Die Nase
Nacherzählt von Sybil Gräfin Schönfeldt
Illustriert von Gennadij Spirin
Esslinger Verlag, Esslingen/Wien 1992, 26 S.
In Nikolaj Gogols übermütiger Groteske Die Nase,
erschienen 1836, findet der Barbier Iwan Jakowlewitsch in seinem Frühstücksbrot
eine Nase. Er weiß sofort, wem sie gehört: dem Kollegienassessor*
Kowaljow**, den er jeden Mittwoch und Sonntag rasiert. Da er "wie jeder
anständige russische Handwerker ein schrecklicher Säufer" ist,
befürchtet der Barbier, dass er sie ihm im Suff abgesäbelt hat.
Dieweil entdeckt der Kollegienassessor, der sich Major
nennt, um sich mehr Vornehmheit und Gewicht zu geben, den Verlust
seines Riechorgans. Man kann sich vorstellen, wie verzweifelt Iwan Jakowlewitsch
Kowaljow ob dieses Verlustes ist. Der Kollegienassessor "Major
Kowaljow" wurde von der zeitgenössischen Kritik und dem russischen
Leser sofort als Prototyp erkannt und schnell sprichwörtlich -
wie beinahe jede Gogol-Figur.
Diese sehr ausgeprägt absurd-groteske Erzählung hat zu
unterschiedlichen Interpretationen geführt. Meinen zum Beispiel die
einen, in Die Nase ein Symbol von obszöner Doppeldeutigkeit zu
sehen, so rücken die anderen das Motiv der Persönlichkeitsspaltung in
den Vordergrund. Und in "Hauptwerke der russischen Literatur" schreibt
Prof. Dr. Hans Günther, dass es sich um eine Groteske handele, die den
eitlen, Karriere besessenen Kollegienassessor mit seiner
verselbständigten, in der Beamtenhierarchie über ihm stehenden Nase
konfrontiere. Dazu aber muss der Leser wissen, dass der Titel
"Staatsrat" - an der goldbestickten
Uniform mit hohem Stehkragen, Degen und einem Feder verzierten Hut
zu erkennen - höher als der des Kollegienassessors ist. Doch wer weiß das
schon? Meine (für Kinder geeignete Interpretation) ist: Gogol
(1809-1852) wollte zeigen, wie ein Mensch glücklich zu machen ist,
obwohl er (nach vierzehn Tagen) nichts Neues (zurück-) erhält, sondern
etwas, was er schon immer hatte - in diesem Falle seine Nase, ohne die
man "weder ein richtiger Vogel noch ein richtiger Bürger" ist. Außerdem halte ich´s mit
Alexander Puschkin, der Gogols Erzählung als
fröhlich-originellen Scherz bezeichnet***. Sonst wäre sie wohl auch für Kinder
nicht geeignet... Und auch "abgeschmackt", "trivial" "schmutzig"
finde ich die Nasen-Novelle nicht - wie aber viele von Gogols
Zeitgenossen, Kritiker und Redakteure, die "zum staatstragenden
Meinungsmacher-Kartell Petersburgs in Opposition standen"
(Peter Urban in: "Genauigkeit und
Kürze, Diogenes Verlag, Zürich 2006). Übrigens hatte Nikolaj
Gogol von Kind an unter der Größe seines Gesichtserkers zu leiden; von
seinen Schulkameraden war er der "rätselhafte Zwerg"
[Nase] genannt worden.
Im Kinderbuch des Esslinger Verlages wird Die Nase von Sybil Gräfin Schönfeldt nacherzählt. Fast möchte man sagen, dass die
Gräfin - deren Engagement für die Kinder- und Jugendbuchliteratur
schon mit mehreren Auszeichnungen bedacht wurde - das Original "nur" sehr stark
(und geschickt) eingekürzt hat, denn viele Sätze kommen
(erfreulicherweise) in der Sprache des berühmten russischen Autors daher. Wie schon bei
"Die kleine schwarze Henne"
von Antony Pogorelskij und
"Kaschtanka" von Anton Tschechow hat sie das Verständnis der
Kinder (so ab acht Jahre) für Inhalt und Satzbau gekonnt eingeschätzt.
