Belletristik REZENSIONEN

Sanft und rotzig...

Russe (und französische Staatsbürgerschaft)
Fuck off, Amerika
Deutsch von Jürgen Bavendam
Mit einem Nachwort von Kerstin Holm
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004, 279 S.

Ich war sehr neugierig auf den russischen Skandalautor Eduard Limonow (eigentlich: Eduard Sawenko). Es hatte sich auf der Frankfurter Buchmesse 2003 herumgesprochen, dass er an der Podiumsdiskussion über das heutige Russland teilnehmen würde. Aber: Pustekuchen. Der Autor hatte statt selbst zu erscheinen, einen Brief geschickt, der verlesen wurde. Der bekannte Kultautor, ehemaliger Herausgeber der Zeitschrift "Limonka" (Handgranate), Führer einer nationalbolschewistischen Partei*, bis vor kurzem inhaftiert wegen terroristischer Umtriebe in Kasachstan und wegen unerlaubten Waffenbesitzes ("Ich liebe Waffen über alles, solange ich zurückdenken kann, und habe bereits als ganz kleiner Junge vor Freude fast die Besinnung verloren, wenn ich den NKWD-Revolver meines Vaters anfassen durfte.") - schwang große Worte. Er habe Angst, schrieb er, nach Frankfurt zu kommen, weil er befürchte, dass ihm die Wiedereinreise nach Moskau verwehrt würde; denn über Russland habe sich die "Nacht der Unfreiheit und der staatlichen Gewalt gelegt". Limonow bat die Veranstalter darum, das Russland-Jahr bei der Messe zu annullieren. "Verzichten Sie auf diese unangemessene Demonstration der Freundschaft."

Eduard Limonow (Er lässt sich auch gern Editschka oder Edward nennen.), wurde 1944 als Sohn eines russischen NKWD-Offiziers und einer ukrainischen Mutter geboren (hat auch noch tatarisches und ossetisches Blut in den Adern) und verbrachte seine Kindheit und Jugend in der ostukrainischen Industriestadt Charkow. "Als ich elf Jahre alt war, rückte ich mehrmals von zu Hause aus und durchstreifte weite Teile Russlands." Limonow begann mit fünfzehn Jahren, Gedichte zu schreiben. "Zur gleichen Zeit startete ich auch meine kriminelle Karriere als Dieb und Einbrecher." Bis zu seinem 21. Lebensjahr betrachtete er sich selbst als Berufsverbrecher. Dann aber kriegte er es mit der Angst zu tun, als sein bester Freund verhaftet und zum Tode verurteilt wurde. 1967 ging er nach Moskau, wo er schon nach kurzer Zeit als Underground-Dichter bekannt wurde. Zwischen 1967 und 1974 wurden von ihm im "Samisdat" (Selbstverlag) acht Gedichtbände verbreitet. "Ich verkaufte sie selbst für 5 Rubel das Stück." Seit 1972 wurden Gedichte von ihm auch in ausländischen Literaturzeitschriften gedruckt: in Spanien, Österreich, Italien und der Schweiz. 1973 war Limonow vom KGB verhaftet und 1974 gezwungen worden, Russland zu verlassen. Über Österreich und Italien kam er nach New York. Dort arbeitete er - wie zuvor auch in der UdSSR - als Bauarbeiter, Möbelträger, Kellner, Schneider, Anstreicher, Hausmeister. Für Ljudmila Ulitzkaja ist er "ein sehr begabter Schriftsteller und ein sehr bornierter Neofaschist. Er ist ein Provokateur, und wir brauchen Provokateure, weil sie uns zum Nachdenken und zum Meinungsstreit zwingen."

