Belletristik REZENSIONEN | |
Groß im Edlen wie im Üblen | |
Daniil Granin | Russe |
Peter der Große | |
Ein Roman über Russlands Glanz und Elend Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt Verlag Volk & Welt, Berlin 2001, 416 S. Daniil Granin veröffentlicht seit fünfzig Jahren und ist u. a. mit Büchern wie "Unser Bataillonskommandeur", "Das Gemälde", "Dem Gewitter entgegen", "Sie nannten ihn Ur" (in der Alt-BRD unter dem Titel "Der Genetiker" erschienen), "Das Blockadebuch" (zusammen mit Ales Adamowitsch) im In- und Ausland bekannt geworden. 1990, nach Perestroika und Glasnost, erschienen von ihm der Roman "Unser werter Roman Awdejewitsch", 1995 der Roman "Flucht nach Rußland", 1999 "Das Jahrhundert der Angst" - ein Erinnerungsbuch über Lüge und Heuchelei, geprägt von Graninscher Ehrlichkeit. Sein neuestes Buch Peter der Große hat einen über achtzig Jahre alten Autor. In dem Alter überlegt man sich schon, welchen Stoff man unbedingt noch literarisch bewältigen will; denn schließlich "sei es gottlos zu leben, ohne auf den Tod gefasst zu sein". Schon lange beabsichtigte Granin, über Zar Peter* zu schreiben. Aber es hinderte ihn der Gedanke, dass zum Beispiel Lew Tolstoi dies schon vorhatte, es dann aber nicht tat. Warum eigentlich nicht? Nachdem Tolstoi seit 1870 umfangreiche geschichtliche Studien betrieben hatte, begann er im Winter 1872/73 mit der Niederschrift seines historischen Romans. Am 7. März 1873 teilte er seinem Dichterfreund Afanassi Feth mit: "Meine Arbeit geht nicht voran." Bald darauf gab er die Arbeit an dem Roman über Peter I. ganz auf. Die Ursachen hierfür sind noch nicht restlos geklärt. Doch soviel wissen wir: Tolstoi fiel es schwer, sich in die Denk- und Fühlweise der Menschen um 1700 hineinzuversetzen. Dazu kam, dass der Charakter Peters I. dem Autor, je länger er sich mit ihm beschäftigte, immer unsympathischer wurde, da er in ihm lediglich einen Vertreter der Gewalt zu erkennen meinte und in der Person und der Tätigkeit Peters - nach dem Zeugnis Pawel Brjukows - "nichts Großes" fand. Auch Puschkin, der Peter den Großen schätzte, hat viel Material über ihn gesammelt, aber schließlich auch kein Prosawerk über ihn geschrieben. Auch Juri Tynjanow und Juri German haben das Thema angepackt. Auch Alexej Tolstoi, der mehr als zweieinhalb Jahrzehnte an seinem Roman schrieb. Maxim Gorki nannte ihn den "ersten echten historischen Roman" der russischen Literatur. Alexej Tolstoi hat sich nach seinem umfangreichen Quellenstudium von der negativen Einschätzung des Zaren gelöst. Besonders beeindruckend finde ich die eingehende Kenntnis des historiografischen, diplomatischen, ikonografischen und ethnografischen Quellenmaterials. Man achte bei der Beschreibung der Hochzeit Peters mit Jewdokija Larionowna auf die vielen zeitgemäßen Details: "Die Braut wurde schon am frühen Morgen in den Palast gebracht und dort angekleidet. Die Stubenmägde, die man zuvor in der Badestube gründlich gewaschen hatte, sangen ununterbrochen, Krönlein auf dem Kopf in pelzbesetzten Jäckchen, mit denen man sie zum Fest versorgt hatte. Während sie sangen, zogen die Bojarinnen und die Brautjungfern der Braut ein feines Hemdchen und Strümpfe an, hierauf ein rotseidenes langes Hemd mit perlenbestickten Manschetten, ein Gewand aus chinesischer Seide mit weiten, bis an den Boden hinabreichenden Ärmeln, die wunderbar mit Gräsern und Tieren besteckt waren, um den Hals legten sie ihr einen mit Diamanten geschmückten Biberkragen, der die Schultern völlig bedeckte und schnürten ihn so fest zu, daß Jewdokija fast der Atem verging. Über das Seidengewand kam ein weites Kleid aus dunkelrotem Tuch mit hundertzwanzig Emailleknöpfen, darüber ein silberdurchwirkter, mit leichtem Pelz gefütterter Umhang und ein schwer mit Perlen bestickter Mantel. Die Finger schmückten sie ihr mit Ringen, die Ohren mit schwer herabhängenden klirrenden Gehängen. Das Haar flochten sie so fest, daß die Braut nicht einmal zu blinzeln vermochte, den Zopf umwanden sie mit zahllosen Bändern, aufs Haupt setzten sie ihr eine hohe Mauerkrone. Gegen drei Uhr war Jewdokija Larionowna bereits mehr tot als lebendig - wachsbleich saß sie auf dem Zobelkissen." Ein solches Monumentalgemälde der petrinschen Epoche mit unwahrscheinlich viel Atmosphäre und Kolorit ist Granins Peter der Große nicht. Granin sagte in einem Interview, dass er mit dem Ergebnis der Arbeit Alexej Tolstois nicht zufrieden sei, ihm der Roman nicht gefalle. Mir gefällt er außerordentlich gut, und ich bedauere sehr, dass er unvollendet geblieben ist. Granins Interesse an Peter - "groß im Edlen wie im Üblen" - gilt nicht allein dem Staatsmann, nicht dem Heerführer, nicht dem Diplomaten, nicht dem Reformator. "Ich wollte", sagt Granin in einem Interview, "die Persönlichkeit erfassen, ich mußte `meinen Peter´ finden." Dafür hat