Wieser Verlag, Klagenfurt 2003, 251. S.
Nicht allzu oft ist in unseren Landen etwas über den Baltikum-Staat
Estland zu lesen. Da freut es mich besonders, dass in der mehr als
zwei Jahrzehnte alten Reihe EUROPA ERLESEN (Es erschienen bereits über
einhundert Bände.) auch das ehemalige Reval / Tallinn, die Hauptstadt
Estlands, dabei ist; Estlands EU-Beitritt erfolgte 2004 .
Die Herausgeberin Sabine Schmidt hat, belesen und bienenfleißig,
einhundertsechs Beiträge aus über fünf Jahrhunderten zusammen getragen. Auffällig viele Deutsche schreiben über die
Stadt an der Küste des Finnischen Meerbusens, einige Engländer, einige
Franzosen, Holländer, Ungarn, wenige Esten: Erwin
Ōunapuu, Paul-Eerik Rummo, Arma
Thomson, Hanno Kompus, Jaak Jōerüüt,
Arvo Valton, Ene Mihkelson, Merle Karusoo, Viivi Luik, Jaan Kroos* und Mart Laar
scheinen Esten zu sein. Und da wäre ich auch schon bei einer Schwäche dieser
Buchreihe: Man erhält über die Autoren außer den Lebensdaten, sofern
die Herausgeberin sie in Erfahrung bringen konnte, keinerlei
biographische Angaben. Manchmal sind die Verfasser so bekannt -
Fleming, Seume, Herder, Bestushew, Jaan Kroos - dass man sie und ihre
Meinung einordnen kann. Die meisten Autoren jedoch
sind (nur mir?) ganz unbekannt. Es sind ja in Tallinn auch nicht nur Literaten
und Dichter vertreten, die ihre Meinung zu der reizvollen nordischen
Stadt sagen, sondern auch Handlungsreisende, Seefahrer, Journalisten,
Touristen... Manchmal ist aus dem Erscheinungsort des
Quellenverzeichnisses wenigstens zu entschlüsseln, welcher
Nationalität der Autor eventuell angehören könnte.
Bei so unterschiedlichen Aussagen wie
den folgenden möchte man die Autoren doch einordnen können. Da
schreibt zum Beispiel Willy Westen (Nationalität?)1884: "Einige
estnische
Bauern oder Hafenarbeiter mit stumpfen Gesichtern, langen
fahlblonden Haaren, in vor Schmutz farblosen leinenen Kleidern
stierten uns an." Dagegen lese ich von Paul Hunfalvy (Ungar) 1871:
"Aber auch äußerlich unterscheidet sich die Revaler Bevölkerung vorteilhaft von der
[ungarischen] Pester, aus der oft die Zerlumptheit unangenehm
hervorsticht." Was die Autoren anbelangt, so merkt die Herausgeberin
in ihrem Nachwort an, dass die Verfasser aus der DDR unauffindbar
waren, und sie die Lebensdaten deshalb nicht angeben konnte. So sehr
ich mich freue, dass Sabine Schmidt DDR-Verfasser in ihrem Buch
zu Worte kommen lässt, so sehr wundere ich mich über deren
Unauffindbarkeit. Sind da vielleicht eher Berührungsängste
ausschlaggebend gewesen? Für die Kontaktaufnahme hätte eventuell schon
ein Blick in das öffentliche DDR-Telefonbuch weiter geholfen... Oder
eine Anfrage bei irgendeinem DDR-Journalisten. Da hätte es Auskunft
gehagelt z. B über Hans Frosch (Buchautor und Chefreporter der
Illustrierten FREIE WELT), Hans Krumbholz (Buchautor und Redakteur der
Illustrierten FREIE WELT).
Da ich gerade bei kritischen
Anmerkungen bin: Die gold geprägte Schriftgestaltung - das Bibliophile
der kleinen, handlichen Bände unterstreichend - ist mir mit ihrem
Buchstabenschlamassel zu verspielt, unangebracht verspielt. Da ist mal
statt "TALLINN" nur "LINN", mal "TAL", mal "ALL", mal "ALLIN", mal "A", mal nur "LL" zu lesen. Durch diese
Kauderwelsch-Spielerei kommt dann auch mal "TALLIN" mit
einem "N" heraus.
Thematisch steht im Zentrum des Buches
die Stadtbeschreibung von Tallinn ("Dänenstadt"); deutsch hieß die
Hauptstadt Estlands Reval, russisch Rewel: "Schon in weiter Ferne von der Küste sieht man den 140 m hohen
Olaithurm von Reval, gleich einem mächtigen Pharus, am Horizont
auftauchen. Wenn das Dampfschiff endlich selbst in die Bucht einlenkt,
wird man bei dem Anblick der reizenden Ufer derselben angenehm
überrascht: an einer Seite erhebt sich die altertümliche Stadt mit
ihren Kirchen und Thürmen, an der andern zieht sich ein Kranz
freundlicher Landhäuser und Gärtchen hin. - Die Einwohner von Reval
vergleichen diese Bucht des Finnischen Meerbusens mit dem Golf von
Neapel." (H. v. Lankenau / L. v. Oelsnitz, 1876). Oder: "Tallinn will
erwandert sein. Nur dann zeigen sich Ihnen die Fassaden und Giebel,
Türme und Erker, Fenster und Portale in ihrer ganzen Pracht; Sie
werden den als Löwenhaupt gestalteten Türklopfer so wenig übersehen
wie das Zunftzeichen, die vergoldete Brezel, oder den kunstreichen
Wasserspeier am Dach." (H. Frosch, 1975).
