Belletristik REZENSIONEN | |
Gefängnis und Keimform des Lebens | |
Anatoli Asolski | Russe |
Die Zelle | |
Aus dem Russischen übertragen von Andreas Tretner Reclam Verlag, Leipzig 1999, 251 S. | |
Die Zelle ist ein tragischer, atemberaubender Roman, der in
der Stalin-Zeit spielt. Erzählt wird
die Lebensgeschichte zweier ungleicher, hochbegabter junger Männer in den dreißiger bis fünfziger Jahren
des 20. Jahrhunderts:
Iwan Barinow ist stark und selbstbewusst, Klim Paschutin (benannt zu Ehren des legendären Volkskommissars
Kliment Woroschilow) ist gutmütig und lebensfremd. Die beiden sind Vettern, gleichermaßen davon besessen,
die biologische Keimform der menschlichen Individualität zu ergründen. Iwan studiert Mathematik, Klim Biologie
und Landwirtschaftswissenschaft. Klims Eltern werden Anfang der dreißiger Jahre als "Volksfeinde" hingerichtet,
Iwans Eltern sterben gleich am zweiten Kriegstag im Bombenhagel. Nun haben die beiden nur noch sich... Klim
gelangt während des
Krieges unter mysteriösen Umständen nach
Berlin, Iwan wird Partisan. Nach dem
Krieg
suchen sie einander und finden sich. In jenen Jahren lautet die eiserne Grundregel des Lebens "Nichts gesehen!
Nichts gehört! Keine Ahnung von irgendwas!", "denn das Land wird von Geistesgestörten mit unberechenbarem
Verhalten regiert". Dennoch bleibt Klims und Iwans Forschungsgegenstand unbeirrt die Genetik - tabu im
Sowjetland, weil der neue Sowjetmensch und die mit
ihm zu errichtende Gesellschaft angeblich pädagogisch
voll und ganz formbar ist. Die Ansicht, der Mensch könne nicht beliebig erzogen werden, weil da noch die
Vererbung eine Rolle spiele, gilt als staatsfeindlich, und "das Rätsel von den Unterschieden im Gleichsein
und der Gleichheit im Verschiedenen" existiert ganz einfach nicht. Obwohl in dem Land, in dem
die Männer leben,
Genetik und Parteiideologie unvereinbar sind, geben die beiden Besessenen die Untersuchung des Zellkerns
keinen Augenblick auf. Sie sind deshalb gezwungen, ein abenteuerliches Leben zu führen - unter falschem
Namen und mit falschen Papieren, einer wird zum Rächer (oder müsste man Mörder sagen?). Beide sind nur
deshalb noch am Leben, weil sie in jeder Minute vor der verhassten Lubljanka auf der Hut sind. Kurz vor
Stalins endgültigem Feldzug gegen die
Genetik gelingt es Iwan und Klim endlich, den genetischen Code zu
finden. Absurd - ohne entsprechende Fachliteratur, ohne Labor und ohne Infrastruktur. Ist das von Asolski
als ein Symbol des Widerstandes gedacht? Dem sowjetischen Staat, ihrem erklärten Feind, wollen die beiden
Forscher ihre Ergebnisse nicht überlassen, niemand erfährt also von ihrer Entdeckung. Und so wurden
statt ihrer James Watson und Francis Crick 1962 für das Modell der DNS-Struktur mit dem Nobelpreis geehrt.
Was wäre, wenn Crick und Watson in der Sowjetunion zur Welt gekommen wären - "in einem barbarischen Land, das auf dem besten Weg war, sich selbst ad absurdum zu führen"? Ein Roman über das Leben in Krieg, Terror und Diktatur, wie ich noch keinen beeindruckenderen gelesen habe. Anatoli Asolski, geboren 1930, publizierte erstmals 1965, danach blieb er für zwanzig Jahre aus der literarischen Öffentlichkeit verbannt. Erst seit der Perestroika konnte er seine Erzählungen und Romane in Literaturzeitschriften veröffentlichen. Für Die Zelle - "Gefängnis und Keimform des Lebens" - erhielt er 1997 den begehrten Booker-Preis für russische Literatur. | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 18.01.2002 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 19.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
In Moskau wird dick geläutet und dünn gegessen. | |
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