Belletristik REZENSIONEN

"Im Menschen erwacht der Affe."

Russe
Verfluchte Tage
Ein Revolutionstagebuch
Aus dem Russischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dorothea Trottenberg
und mit einem Nachwort von Thomas Grob
Dörlemann Verlag, Zürich 2005, 259 S.
 

Mit Verfluchte Tage erscheint das Tagebuch Iwan Bunins (1870-1953) aus der Zeit des russischen Bürgerkrieges erstmals in deutscher Sprache. Durch Rückgriffe auf die vorrevolutionäre Zeit und die Tage der Februarrevolution entstand ein Zeitzeugnis, aus dem Bunins ablehnende Haltung gegenüber der Revolution unverhüllt zum Ausdruck kommt. Für ihn ist die Oktoberrevolution eine ästhetische Zumutung, in der der Pöbel regiert: "Im Menschen erwacht der Affe."

Bunins am 1. Januar 1918 (alten Stils) einsetzendes Tagebuch fußt auf den Notizen, die er sich unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse 1818/19 in Moskau und später in Odessa gemacht hat. Thomas Grob schreibt in seinem Nachwort, dass es sich bei Ein Revolutionstagebuch um einen literarisierten Augenzeugenbericht handelt. "Zum Eindringlichsten in diesem Bericht gehören (...)", so meint Grob, "die Beschreibungen des Himmels, des Wetters, von Schnee, Regen und Frühling." Thomas Grob findet, dass diese Beschreibungen die Geschehnisse gänzlich unpathetisch in einen kosmischen Kontext stellen, die scheinbare Umwälzung der Welt relativieren, aber auch der Verzweiflung eine Dimension verleihen, die über das Individuelle hinausgeht. Ich empfinde diese Wetter-Beschreibungen an den meisten Stellen dieses nachempfundenen Tagebuches einfach deplaciert. Ein Beispiel: "Der ehemalige Stabschef General Januschkewitsch ist tot. Er wurde in Tschernigow verhaftet und sollte auf Verfügung des örtlichen Revolutionstribunals nach Petersburg in die Peter-und-Pauls-Festung gebracht werden, begleitet von zwei Rotgardisten. Einer von ihnen tötete den General nachts mit vier Schüssen (...)"

Noch winterlich glitzernder Schnee, aber der Himmel schimmert klarblau und frühlingshaft durch leuchtende Wolkenschleier.

Auf dem Strastnaja-Platz kleben sie ein Plakat für die Benefizvorstellung der Jaworskaja an. Ein dickes rosa Weib mit roten Haaren, boshaft und dreist: `Pah, da kleben sie alles voll! Aber wer scheuert die Wände wieder ab? Und die feinen Leute gehen ins Theater! Denen müßte man das verbieten! Unsereins geht schließlich auch nicht."

Ich empfinde am Eindringlichsten in Bunins Revolutionstagebuch die vielen eingefangenen Stimmen von der Straße; Iwan Bunin, knapp fünfzig Jahre alt, hat den Leuten wahrhaftig "aufs Maul geschaut".

In meinem Archiv finde ich einen Aufsatz von Alexander Twardowski  ("Wassili Tjorkin"), der als einziger den Mut hatte, gegen den Ausschluss Solschenizyns aus dem Schriftstellerverband zu protestieren. Sein Beitrag stammt aus dem Jahre 1966 und ist in der Zeitschrift "Kunst und Literatur" Ausgabe 2 abgedruckt. In diesem Artikel nennt Twardowski Iwan Bunin (pflichtschuldig) einen "reaktionären weißgardistischen Emigranten" und verweist gleichzeitig auf "alles Schöne, was sein Talent hervorgebracht hat".  Twardowski (       ) schreibt darin: "Aber alles hat seine Grenzen. Bunins Schreibereien in der Art seines Tagebuchs von 1917 bis 1919 "Verfluchte Tage", wo die Sprache der Kunst, der anspruchsvolle Realismus, die Wahrheit und Würde der literarischen Schilderung den Künstler einfach im  Stich ließen und nur die verzehrende Wut `seiner Existenz, des Ehrenmitgliedes der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften´ blieb, den die Stürme der Revolution überraschen und ihm fühlbare Unbequemlichkeiten und Nöte bereiteten, diese Schreibereien lehnen wir ganz entschieden ab. (...)"

Die Russische Revolution von 1917 (einst die Große Sozialistische Oktoberrevolution) scheint mir eines der umstrittensten Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Sicherlich hängt die Einschätzung auch davon ab, ob man sie als Beobachter aus der Ferne oder als Betroffener, als Sieger oder als Opfer, als Zeitgenosse oder Nachgeborener betrachtet. Der Zeitgenosse Bunin - letzter Klassiker der russischen Literatur - verzichtet auf jedwede Objektivität, zeigt uneingeschränkt seine Ablehnung - gegenüber der herrschenden Gewalt, der Entwertung des menschlichen Lebens, dem Zerfall jeglicher Umgangsformen. Interessant auch seine Aussagen zu Schriftstellern seiner Zeit:

 

 

 

 

Noch sei die Zeit nicht gekommen, da man die Russische Revolution unvoreingenommen und objektiv betrachten könne, meint Bunin. "Unvoreingenommen! Wirkliche Unvoreingenommenheit wird es ohnehin nie geben. Vor allem aber: Unsere "Voreingenommenheit" wird für den künftigen Historiker außerordentlich wertvoll sein.

Trotz Perestroika, Glasnost und dem Zerfall der Sowjetunion - ganz unvoreingenommen wird die Russische Revolution von 1917 auch heute noch nicht eingeschätzt...

 



Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de 
Weitere Rezensionen zum Thema "Oktoberrevolution":

  • Nina Berberova, Die Damen aus St. Petersburg. Zwei Erzählungen.
  • David Burliuk / Wladimir Majakowski, Cityfrau Futuristische Gedichte.
  • Irina Ehrenburg, So habe ich gelebt. Erinnerungen aus dem 20. Jahrhundert.
  • Michail Gorbatschow, Über mein Land.
  • Richard Lourie, Stalin. Die geheimen Aufzeichnungen des Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili.
  • Leonid Luks, Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin.
  • Medina Mamleew, Ich öffne meine ganze Seele.
  • Anatolij Marienhof, Der rasierte Mann und Zyniker. Zwei Romane.
  • Nikolai Ostrowski, Wie der Stahl gehärtet wurde.
  • Alexander Pjatigorski, Erinnerung an einen fremden Mann.
  • Günter Rosenfeld (Hrsg.), Skoropadskyj, Pavlo. Erinnerungen 1917 bis 1918.
  • Anatoli Rybakow, Die Kinder vom Arbat.
  • Serge Schmemann, Ein Dorf in Rußland. Zwei Jahrhunderte russischer Geschichte.
  • Alexander Solschenizyn, Zweihundert Jahre zusammen. Band 1: Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916.
  • Alexander Solschenizyn, Zweihundert Jahre zusammen. Band 2: Die Juden in der Sowjetunion.
  • Alexander Solschenizyn, Heldenleben. Zwei Erzählungen.
Weitere Rezensionen zu "Tagebücher":

  • Isaak Babel, Tagebuch 1920.
  • Wladimir Gelfand, Deutschland-Tagebuch 1945-1946.
  • Véronique Garros / Natalija Korenewskaja / Thomas Lahusen (Hrsg.), Das wahre Leben. Tagebücher aus der Stalinzeit.

Am         2007 ins Netz gestellt.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Eine K Seele.
Sprichwort der Russen


 [  zurück  |  drucken  |  nach oben