Es folgen die Menschen, Esten,
Deutsche, Russen...: "Die Revalschen Ehsten, die ich genau
kenne, halte ich im Ganzen genommen, für ein ehrwürdiges Volk, das
Muth und edles Selbstgefühl im Stillen in seiner Brust nährt."
(Wilhelm Christian Friebe, 1794). Oder: "Schon das Aeußere der Ehsten
kündigt höhre Energie des Charakters an. Weit entfernt, sich den
teutschen Sitten, wenigstens soweit es ihre dürftige Lage erlaubt,
anzuschmiegen, halten sie es mit keckem Nationalstolz. Ein Esthe oder
sein Weib im Putze ist ein so auffallender Anblick, daß kein
aufmerksamer Fremder unterlassen wird, bei ihm zu verweilen." (Garlieb
Merkel, 1798). Oder:
"Die Deutschen, die zahlreichsten in der Stadt, machen den wohlhabendsten
und angesehendsten Theil der Einwohner aus. (...)
Meistens besteht das Gesinde aus Esthen, die entweder von ihrem Herrn
einem Gusbesitzer abgekauft oder abgemiethet sind, oder auch von
Freigelassenen herstammen. (...) O wenn doch die Menschen dort
bedächten, daß, wenn sie über ihr Gesinde klagen, sie ihre eigenen
Ankläger sind, und daß es nur an ihrer Behandlung liegt, wenn ihr
Gesinde roh, faul und treulos ist. Behandelt die Menschen von Jugend
auf menschlich, so werden sie selbst menschlich werden! (...) Die
Russen, die sich daselbst aufhalten, gehören theils zum
Soldatenstande, teils wirthschaften sie als Schenkwirte in den Krügen,
in welche ein Theil der Matrosen einquartiert wird." (J. Chr. Petri,
1800)
Einen großen Raum nimmt das Wetter und
der Wechsel der Jahreszeiten ein: "Soviel ist wahr, daß unser Sommer
nicht so lang und unser Winter nicht so kurz ist, als der in Sachsen.
Dagegen haben beide Jahreszeiten Annehmlichkeiten, die Sie sich (..)
vergeblich wünschen. - Unter die Annehmlichkeiten des Sommers rechne
ich unter andern die ausnehmend schönen Nächte, die wir zu genießen
haben. Eine geraume Zeit hindurch haben wir gar keine Dunkelheit. Man
kann selbst in der Mitternacht, ohne ein Licht anzuzünden, noch
ziemlich feine Schrift lesen." (Briefe über Reval, 1781)
Am Schluss des Bandes stehen Texte
über verschiedene politische Wendepunkte und ihre Auswirkungen auf das
Leben in Tallinn: die beginnende Industrialisierung der Stadt, die
Jahre der Estnischen Republik, die Zeit der Rückkehr vieler Esten nach
1945 in ihr nun sowjetisch besetztes Land und schließlich die Singende
Revolution und der Weg Estlands in die (erneute) Unabhängigkeit: "In
den baltischen Ländern endete der Zweite Weltkrieg 1991 mit der
Auflösung der Sowjetunion. Der nationale Aufbruch in Estland wurde
weitgehend getragen von der eigenen Sprache. Sie hatte der
Russifizierung getrotzt und wurde bei der Unabhängigkeit zum Symbol
der wieder erlangten Identität. Das das bisher unterdrückte Estnisch
zur offiziellen Landessprache wurde, hatte Folgen für die russische
Minderheit. Rund ein Drittel der Bewohner Estlands wurden zu illegalen
Einwanderern degradiert, die nur über eine estnische Sprachprüfung
Staatsbürger werden können." (Willy Schenk, 2001)
Wäre das reichhaltige, handliche
Büchlein nicht 2003, sondern 2007 erschienen, wäre hier sicherlich
auch ein Autor abgedruckt, der über den pietätlosen Umzug eines
Sowjetdenkmals aus der Stadtmitte Tallinns auf einen Friedhof
außerhalb der Stadt berichtet hätte; die Protestaktion der Russen
forderte am 27. April 2007 einen Toten, als estnische Polizisten gegen
die meist protestierenden Russen vorgingen.Viele deutsche Zeitungen
berichteten.** Im Buch Tallinn erwähnt Ulrich Knellwolf 1999 -
ganz wertfrei - dieses "mit Blumen geschmückte Denkmal der russischen
Armee".
"Tallinn ist eine wunderschöne Stadt",
schreibt (der Engländer) Robert Seth 1938, als er bereits einige Jahre
mit seiner Familie in Tallinn lebte. "Tallinn ist eine wunderschöne
Stadt", schreibt die Herausgeberin, sich vorrangig auf die Altstadt
beziehend. "Tallinn ist eine wunderschöne Stadt", sage ich, die ich
1991, im Jahr der wiedererlangten Unabhängigkeit Estlands nach Tallinn
reiste, in die unversehrteste Stadtanlage aus der Hansezeit im ganzen
Ostseeraum, die deshalb in die Liste des Weltkulturerbes der Unesco
aufgenommen worden ist. Ich reiste 1993 ohne "Speisekorb und
Flaschenkeller" (Johann Gottfried Seume, 1805) sehr bequem mit dem Bus
durch das Baltikum und wurde nicht "zweymal in den Koth geworfen" und
hatte keine "Unfälle, welche gewöhnlich mit solchen Reisen verbunden
sind" (A. Swinton, 1788). Schade, dass Tallinn da noch nicht
erschienen war. Es wäre für mich eine informativ-emotionale Reiselektüre
gewesen.
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