Belletristik REZENSIONEN

Gruppensex und Rentnerbums...

Gebürtig aus Russland
IPSO FACTO
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 1998, 186 S.

Nun sind sie schon ihrer Zwei: Schriftsteller, die in Russland geboren wurden, nach Frankreich emigrierten und französisch schreiben: Andrë Makine und Jegor Gran.

Jegor Gran ist ein Künstlername. Geboren 1964 in Moskau, emigrierte seine Familie 1973 nach Paris, wo sein Vater, der ein berühmter sowjetischer Dissident war, an der Pariser Sorbonne russische Literatur lehrte. Jegor Gran lebt mit Frau und Kind in Paris.

Der verheiratete Ich-Erzähler von Grans erstem Roman ist von Beruf Paläontologe, ein Spezialist für Pflanzenfresser der Kreidezeit. Nachdem er sich zwanzig Jahre im Paläontologischen Institut abgerackert hat - das Spezialgebiet des Spezialisten ist das vor Millionen Jahren ausgestorbene Ignanodou - soll endlich zum Stellvertretenden Leiter der Pflanzenfresserabteilung befördert werden. Doch für dieses lang ersehnte Ereignis benötigt die Personalabteilung sein Abiturzeugnis. Unseren einundvierzigjährigen pedantischen Musterbürger ist darob nicht bange. Schließlich hat er von der Geburtsurkunde an die vielen Dokumente, Zeugnisse, Kassenbons, Rechnungen, Wahlbenachrichtigungen, Nachweise zur Rentenversicherung, Steuerbescheide, Nahverkehrsformulare, Überweisungsträger, Leistungsverzeichnisse, Jahresabrechnungen, Krankschreibungen, Gesundheitsbescheide, Kontoauszüge, Schreiben vom Finanzamt samt Umschlägen mit Poststempel... all die Jahre lang fein säuberlich alphabetisch abgelegt. Doch, o Graus, bald schon muss er feststellen, dass das Abiturzeugnis weder unter A, wo es hingehört, noch irgendwo sonst zu finden ist. Damit nimmt die Katastrophe ihren Lauf: Unser Romanheld wird verdächtigt, dass alle seine anderen Ausbildungszeugnisse - Universitätsabschlüsse, sein Magister zweiten Grades, die Nachweise über die Praktika in den Sortierzentralen des Ministeriums...- gefälscht sind, er sich die Institutsstelle erschlichen habe. Von den Kollegen wird er fortan gemieden, vom Institut entlassen, von seiner Frau geschieden, von den Eltern verstoßen, von den Schlagzeilen der Presse verfolgt, dem Selbstmord ist er nahe. "Erschreckend, mit welcher Geschwindigkeit man seine moralische Orientierung verliert, wenn ein Schicksalsschlag einen geknickt hat, rasend schnell geht es bergab, in zwei Minuten hatte ich zwanzig Jahre gewissenhafter Arbeit ausgelöscht."*

Es ist ungeheuer ulkig, wenn Jegor Gran das nunmehr chaotische Leben unseres einstmals so gewissenhaften Wissenschaftlers beschreibt, der seines Reifezeugnisses verlustig ging. Mit welch beißendem Spott macht sich Gran über die Gesellschaft lustig, in der die (französische!) Bürokratie auf dem höchsten Sockel steht.

Nur: Warum hat dem Autor dieser sarkastisch-verrückte Stoff für seinen Roman nicht ausgereicht? Warum musste er uns auch noch Gruppensex und Rentnerbums antun, ein fünfjähriges Mädchen sexuell missbrauchen ("...dann spielten wir Trompeter, ich stellte das Instrument, und sie blies aus Leibeskräften, es war köstlich, über allen Verstand") und seine Mutter "vögeln" ("...in dem Kanal wüten, durch den ich in die Welt gekommen bin")?

Gen Schluss eilt die hemmungslose Groteske mit der absurden Fabel direkt auf ein Happyend zu: Unser monologisierender Romanheld wird ein wahrer Held, indem er eine "absolut unbeackerte Marktlücke" entdeckt, die natürlich mit dem verloren gegangenen Abiturzeugnis zusammenhängt. So funktioniert das in diesem Roman voll überdrehter Situationskomik und schwarzem Humor, wenn sich "Glück und solider Charakter paaren".

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

  * Nicht nur im Roman geht es "rasend schnell bergab, wenn ein Schicksalsschlag einen geknickt hat"... Im katholischen Polen ist kein verlorenes Abiturzeugnis der Grund, sondern die Homosexualität des 37 Jahre alten Jacek Adler. Als herauskam, dass er homosexuell ist, ließ sich seine Frau scheiden, seinen Sohn durfte er nicht mehr sehen, die Eltern verstießen ihn, Freunde wandten sich angewidert ab, sein Chef feuerte ihn. ("Berliner Zeitung" vom 19.11.05.)

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Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 07.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Ohne Manieren ist das Pferd eine Kuh.
Sprichwort der Russen

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