Für seinen ersten Roman Fuck off, Amerika fand Limonow in Amerika keinen Verleger, er fuhr nach Paris. Dort gelang es ihm, sein Manuskript zu veröffentlichen. Schon wenig später erschien sein Roman auch noch in anderen Ländern, überall bekam das Buch einen anderen Titel. In Frankreich hieß es umständlich "Der kleine Russe steht auf große Schwarze", in Russland ein wenig pathetisch "Ich bin`s Limonow", in England und Deutschland nannte man es - kritisch - "Fuck off Amerika". In den USA erschien das Buch 1979, es erzählt, "wie es mir als Dissidenten-Greenhorn nach meiner Ankunft im vermeintlich `Goldenen Westen´ ergangen ist". Es ist Eduard Limonow in den Staaten nicht gut ergangen. Als ihn seine zweite Frau Helena, das "allzu hübsche, nuttige kleine, russische Mädchen" wegen eines "reichen Sohnes des bürgerlichen Westens" verlässt, schneidet er sich (dreimal) die Pulsadern auf. Ein Freund rettet ihn. Danach bekommt unser fast vierzigjähriger Ich-Held "welfere" (Wohlfahrtshilfe); irrt durch die Straßen, flüchtet in die Welt der Tagediebe und Herumtreiber, haust in einer schäbigen Absteige, führt Gelegenheitsarbeiten aus. Nichts hat vor Limonows scharfer Zunge Bestand: nicht der "todlangweilige Tschechow", nicht die amerikanische Linke, nicht die "Millionärssäcke", nicht die Frauen, deren "Möse" nicht so gierig ist wie sein "Schwanz". Über sein Leben in New York schreibt er: "Das hier ist die Hölle. New York ist eine Stadt von Verrückten. Ich habe es satt, am Hungertuch zu nagen. Diese Freiheit hier ist doch Scheiße. Versuch nur mal, an deiner Arbeitsstelle zu sagen, was du denkst. Ehe du dich versiehst, bist du gefeuert." - "Meine Seele litt darunter, daß ein dahergelaufener Roschdestwenski in Millionenauflagen erschien, während von meinen Gedichten nicht ein einziges regulär veröffentlicht wurde. Steckt euch euer System doch in den Arsch, sagte ich mir. (...) Inzwischen habe ich erkannt, daß es sich überall gleich schwer atmet." - "Was ich in erster Linie hasse, ist dieses System, begriff ich, als ich versuchte, mich selbst klarer zu sehen, dieses System, daß die Menschen von Geburt an pervertiert. Ich mache keinen Unterschied zwischen der UdSSR und Amerika." Jossif Brodski, so schreibt Limonow, habe ihm einmal "wodkatrinkend" gesagt: "In diesem Land braucht man eine Elefantenhaut. Ich habe eine, du aber nicht." Trotzdem, meint Limonow, war Brodski unglücklich, weil er sich den herrschenden Gesetzen unterworfen hatte - das er daheim nie getan hatte."

Hinter Limonows Ansichten und seiner rotzigen Schreibart verbirgt sich auch "ein extremes Bedürfnis nach Liebe". Es darf bei Limonow durchaus auch die zu einem Mann sein... Über Helena, die zu ihm noch losen Kontakt hält, grübelt er: "Sie weiß nicht, was Liebe ist. Sie weiß nicht, daß man jemanden lieben kann, ihn vermissen, ihn retten, ihn aus dem Gefängnis holen oder von seiner Krankheit heilen, seine Haare streicheln, ihm ein Tuch um den Hals binden oder ihm, wie in der Bibel, die Füße waschen und sie mit den Haaren trocknen kann. Niemand hat ihr je etwas über dieses Geschenk Gottes, die Liebe, gesagt." Und über sich: "Vergeßt nicht, in welchem Milieu ich aufgewachsen bin. Es ist ein Milieu, in dem Liebe und Blut zusammengehören, in dem das Wort `betrügen´ gleich vor dem Wort `Messer´ steht."

Ich finde: Eduard Limonow ist sowohl ein überaus anmaßender als auch ein sehr zartfühlender Autor. In all dem verdreckten, versoffenen, verhurten Wirrwarr seines amerikanischen Lebens gelingt ihm der Satz "Ohne Güte ist der Mensch nicht mehr wert als ein Haufen Scheiße." Limonow schreibt mal trotzig ("Es ist trotz allem noch immer eine viel größere Ehre, dem Sowjetischen Schriftstellerverband anzugehören, als Professor an einem eurer tausend Colleges zu sein."), mal rotzig, mal obszön, mal zärtlich und liebevoll. Doch gerade, wenn man beginnt, ihn zu mögen, wird er gar zu flapsig. Auf alle Fälle lässt er uns wissen, dass er seine Heimat gegen seinen Willen verlassen, und dass er eine Unfreiheit gegen die andere eingetaucht hat.  "Wir dachten, die Sowjetunion sei das Paradies der Mittelmäßigkeit, doch in Amerika wisse man Begabung zu schätzen. Welch ein Irrtum! Dort herrscht das ideologische Kalkül, hier das kommerzielle."

1980 ging Limonow - dessen Mutter ein Leben lang Putzfrau war - nach Paris, zu Zeiten von Perestroika und Glasnost kehrte er nach Russland zurück. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und deren Folgekrisen erforderten Editschkas ganzen Heldenmut. Er erklärte sich zum sowjetischen Patrioten, der das Imperium wiederherstellen wollte. "Vor allem aber", schreibt Kerstin Holm in ihrem Nachwort, "konnte er an den Kriegs- beziehungsweise Bürgerkriegs-Schauplätzen von Serbien, Transnistrien und Abchasien endlich den ersehnten Pulverdampf atmen." Und: "Seine bezwingende Leuchtkraft gewinnt dieses Buch durch das tief verletzte, heiße Herz seines Autors, der darin den Verlust seiner großen Liebe abarbeitet." Und: durch seinen ungeheuren Ingrimm, mit dem er sein Leben in Amerika schildert.

