Sachbuch REZENSIONEN

Vom kleinen Rowdy zum Ural-Oligarchen

Russin
In Putins Russland
Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit und Ulrike Zemme
DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2004, 314 S.

Anna Politkovskajas Buch In Putins Russland  ist dazu angetan, an einem Land, das man von vielen Dienstreisen mag, zu verzweifeln - es desillusioniert ungeheuerlich!

Die regimekritische russische Autorin beginnt ihr erschütterndes Buch mit "Die Armee meines Landes und die Soldatenmütter". Gerade hatte ich von Arkadi Babtschenko "Die Farbe des Krieges" gelesen, ein an Herz und Nieren gehendes eigenes Erleben des Tschetschenien-Krieges. Was dort subjektiv über die prügelnde, korrupte russische Armee geschrieben steht, wird hier objektiv mit vielen Fakten an Fallbeispielen dargestellt. Babtschenko selbst ist von Altgedienten, "Großväter" geheißen, so verprügelt worden, dass er kaum noch atmen konnte. 2002, schreibt Anna Politkovskaja, seien fünfhundert Armeeangehörige - die Größenordnung eines Bataillons - durch Schläge ihrer Vorgesetzten umgekommen. Detailreich mit minutiösen Fakten und wörtlichen Aktenvermerken berichtet die Autorin in diesem Kapitel auch über den Oberleutnant Pawel Lewurda, der im zweiten Tschetschenien-Krieg (2000-2002) auf dem Schlachtfeld "vergessen wurde". Als die Eltern die Nachricht vom Tod ihres einzigen Sohnes erhalten, warten sie voller Trauer auf die Gebeine ihres Sohnes, um ihn beerdigen zu können. Aber nichts geschieht, und niemand weiß, wo der Tote "verloren gegangen" ist. Die Mutter rennt von Instanz zu Instanz, reist von Ort zu Ort, auch nach Rostow am Don. "Ich bin sofort zum gerichtsmedizinischen Labor gegangen. Der Eingang dort wird nicht bewacht, also bin ich weiter, hinein in den erstbesten Untersuchungsraum, und da war auf dem Tisch des Gerichtsmediziners ein vom Körper abgetrennter Kopf aufgestellt. Genauer gesagt, ein Schädel. Aber ich habe sofort gewusst, dass es Paschas Kopf ist." Pawels Mutter wird mit Medikamenten ins Leben zurückgeholt...
In "Russlands neues Mittelalter oder allenthalben Kriegsverbrecher" schreibt Anna Politkovskaja u. a. über den russischen Oberst Juri Budanow, der die achtzehnjährige Tschetschenin Elsa Kungajewa aus ihrem Elternhaus in der Siedlung Tangi-Tschu entführte, vergewaltigte und mit eigenen Händen erdrosselte. Der "Fall Budanow" beginnt im März 2002 und endet im Juli 2003: Budanow muss zehn Jahre Haft in einem Arbeitslager mit strengen Haftbedingungen verbüßen. (Auch die deutsche Presse berichtete über diesen Fall.) Aber ehe es dazu kam, gab es manipulierte Anklageschriften, kuriose gerichtsmedizinische Gutachten, verlogene Zeugenaussagen, voreingenommene Richter... Mich konsternierte am meisten, dass ein psychiatrisches Gutachten von Prof. Dr. Tamara Petschernikowa stammt, die schon zu Sowjetzeiten Dissidenten in die Psychiatrie sperrte, z. B. Alexander Ginsburg.

In "Provinzgeschichten und wie Staatsorgane helfen, staatliches Eigentum kriminell umzuverteilen" wird dargestellt, wie in Jekaterinburg ("Eine Stadt fest in der Hand der Mafia.") Paschka Fedulew von einem kleinen Rowdy, Erpresser und Gewalttäter zum Ural-Oligarchen aufsteigt. Was man bei Alexandra Marinina und Polina Daschkowa als Kriminalromane lesen kann, hier ist es Wirklichkeit - im heutigen Russland des 21. Jahrhunderts: Bestechung, Erpressung, Auftragsmorde, Mafia, Bodyguards, gewaltsame Besetzung von Betrieben, Kauf der Miliz und der Rechtsorgane; unbestechliche Richter werden auf offener Straße mit Stahlruten zusammengeschlagen. Paschka Fedulew ist auf dem Höhepunkt seiner Macht, als er aus einem Jeep steigt, "ein mittelgroßer, unscheinbarer Mann, in feinem Anzug, mit teurer Brille und Goldkettchen an Hals und Handgelenken. Dem Augenschein nach ein typischer neuer Russe mit den Spuren eines mehrtägigen Gelages im Gesicht." Ja, die Journalistin Anna Politkovskaja hatte durchaus schriftstellerische Talente, wie man auch in ihrem Kapitel "Tanja, Mischa, Lena, Rinat... was ist aus uns geworden?" erkennt.

