SACHBUCH REZENSIONEN

Als "Kosmopolit" selbst verfolgt...

Russe
Orden für einen Mord
Die Judenverfolgung unter Stalin
Aus dem Russischen von Alfred Frank
Propyläen Verlag, Berlin 1997, 472 S.

Die antisemitischen Prozesse gegen das 1942 gegründete Jüdische Antifaschistische Komitee (JAFK) stehen im Mittelpunkt des Buches. Den Beginn der Verfolgungswelle gegen die russischen Juden bildete am 13. Januar 1948 der Tod des jüdischen Schauspielers und Regisseurs Salomon Michoëls, der seit 1929 künstlerischer Leiter des Staatlichen Jüdischen Theaters in Moskau war. Michoëls, auch Leiter des JAFK, kam unter mysteriösen Umständen in Minsk bei einem Autounfall ums Leben. Schon damals vermutete man, dass es Mord war.

1992/1993 - die KGB-Archive waren dank Perestroika und Glasnost inzwischen öffentlich zugänglich - beschäftigte sich Alexander Borschtschagowski mit Tausenden von Seiten der Vernehmungsprotokolle. "Ich habe mich dem Studium der Unterlagen des Verfahrens gegen das JAFK gewidmet, um ein Verbrechen zu analysieren, hinter dem nicht einfach eine Kette von Morden stand, wie es viele gab, sondern ein groß angelegter Plan zur Vernichtung sämtlicher jüdischer Schriftsteller, sämtlicher mehr oder weniger bedeutender Vertreter der nationalen jüdischen Kultur." Das Ergebnis, schreibt der Verlag, sei die erste gründliche Darstellung dieses bislang fast unbekannten Kapitels der sowjetischen Geschichte.

Ein fast unbekanntes Kapitel? Schon 1991 erschien im Verlag Volk & Welt von Arkadi und Georgi Wainer "Im Zeichen von Schlinge und Stein", ein Buch, bereits 1975/1977 geschrieben, das dreizehn Jahre lang in der Schublade gelegen hatte (1990 war es im Moskauer Progress Verlag herausgekommen.). Schon in diesem spannenden Roman wird nachgewiesen, dass Michoëls vom KGB ermordet worden war. 1992 dann erschien beim Ch. Links Verlag "Hammer, Sichel, Davidstern" von Louis Rapoport; ein umfängliches Kapitel ist der Ermordung Michoëls gewidmet... 1994 brachte Rowohlt mit ausführlichem Geleitwort, auch die JAFK-Prozesse betreffend, das vom Jüdischen Antifaschistischen Komitee erarbeitete und auf Stalins Geheiß eingestampfte "Schwarzbuch" über den Genozid an den sowjetischen Juden heraus. Eine Sensation ist von dem Buch Orden für einen Mord also nicht zu erwarten. Trotzdem: Ich finde es durchaus interessant, nachweisbar verbürgte Tatsachen aus den vielen zitierten Akten und Vernehmungsprotokollen zu erfahren. Erschüttert hat mich das Verhalten des Schriftstellers Boris Polewoi ("Der wahre Mensch"), der auch vor einer großen Lüge nicht zurückschreckte - um der "krankhaften Verteidigung der Heimat" willen. Zutiefst beeindruckt haben mich zum Beispiel die leidenschaftlichen, mutigen Aussagen von Lina Stern, der siebzigjährigen weltberühmten Wissenschaftlerin, die der Spionage, des Zionismus und des Ausverkaufs der sowjetischen Wissenschaft beschuldigt wurde. In der Stalin-Biographie von Simon Sebag Montefiore wird die "glänzende jüdische Wissenschaftlerin" von Berias Nachfolger Abakomow angeschrien: "Du alte Hure. Gesteh doch, dass du eine zionistische Agentin bist!"

Auf das nicht gerade leicht zu lesende umfangreiche Werk von Borschtschagowski muss man sich einlassen wollen. Dann sind viele interessante Details und auch Neuigkeiten zu erfahren - aus dem Buch des 1913 in der
Ukraine geborenen russischen Dramatikers und Prosaautors, der als "Kosmopolit" selbst verfolgt war.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 

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Am 18.01.2002 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Einen Bock fürchtet man von vorn, ein Pferd von hinten, einen schlechten Menschen von allen Seiten.
Sprichwort der Russischen Juden

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