Reiseliteratur-Bildbände REZENSIONEN | |
"Wozu um Himmels willen bin ich hierher gekommen?!" | |
Ella Maillart | Über Karakalpakien, Kasachstan, Kirgisien, Usbekistan, |
Turkestan solo Eine abenteuerliche Reise ins Ungewisse | |
Aus dem Französischen von Hans Reisiger Mit 37 Schwarz-Weiß-Fotos SIERRA bei Frederking & Thaler Verlag, München 2001, 383 S. | |
Die in Genf geborene Schweizerin Ella Maillart (1903-1997) ist eine der
großen Frauen-Reisenden unseres Jahrhunderts. Bereits 1930 - ein Jahr
vor Egon Erwin Kisch - brach sie zu ihrer ersten großen Reise in die
Sowjetunion auf, war sechs Monate lang in
Moskau, im
Kaukasus
- in Balkarien und Swanetien -
und am Schwarzen Meer. Für ihr Buch Turkestan
solo reiste sie 1932, neunundzwanzig Jahre alt, sechs Monate nach Turkestan; sie
weilte auf dieser Reise in
Kirgisien,
in Kasachstan, in
Usbekistan, in Karakalpakien. Zu jener Zeit kann sie viele aufregende Seiten ihres
Buches allein damit füllen, wie es ihr gelang, von
Moskau aus in die für
damalige Verhältnisse so abgelegenen Gebiete zu gelangen. Die Maillart
kann segeln (1924 nahm sie an den Olympischen Spielen in Paris teil),
Ski fahren, reiten, hungern, Strapazen aushalten, sich an die
primitivsten Lebensverhältnisse anpassen, mit den unterschiedlichsten Menschen umgehen,
russisch
sprechen, mit den kleinsten
Rubelbeträgen auskommen, zu Fuß weiter klettern, wenn den Pferden schon
die Beine zittern... Ungeheuer resolut macht es ihr auch nichts aus,
Ängste zu offenbaren: "Ich zittere bei der geringsten Schwierigkeit vor
Angst und frage mich nur immerzu: "Wozu um Himmels willen bin ich
hierher gekommen?!"
Mit achtzehn Jahren hatte die Maillart angefangen, ihrer Sehnsucht nach fernen Zielen freien Lauf zu lassen. Am meisten interessierte sie in ihrem Leben Asien (Mittelasien, China, Kaschmir, Afghanistan), das sie fünfmal aufsuchte. Globetrotterin? Abenteuerin? Aussteigerin? Alles zusammen, am meisten aber wohl Aussteigerin: " (...) in meinem Heimatland bleiben konnte ich nicht. (...) und ich konnte in dieser muffigen Atmosphäre nicht atmen. Ein Weltkrieg hatte den Kontinent um den Verstand gebracht, Ungeist regierte allenthalben - warum sollte ich daran beteiligt sein? Warum sollte ich nicht nach angenehmeren Aufenthaltsorten suchen?" Noch mit achtzig Jahren bereiste Ella Maillart Nepal und Tibet; 1989 wurde ihr in Paris der Preis der Alexandra-David-Néel-Stiftung für ihr Verständnis der asiatischen Kulturkreise verliehen. Von ihren diversen Büchern (zum Beispiel "Geliebte Seidenpfote", Eine Reise durch Indien mit einer Katze als Kameradin [unter dem Titel "Ti-Puss" beim Berliner Verlag Matthes & Seitz erschienen]) waren Turkestan solo und "Verbotene Reise" (durch den wilden Westen Chinas) ihre bekanntesten. In Turkestan solo, inzwischen ein Klassiker der Reiseliteratur, durchstreift sie in Kirgisien mit russischen Freunden die Hochebene sowie die Tien-Chan-Berge, lebt unter primitivsten Bedingungen in Jurtensiedlungen der kirgisischen Nomaden, überwindet mit dem Pferd über viertausend Meter hohe Pässe und erklimmt mit Skiern einen Fünftausender. Im kasachischen Alma-Ata (heute Almaty) trennt sie sich von ihren Begleitern und reist allein weiter nach Usbekistan - ins sagenumwobene Samarkand, ins exotische Buchara und ins märchenhafte Chiwa. Hier wird sie überall gefragt, wo denn ihr Mann sei. Die Leute hier können sich "nicht vorstellen, daß eine Frau ohne ihren Mann reist". [Mich erinnert diese Bemerkung der Maillart an meine Journalistenreise durch Burjatien in Westsibirien. Im buddhistischen Kloster von Iwolginsk wunderte sich der Bandido Chambo Oberlama sehr, wie ich Mann und Kind alleine in der Heimat lassen konnte...] Eine 500 Kilometer lange Tour per Kamel durch die Wüste Kysyl Kum (Roter Sand) bei bis zu 30 Minusgraden beendet die abenteuerliche Reise der Maillart durch Mittelasien. Ich frage mich, wie und wann sich die Maillart bei den strapaziösen Reisebedingungen Notizen machen konnte. Bestimmt ist sie oft nicht dazu gekommen, musste sich ihre Erlebnisse "in den Kopf prägen". Doch selten habe ich so detaillierte Beschreibungen über Menschen, Tiere, Landschaften gelesen; den Gesichtsausdruck so manches Kamels - unglücklich, traurig, allah-ergeben - sieht man buchstäblich vor sich. Auch wenn man beim Lesen nicht wüsste, wer der Autor des Buches ist, man spürt, dass es eine Frau ist. Ella Maillart bestätigt meine Wahrnehmung, wenn sie schreibt: "Als ich mit meinem Freund Peter Fleming durch Asien reiste, hatten wir monatelang nur einander als Gesprächspartner, und wir legten dieselbe Strecke zurück. Trotzdem war meine Reise ganz anders als die seine." Turkestan solo ist noch heute ein faszinierender Reisebericht über eine im Umbruch befindliche Region und: ein historisch interessantes Dokument, auch im Zusammenhang mit dem neuerlichen Umbruch in den ehemaligen sowjetischen Ländern Mittelasiens. Es wundert, dass der Verlag bei dieser neuesten Taschenbuchausgabe (Die erste deutsche Ausgabe erschien 1941 im Rowohlt Verlag, Berlin) neben den veralteten geographischen Angaben nicht die heute gültigen (etwa durch Fußnoten) nennt, zum Beispiel statt Khorezm - Choresm, statt Bochara - Buchara, statt Khiwa - Chiwa... Und: Ein Dorf heißt bei den Kaukasiern Aul, was Ella Maillart von ihrer Kaukasusreise sicherlich weiß, aber ein Dorf oder eine kleine Ansiedlung in Mittelasien heißt Ail, das steht im vorliegenden Buch leider immer falsch; der weltberühmte kyrgysische Schriftsteller Tschingis Aitmatow zum Beispiel wurde in dem Ail Scheker geboren. | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de 1 Die (etwa 66 300) Balkaren leben in in der Kabardinisch-Balkarischen Autonomen Republik, zur Russischen Föderativen Republik gehörig; die Hauptstadt ist Naltschik. Das Balkarische gehört zur kiptschakischen Gruppe der westlichen Türksprachen. - Die gläubigen Balkaren sind sunnitische Muslime. | |
Weitere Rezensionen zum Thema "Kasachstan": | |
| |
Weitere Rezensionen zum Thema "Kyrgysstan (Kirgisien)": | |
| |
Weitere Rezensionen zum Thema "Usbekistan": | |
Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 28.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Eine Frau, die um Feuer für den Herd bittet, hat für dreißig Münder Worte. | |
Sprichwort der Karakalpaken |
[ | zurück | | | | | nach oben | ] |