Sachbuch REZENSIONEN

Parallelen im Leben zweier Zaren

Deutscher; über die Russen Iwan IV. und Peter I.
Iwan der Schreckliche / Peter der Große
EVA Duographien, Herausgegeben von Klaus Schröter, Band 4
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1994

"Ja", schreibt Dmitri Schostakowitsch in seiner Autobiographie, "dieser Plutarch, das war ein großer Mann. Seine Parallel-Lebensbeschreibungen sind eine fabelhafte Sache." Eine fabelhafte Sache sind auch die EVA Duographien der Europäischen Verlagsanstalt. Eine Duographie - eine Parallel-Lebensbeschreibung - strebt laut Eigendefinition des Verlages an, die Möglichkeiten und Wechselfälle der Zeit im Spiegel zweier Persönlichkeiten festzuhalten. Bei dieser Duographie handelt es sich bei den beiden Persönlichkeiten um Iwan IV., den Schrecklichen (1530-1584), und Peter I., den Großen (1672-1725). Sie regierten Russland jeweils zu ihrer Zeit und starben beide im 53. Lebensjahr.

Iwan IV. Wassiljewitsch ist mit dem westlichen Epitheton "der Schreckliche" versehen. Aber kein Russe nennt ihn so. Das russische Volk gab seinem Zaren den Beinamen "Grosny". Dieses Prädikat hat eine reichere Bedeutung als die simple Übertragung, die sich im Westen eingebürgert hat. Grosny heißt streng, drohend, grausam, furchtgebietend.  "Ugrosa"  ist  die Drohung, "grosa" das Gewitter. Im 16. Jahrhundert hatte der Beiname "Grosny" einen majestätischen Klang. Auch Peter I. hätte das Volk wohl niemals einen "Großen" genannt, denn das Volk war es, das die ungeheuren Lasten seiner Kriegs- und Reformpolitik zu tragen hatte.

Die Idee, zwei Lebensläufe, die sich in irgendeiner Weise berühren, einander ähneln oder die zeitlich mit ähnlichen biographischen Vorzeichen übereinstimmen, jeweils mit einem Seitenblick auf den anderen zu sehen, ist bestechend und spannend. Und schwierig! Einerseits will der Leser über beide Persönlichkeiten nicht nur das lesen, was er aus anderen Veröffentlichungen bereits kennt, sondern will neue Quellen genutzt wissen. Was nicht ganz einfach ist, wenn der Leser den sehr detailliert recherchierten Roman des russischen Schriftstellers Alexej Tolstoi über Peter I. kennt und das Buch "Iwan der Schreckliche" von Nikita Romanow und Robert Payne gelesen hat. (Romanow, ein in New York lebender und lehrender Geschichtsforscher, ist ein Großneffe des Zaren Nikolaus II. und Payne ein versierter Historiker, der u. a. biographische Bücher über Lenin, Stalin und Dostojewski verfasst hat). Andererseits will der Leser erfahren, wie sich bei ähnlichen Entscheidungen oder Handlungen der eine wie der andere vergleichsweise verhielt. Da muss man als Autor wohl doch auch zu tiefenpsychologischem Spekulieren bereit sein, muss wohl auch seine Phantasie bemühen. Bei der Duographie Majakowski/Eisenstein glaube ich, zu wenig Vergleichendes zu finden, die Duographie Iwan der Schreckliche / Peter der Große ist gelungener. Einige Parallelen zwischen den beiden Zaren: Die berühmte Nemezkaja Sloboda - die Ausländervorstadt Moskaus für westliche Experten - wurde von Iwan IV. gegründet, der junge Zar Peter I. fand hier seine ersten Freunde (und Saufkumpane), auch seine langjährige deutsche Geliebte Anna Mons.- Beide Zaren erlebten schon als Kinder Gewalt und Verrat, beiden gelüstete es nach Rache.- Beide Zaren hatten sadistische Neigungen. Sowohl "der Schreckliche" als auch "der Große" quälten Menschen - aus Gründen absolutistischer Staatsräson, wie sie meinten, um Verschwörungen, vermeintliche oder wirkliche, aufzudecken, oder um Verräter, vermeintliche oder wirkliche, zu bestrafen.- Beide Zaren führten mit gleicher Beharrlichkeit die längsten Kriege, die die russische Geschichte kennt.- Iwan der Schreckliche hat seinen Sohn im Jähzorn getötet; er litt schwer unter seiner Tat. Peter der Schreckliche, pardon, der Große, vernichtete den Zarewitsch, seinen einzigen Sohn, kalten Blutes. Reinhold Neumann-Hoditz zeigt sich bestens informiert, ist zu Spekulationen bereit und hat wahrhaftig eine spannende Parallel-Lebensbeschreibung geschrieben.

Peter der Große identifizierte sich uneingeschränkt mit Iwan dem Schrecklichen. In aller Öffentlichkeit sagte er: "Iwan Wassiljewitsch ist mein Vorgänger und mein Muster. Ich habe ihn mir allezeit zum Modell meiner Regierung in Klugheit und Tapferkeit vorgestellt. Nur die dummen Köpfe, die die Umstände seiner Zeit, seine Nation und seine großen Verdienste für dieselbe nicht verstehen, nennen ihn einen Tyrannen." Womit Zar Peter wohl auch gleich sein Tyranneintum entschuldigt wissen wollte...

Unter Iwan IV., Russlands erstem russischen Zaren, entstand das Großrussische Reich und trat Russland in die europäische Geschichte ein. Unter Zar Peter I. stieg Russland zur europäischen Großmacht auf. Tatbestände, für die die Geschichte alle Gräueltaten verzeiht?

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 

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Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

  
Die Basilius-Kathedrale
in Moskau:
Iwan IV. ließ die Kathedrale
zum Gedenken an seinen
Sieg über die
Tataren errichten.

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