Tanja, eine alte Freundin der Autorin, arbeitete zu Sowjetzeiten für wenig Geld als Ingenieurin in einem Forschungsinstitut, führte in einer Gemeinschaftswohnung mit den Eltern und Verwandten ihres Mannes ein "bedrückendes" Leben. Als die Marktwirtschaft anbricht, steht Tanja von sechs Uhr morgens bis dreiundzwanzig Uhr auf dem Markt... Heute gehören ihr einige Supermärkte, trägt sie Brillanten im Ohr. - Mischa, der Mann der Freundin Lena, "einer der begabtesten Menschen, die ich je gekannt habe", kommt mit der neuen Ära nicht zurande, wird gekündigt, geschieden, fängt an zu trinken, bringt im Rausch eine Frau um, landet in einer Arbeitskolonie in Mordwinien2, will Mönch werden, weil er es "draußen" nicht mehr aushält. Doch es gelingt Mischa nicht, ins Kloster zu kommen, weil "die Gottesdienerschaft der russisch-orthodoxen Kirche nicht anders arbeitet als unsere Staatsdiener, dieselbe Gleichgültigkeit gegenüber allem, was nicht unmittelbar die eigenen Interessen betrifft". Mischa wirft sich in der Metro vor einen Zug, wird in einem anonymen Armengrab beigesetzt. - Rinat ist seinem Dienstrang nach Major, spricht mehrere asiatische Sprachen. Sein Spezialgebiet ist die militärische Aufklärung, er hat viele Orden und Medaillen bekommen. Er war in Afghanistan, hat sich dann in tadshikische Banden in den Bergen und an der afghanisch-tadshikischen Grenze einschleusen lassen, jahrelang ihren Drogenhandel ausgekundschaftet und viel dazu beigetragen, die Rauschgiftgangster dingfest zu machen. Natürlich war er auch im ersten und zweiten Tschetschenien-Krieg. Nun, da er ein Magengeschwür, ein Geschwür am Zwölffingerdarm, ein zerrüttetes Nervensystem, schmerzende Gelenke und nach mehreren Kopfverletzungen Hirnspasmen hat, lebt er mit seinem fünfzehnjährigen Sohn Edik in einem Verschlag, denn der Staat schert sich um "solche wie Rinat einen Dreck. Unter Putin hat der Staat aufgehört, sich um aus den Kriegen heimkehrende Offiziere zu kümmern."

In "`Nord-Ost´: Die jüngste Geschichte der Zerstörung" geht es um das uns noch erinnerliche Geiseldrama im Moskauer Musical-Theater. Anna Politkovskaja berichtet von den etwa achthundert Geiseln und dem Gas-Tod von über hundert Menschen bei der Erstürmung des Theaters. "Das geheime militärische Gas", behauptet sie, "wählte, wie wir jetzt genau wissen, der Präsident persönlich aus." Leider behauptet die investigative [enthüllende] Journalistin diese Annahme nur, ohne diese schwerwiegende Beschuldigung auch zu beweisen! Zwar vermerkt Anna Politkovskaja in ihrer Vorrede, dass es sich bei ihrem Buch lediglich um "emotionelle Randnotizen zu unserem Leben im heutigen Russland" handelt, aber der folgende Buchtext ist dann doch alles andere als nur eine "emotionale Randnotiz" - außer vielleicht das Kapitel "Akaki Akakijewitsch Putin-2", in dem die Politkovskaja Wladimir Putin (unzulässig, wie mir scheint)  mit dem unscheinbaren kleinen Beamten in Gogols Novelle "Der Mantel" vergleicht.

