Mit Verfluchte Tage erscheint das Tagebuch Iwan Bunins
(1870-1953) aus der Zeit des russischen Bürgerkrieges erstmals in
deutscher Sprache. Durch Rückgriffe auf die vorrevolutionäre Zeit und
die Tage der Februarrevolution entstand ein Zeitzeugnis, aus dem
Bunins ablehnende Haltung gegenüber der Revolution unverhüllt zum
Ausdruck kommt. Für ihn ist die Oktoberrevolution eine ästhetische
Zumutung, in der der Pöbel regiert: "Im Menschen erwacht der Affe."
Bunins am 1. Januar 1918 (alten Stils) einsetzendes Tagebuch fußt auf
den Notizen, die er sich unter dem unmittelbaren Eindruck der
Ereignisse 1818/19 in Moskau und später in Odessa gemacht hat. Thomas
Grob schreibt in seinem Nachwort, dass es sich bei Ein
Revolutionstagebuch um einen literarisierten Augenzeugenbericht
handelt. "Zum Eindringlichsten in diesem Bericht gehören (...)", so
meint Grob, "die Beschreibungen des Himmels, des Wetters, von Schnee,
Regen und Frühling." Thomas Grob findet, dass diese Beschreibungen die
Geschehnisse gänzlich unpathetisch in einen kosmischen Kontext
stellen, die scheinbare Umwälzung der Welt relativieren, aber auch der
Verzweiflung eine Dimension verleihen, die über das Individuelle
hinausgeht. Ich empfinde diese Wetter-Beschreibungen an den meisten
Stellen dieses nachempfundenen Tagebuches einfach deplaciert. Ein
Beispiel: "Der ehemalige Stabschef General Januschkewitsch ist tot. Er
wurde in Tschernigow verhaftet und sollte auf Verfügung des örtlichen
Revolutionstribunals nach Petersburg in die Peter-und-Pauls-Festung
gebracht werden, begleitet von zwei Rotgardisten. Einer von ihnen
tötete den General nachts mit vier Schüssen (...)"
Noch winterlich glitzernder Schnee, aber der Himmel schimmert klarblau
und frühlingshaft durch leuchtende Wolkenschleier.
Auf dem Strastnaja-Platz kleben sie ein Plakat für die
Benefizvorstellung der Jaworskaja an. Ein dickes rosa Weib mit roten
Haaren, boshaft und dreist: `Pah, da kleben sie alles voll! Aber wer
scheuert die Wände wieder ab? Und die feinen Leute gehen ins Theater!
Denen müßte man das verbieten! Unsereins geht schließlich auch nicht."
Ich empfinde am Eindringlichsten in Bunins Revolutionstagebuch die
vielen eingefangenen Stimmen von der Straße; Iwan Bunin, knapp fünfzig
Jahre alt, hat den Leuten wahrhaftig "aufs Maul geschaut".
In meinem Archiv finde ich einen Aufsatz von Alexander Twardowski ("Wassili
Tjorkin"), der als einziger den Mut hatte, gegen den Ausschluss
Solschenizyns aus dem Schriftstellerverband zu protestieren. Sein
Beitrag stammt aus dem Jahre 1966 und ist in der Zeitschrift "Kunst
und Literatur" Ausgabe 2 abgedruckt. In diesem Artikel nennt
Twardowski Iwan Bunin (pflichtschuldig) einen "reaktionären
weißgardistischen Emigranten" und verweist gleichzeitig auf "alles
Schöne, was sein Talent hervorgebracht hat". Twardowski (
) schreibt darin: "Aber alles hat seine Grenzen. Bunins Schreibereien
in der Art seines Tagebuchs von 1917 bis 1919 "Verfluchte Tage", wo
die Sprache der Kunst, der anspruchsvolle Realismus, die Wahrheit und
Würde der literarischen Schilderung den Künstler einfach im
Stich ließen und nur die verzehrende Wut `seiner Existenz, des
Ehrenmitgliedes der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften´ blieb,
den die Stürme der Revolution überraschen und ihm fühlbare
Unbequemlichkeiten und Nöte bereiteten, diese Schreibereien lehnen wir
ganz entschieden ab. (...)"
Die Russische Revolution von 1917 (einst die Große Sozialistische
Oktoberrevolution) scheint mir eines der umstrittensten Ereignisse des
20. Jahrhunderts. Sicherlich hängt die Einschätzung auch davon ab, ob
man sie als Beobachter aus der Ferne oder als Betroffener, als Sieger
oder als Opfer, als Zeitgenosse oder Nachgeborener betrachtet. Der
Zeitgenosse Bunin - letzter Klassiker der russischen Literatur -
verzichtet auf jedwede Objektivität, zeigt uneingeschränkt seine
Ablehnung - gegenüber der herrschenden Gewalt, der Entwertung des
menschlichen Lebens, dem Zerfall jeglicher Umgangsformen. Interessant
auch seine Aussagen zu Schriftstellern seiner Zeit:
Noch sei die Zeit nicht gekommen, da man die Russische Revolution
unvoreingenommen und objektiv betrachten könne, meint Bunin.
"Unvoreingenommen! Wirkliche Unvoreingenommenheit wird es ohnehin nie
geben. Vor allem aber: Unsere "Voreingenommenheit" wird für den
künftigen Historiker außerordentlich wertvoll sein.
Trotz Perestroika, Glasnost und dem Zerfall der Sowjetunion - ganz
unvoreingenommen wird die Russische Revolution von 1917 auch heute
noch nicht eingeschätzt...
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