der erfahrene Autor einen sehr brauchbaren Trick angewandt: Er erfindet fünf Petersburger, die sich als Patienten eines kardiologischen Sanatoriums regelmäßig in einem zerfallenen Schloss treffen. Diese fünf älteren Herren mit Herzproblemen sind Professor Jelisar Dmitrijewitsch Tscheljuskin, der sich ansonsten mit Forstschädlingen beschäftigt und jegliches Kleingetier liebt - Käfer, Würmer, auch Kakerlaken; Vitali Vikentjewitsch Molotschow, Mittelschullehrer und Hobbyhistoriker, der sich bereits sein Leben lang mit der petrinschen Epoche beschäftigt; Jewgeni Geraskin, der schon im Gefängnis gesessen hat, heute Fernfahrer ist und zweifelhafte Güter an zweifelhafte Adressen bringt, "der einzige Vertreter der einstigen Majestät, der Arbeiterklasse"; Serjosha Dromow, Maler und Bücherwurm, angestellt bei einem Künstlerverband; der Beamte Anton Ossipowitsch, der an Telepathie, fliegende Untertassen, den Schneemenschen, die Wahrsagungen von Zigeunerinnen glaubt und bei den Zusammenkünften darauf achtet, dass die gesprächigen Fünf gesittet trinken - "mit Trinksprüchen und Anstoßen, ohne Hast, ohne Nötigung". Ein Häuflein Kundiger? Nicht gerade. Aber ein Häuflein Neugieriger mit Molotschow als ihrem kundigen Lehrer. Interessant, wie die anderen vier Gesprächspartner Molotschkows Ansichten widersprechen, manchmal seine Behauptungen "nur" hinterfragen, sie manchmal mit eigenen Kenntnissen relativieren. Dennoch: Das Quintett bleibt das ganze Buch über schemenhaft, ist dem Autor nur Mittel zum Zweck, um seine Gedanken und Überlegungen zu "seinem Peter" zu Papier zu bringen. Als Mittel zum Zweck werden sie auch nicht alle mit Vor-, Vaters- und Familiennamen genannt; von einem erfahren wir nur den Vor- und Vatersnamen, bei einem anderen nur den Namen und Familiennamen. Sie werden bestimmt auch deshalb nicht großartig charakterisiert, um als Buchhelden Peter dem Großen keine unangebrachte Konkurrenz zu machen. Sie sind vom Autor eben nur als dünner Rahmen für diesen Roman gedacht. Eigentlich ist das Buch gar kein richtiger Roman, eher eine groß angelegte Anekdotensammlung über den Zaren Peter. Deshalb auch werden im Buch der Leipziger Anekdotensammler Stählin oft zitiert, und der russische Kaufmann Iwan Golikow, der mit wahrer Besessenheit alles über Peter sammelte, was er bekommen konnte - dreißig Bände umfasste schließlich sein Werk. Jedes der 34 Kapitel von Granins Buch liefert eine historisch interessante Geschichte, oft ausgehend von einer Anekdote. Miteinander verbunden sind diese Kapitel nicht durch eine Fabel, sondern nur durch die fünf sich wegen Peter ereifernden Herren. Das muss nicht jedem Leser gefallen... Leonhard Kossuth schreibt in seiner Rezension in der Zeitschrift "Ossietzky", dass der Roman Peter der Große als Granins bestes Buch gilt und fragt (sich selbst?): Ist dieses Urteil gerecht? Leider beantwortet er seine Frage in seiner Rezension nicht. Unter Peter dem Großen stieg Russland zur europäischen Großmacht auf. Das Bild des Zaren Peter I. wird von Granin nicht idealisiert. Nicht nur sein fanatischer Reformwille, sein Kampf gegen die Korruption, sein aufklärerischer Geist kommen zur Sprache, sondern auch Inkonsequenzen der Reformpläne, Schlampereien und Fehler, Grausamkeiten und Schwächen. Inwiefern ist der Peter des Romans des Autors Peter? "Peter ist schwer zu erfassen", sagt Granin, "weil er Unvereinbares in sich vereinte: Schüchternheit und Hemmungslosigkeit, Grobheit und Takt, Geradlinigkeit und List." Diese sich widersprechenden Charaktereigenschaften erkennen und erörtern die fünf Peter-interessierten Herren - meist kann man herauslesen, welcher Meinung Granin ist. Besonders beeindruckend an Granins Spätwerk ist seine immense Geschichtskenntnis, ist die Verbindung aus Historie und Gegenwart und sind seine grüblerischen Überlegungen über Herrschaft und Willkür, über Staatsräson und Grausamkeit, über Genie und Kleinkariertheit, über die Beziehung Peters zu den Bojaren und zum Volk, über Staatsräson und Grausamkeit... Peter der Große erlebt in Russland bereits die vierte Auflage, demnächst erscheint das Buch in Frankreich. | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de * Der Orden mit dem Namen des Zaren "Peter der Große 1. Klasse mit Schärpe" wurde im Jahre 2005 an Matthias Platzek, Walter Momper und Michels vergeben - für ihren persönlichen Beitrag zur Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen zum 60. Jahrestag der Befreiung Europas von der Naziherrschaft. | |
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Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 04.01.2017. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
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Russische Stickerei: Detail eines Hochzeits-Lakens (19. Jht.). |
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