wende, und es begann die lange Ära der Stagnation unter Breshnew. Ein Wunder, dass der "Hüter" noch so kurz vor Toresschluss "durchschlüpfen" konnte, wenn auch nur in gekürzter, zensierter Form. Obwohl Dombrowskijs Roman in der sowjetischen Presse fast völlig totgeschwiegen worden war, machte es den bis dahin fast unbekannten Autor doch über Nacht berühmt. Margret Fieseler lässt uns wissen, dass 1966 eine Buchfassung - ein Nachdruck der Zeitschriftenversion - erschien. Dann wurde es wieder einmal für lange Jahre still um Dombrowskij. Erst 1978, in seinem Todesjahr, brachte der renommierte Pariser Emigrantenverlag YMCA-Press die erste vollständige Fassung heraus (allerdings noch ohne Dombrowskijs Epilog). Dem russischen Leser machte erst Gorbatschows "Glasnost" die Werke Dombrowskijs ohne Verstümmelung durch die Zensur zugänglich. Und so erschien 1992/93 im Moskauer Verlag "Terra" eine sechsbändige Werkausgabe mit einer Fassung des "Hüters", die auch den abschließenden dreißigseitigen Epilog "Aus den Aufzeichnungen Sybins" enthält, auf dessen Veröffentlichung Dombrowskij 1964 schweren Herzens verzichten musste. Die vorliegende Übersetzung basiert auf der Pariser Ausgabe, die Margret Fieseler "zuverlässig" nennt. Nur die Widmung, das Motto (ein Zitat aus dem Tacitus) und das Schlusskapitel wurden nach der Edition von "Terra" übersetzt. 1964 -1975 schrieb Dombrowski "Die Fakultät unnützer Dinge" (1990 beim Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/Main, erschienen), kurz nach seinem Tod 1978 in Paris veröffentlicht. In der Er-Form geschrieben, ist dieser Roman die Fortsetzung von Der Hüter der Eigentümer. "Die Fakultät unnützer Dinge" wurde 1988 als ein Hauptwerk der antistalinistischen Perestroikaliteratur gefeiert und - wegen der Verarbeitung der Geschichte von Jesus und Pontius Pilatus - zu Bulgakows Roman "Der Meister und Margarita" in Beziehung gesetzt. Jurij Ossipowitsch Dombrowskij, der herausragende russische Roma-Schriftsteller der Sowjetära, wurde 1966 rehabilitiert. | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de | |
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Am 06.12.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 20.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Wer die Kessel anfertigt, entscheidet, wohin die Henkel kommen. | |
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