"Ich mag russische Bücher eigentlich nicht, die nicht in Russland erscheinen", zitiert Hans-Dieter Schütt eine Journalisten-Kollegin. Ich eigentlich auch nicht. Schon gar nicht, wenn ich dazu auch noch die Verlagsnotiz lese, dass In Putins Russland  extra für den "Westen" von Anna Politkovskaja verfasst wurde. "Manchmal ist es ja schon ein bestimmter Ton, der einen misstrauisch werden lässt", schreibt Schütt (im "Neuen Deutschland" vom 18.03.05). "Man schlägt dieses Buch auf und stößt zum Beispiel zufällig auf den Satz, KPdSU-Chef Andropow sei "blutrünstig" gewesen. Das ist er, der Ton, der eher nach Markt klingt als nach Wahrheit." Ich zitiere diese Zeilen hier, weil auch ich "den Ton" an vielen Stellen des Buches als  unangebracht empfunden habe... Andererseits benennt die vielmals ausgezeichnete Journalistin soviel Ungeheuerliches mit Zahlen, Zitaten und Fakten, das man ihr das "Wütendsein" auf die mafiosen Strukturen ihres Landes zubilligen muss. Ich frage mich allerdings, wer ihre Informanten sind? In einem Interview spricht sie z. B. von "vertraulichen Informationen aus dem Inlandsgeheimdienst FSB" und davon, dass Mitglieder der russischen Regierung sich mit ihr im Geheimen trafen - an abgelegenen Orten oder in "geheimen Häusern" - "wie die Spione"- zitiert die russische Journalistin Katja Tichomirowa die Politkovskaja. Auch die tschetschenischen Informanten traf die im Ausland gefeierte und im Inland gefährdete Autorin nur noch im Verborgenen. "Wer sie zuvor noch beherbergt und bewirtet hatte, wollte das nun nicht mehr tun, weil die Reporterin als störrische und unbelehrbare Gegnerin des Staates galt." (Tichomirowa)

*

Anna Politkovskaja wurde am 7. Oktober 2006 ermordet, erschossen im Flur ihres Hauses, als sie nach einem Einkauf den Lift besteigen wollte. Wladimir Putin hat zugesagt, den Fall vorbehaltlos aufklären zu lassen. Der Unternehmer und Politiker Alexander Lebedew, Miteigentümer der kritischen "Nowaja Gaseta" (Neue Zeitung) setzte für die Aufklärung des Anschlags eine Belohnung von 25 Millionen Rubel (740 000 Euro) aus. (Mit Anna Politkovskaja sind bereits drei Mitarbeiter des Oppositionsblattes ermordet worden.). Der andere Miteigentümer der Zeitung, der frühere sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow, sprach von einem schweren Schlag für die Pressefreiheit in Russland. "Dies ist ein echter politischer Mord. Ein Racheakt", erklärte Gorbatschow gegenüber der italienischen Zeitung "La Republica". Die russische Journalisten-Union zählte (bis Oktober 2006) 261 ermordete Journalisten. Fast die Hälfte waren Reporter und Redakteure, die mit der "Goldenen Feder Russlands" ausgezeichnet wurden, ein Preis, den auch Anna Politkovskaja für ihre investigative Arbeit erhalten hatte.

Bis heute, bis zum 23. Juli 2007, wurde der Mord an der kompromiss- und furchtlosen achtundvierzigjährigen Journalistin Anna Politkovskaja, Mutter zweier Töchter, nicht aufgeklärt!


Gisela Reller /www.reller-rezensionen.de

Bernd E. Scholz, schreibt am 27.10. 2007 an www.reller-rezensionen.de:

Sehr geehrte Frau Reller,

im Zusammenhang mit der letzten Lesung von Polina Daschkowa in Marburg und Bad Homburg bin ich auf Ihre wirklich eindrucksvolle Webseite gestossen, da ich die Lesung in Bad Homburg für den Verein "Deutsch-Russische Brücke" moderieren sollte... In meiner kurzen Einführung habe ich mir Gedanken gemacht, weshalb die Daschkowa im Gegensatz zur Politovskaja noch am Leben ist. Kriminalromane schreiben ist offenbar in Russland lebensverträglicher als harter investigativer Journalismus.

Gutes Gelingen wünscht Ihnen weiterhin

Bernd E. Scholz

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Am 23.07.2007 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 06.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Der große Bruder des Gewinns ist der Verlust.
Sprichwort der Russen

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