Kopfschüttelnd nimmt der Leser zur Kenntnis, dass sowohl im Text über den Autor als auch im Nachwort steht, dass Eduard Limonow 1943 geboren wurde, obwohl "Der Autor über sich selbst" im selben Buch schreibt, dass er 1944 das Licht der Welt erblickte. Kopfschütteln auch, wenn die Übersetzerin nicht weiß, dass es UdSSR (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken) heißt, nicht UDSSR (S. 28).

2012 erscheint im Berliner Verlag Matthes & Seitz von Emmanuel Carrère die Biographie "Limonow, das Porträt eines exzentrischen Abenteurers – zugleich ein Blick auf fünfzig Jahre russische Geschichte. Emmanuel Carrère: "Er selbst sieht sich als Helden, man kann ihn aber auch als einen Drecksack betrachten. Ich selbst behalte mir mein Urteil vor." Ich auch, denn inzwischen habe ich die aufregende Biographie gelesen...


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 * Die russische Tageszeitung "Kommersant" handelte sich im April 2007 eine Verwarnung der staatlichen Medienkontrollbehörde ein. Sie hatte die Nationalbolschewistische Partei Russlands beim Namen genannt. Die Partei des russischen Schriftstellers Eduard Limonow gilt der Staatsanwaltschaft als extremistische Organisation. Eine entsprechende Klage wird vor dem Moskauer Stadtgericht verhandelt. Aus dem landesweiten Parteienregister gestrichen, sind die "Nazboli" schon längst. Und also kann über eine Partei, die nicht mehr existiert, nicht berichtet werden. Eduard Limonows muntere Agitprop-Gruppe ist zwar im russischen Staatsfernsehen nicht präsent, aber ihre Aktionen sind dennoch bekannt. Im lockeren Zusammenschluss der so genannten Nicht-Einverstandenen (oppositionelle Parteien und Organisationen wie der bürgerlich-liberalen "Vereinigten Bürgerfront" von Schachweltmeister Gari Kasparow oder der "Volksdemokratischen Union" von Ex-Premier Michail Kassjanow) sind die Nationalbolschewisten die provokativen Außenseiter. "Piss nicht in die Hosen - werde Nationalbolschewist", ist ihr Slogan.

 

Weitere Rezensionen zu "Einstige `Samizdat´-Literaten":

  • Günter Hirt / Sascha Wonders (Hrsg.), Präprintium. Moskauer Bücher aus dem Samizdat.
  • Alexander Prigow, Lebt in Moskau!
  • Vladimir Sorokin, Die Schlange.
  • Vladimir Sorokin, LJOD. DAS EIS.
  • Vladimir Sorokin, Norma.
Weitere Rezensionen zum Thema "Exilschriftsteller":

  • Nina Berberova, Ich komme aus St. Petersburg.
  • Nina Berberova, Das Buch vom dreifachen Glück.
  • Nina Berberova, Der Lakai und die Hure.
  • Nina Berberova, Das schwarze Übel.
  • Nina Berberova, Die Damen aus St. Petersburg.
  • Joseph Brodsky, Haltestelle in der Wüste. Gedichte.
  • Iwan Bunin, Liebe und andere Unglücksfälle.
  • Iwan Bunin, Mitjas Liebe.
  • David Burliuk / Wladimir Majakowski, Cityfrau. Futuristische Gedichte.
  • Jegor Gran, IPSO FACTO.
  • Jelena Koschina, Durch die brennende Steppe.
  • Alexander Kuprin, Die schöne Olessja.
  • Medina Mamleew, Ich öffne meine ganze Seele.
  • Vladimir Nabokov, Die Venezianerin.
  • Vladimir Nabokov, Lolita.
  • Vladimir Nabokov, Lolita, Hörbuch.
  • Vladimir Nabokov, Pnin, Hörbuch.
  • Boris Nossik, Vladimir Nabokov. Eine Biographie.
  • Alexander Pjatigorski, Erinnerung an einen fremden Mann.
  • Solomon Wolkow (Hrsg.), Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch.
Weitere Rezensionen zum Thema: "Viel Alkohol":

Am 10.06.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 23.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Jeder  findet den Freund, den er verdient.
Sprichwort der Russen

 [  zurück  |  drucken  |  nach oben  ]