Der Illustrator Gennadi Spirin, 1948 in einem kleinen Städtchen in
der Nähe von
Moskau
geboren, ist uns ebenfalls schon durch diese
beiden Titel ans Herz gewachsen; der Esslinger Verlag arbeitet mit dem
Künstler, der bereits in aller Welt Ausstellungen hatte, seit 1986
zusammen, obwohl er inzwischen mit seiner Familie in den USA lebt. Die
Zeichnungen des russischen Bilderbuchkünstlers beeindrucken besonders
durch die originalgetreue Kleidung des 19. Jahrhunderts - da hat der
Maler viele Studien betrieben - und durch die beeindruckend vielen
Details. So trägt zum Beispiel die Frau des Barbiers ein typisch
russisches Blumentuch mit vielen liebevoll gemalten Rosen, und "Herr Nase"
(Nase, nos, ist im Russischen männlichen Geschlechts.) spaziert mit einer Uniform einher, an der jedes güldene Detail
stimmt. Farblich etwas blass finde ich die wiederkehrende
Randgestaltung des Buches. Auf der Rückseite hat sich Gennadij Spirin
einen kleinen Scherz erlaubt: eines der Geschäfte auf dem
St. Petersburger
Boulevard nennt als Ladeninhaber "Spirin"; leider ist
nicht auszumachen, ob es sich um ein Malerbedarfsartikel-Geschäft
handelt oder vielleicht um einen Spirituosenladen...
Die Nase**** hat weder eine Vor- noch eine Nachbemerkung.
Deshalb sei zur weiteren Information und zum Nachlesen des ganzen
Textes "Petersburger Geschichten" (Fischer Taschenbuch Verlag, 2003)
empfohlen. Warum Geschichten? Die Erzählungen "Der Newskij
Prospekt", "Das Porträt", "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen", "Die
Nase" und "Der Mantel" firmierten bisher als "Petersburger
Erzählungen".
Übrigens: Während seiner Petersburger Jahre stand Nikolaj Gogol in
engem Kontakt mit Fürst Vladimir Odoevskij. |
Gisela
Reller /
www.reller-rezensionen.de
* Der Rang eines Kollegienassessors entsprach in der militärischen
Rangtabelle dem eines Majors.
**
Kowaljow (kowal) bedeutet im südrussischen Dialekt Schmied,
mit der Nebenbedeutung: Weiberheld, Schürzenjäger, durchtriebener,
mit allen Wassern gewaschener Mann.
*** Alexander Puschkin hatte allerdings auch andere triftige Gründe, Die Nase als Scherz
herunterzuspielen, denn, so schreibt Peter Urban in seinem Buch, "er
hatte so seine leidvollen Erfahrungen mit der gottesfürchtigen und
sittenstrengen Zensur seines Zaren".
**** 1927/28 schuf
Dmitri Schostakowitsch
nach Gogol die satirisch-fantastische Oper "Die Nase", mit Ballett-,
Schauspiel- und Filmmusiken. |
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Weitere Rezensionen zu "Titel der klassischen russischen Kinderliteratur":
|
- Anthologie, Märchen-Samowar, (Darin: Nikolaj Gogol, Der Jahrmarkt von
Sorotschinzy; Anton Tschechow, Kaschtanka;
Nikolaj Gogol, Die Nase;
Alexander Puschkin, Das Märchen vom Zaren Saltan.).
- Anton Čechov (Tschechow), Kaschtanka und andere Kindergeschichten.
- Antony Pogorelskij, Die kleine schwarze Henne.
- Leo Tolstoj, Philipok.
- Anton Tschechow (Čechov), Kaschtanka.
- Anton Tschechow, Die Jungen.
- Sergej Puschkin, Das Märchen vom Zaren Saltan.
| Weitere Rezensionen zur Person "Gogol":
|
- Anthologie, Märchen-Samowar, (Darin: Nikolaj Gogol, Der Jahrmarkt von
Sorotschinzy; Anton Tschechow, Kaschtanka;
Nikolaj Gogol, Die Nase;
Alexander Puschkin, Das Märchen vom Zaren Saltan.).
- Nikolaj Gogol, Meistererzählungen.
- Gogols Petersburger Jahre, Gogols Briefwechsel mit Aleksandr Puškin
(Alexander Puschkin).
- Kjell Johansson, Gogols Welt, Biographie.
- Nikolaj Gogol, Petersburger Geschichten.
| Am 13.09.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung
am 27.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
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