Sachbuch REZENSIONEN

Das Trauma Stalingrad

Über Stalingrad
Stalingrad erinnern
Stalingrad im deutschen und russischen Gedächtnis
Übersetzungen aus dem Russischen von Marina Bobrik-Frömke/Jewgeni Simanowitsch

Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst/Christoph Links-Verlag, Berlin 2003, 191 S.

"Wir kennen blutigere Kriegsoperationen des Zweiten Weltkriegs mit weitaus schrecklicheren Verlusten - die Vernichtung mehrerer sowjetischer Armeen bei Kiew  1941, die Zerschlagung einer ganzen deutschen Heeresgruppe in Weißrußland 1944; es gab Siege, die folgenreicher für den Kriegsverlauf waren - wie die erfolgreiche Abwehr des deutschen Angriffs auf Moskau: Trotzdem ist Stalingrad die Chiffre, mit der der Zweite Weltkrieg vor allen anderen charakterisiert wird", schreibt Dr. Peter Jahn in seinem Vorwort. Stalingrad erinnern lief im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst (Zwieseler Str. 4) als Ausstellung; dazu wird ein Katalog angeboten (Broschur als Museumsausgabe, Hardcover als Verlagsausgabe), den man ganz unabhängig von der Karlshorster Ausstellung lesen und betrachten kann.

Chiffre Stalingrad - sechzig Jahre nach der legendären Schlacht: Ausstellung und Buch zeigen, wie in Geschichtsschreibung, Literatur, Film, Architektur und bildender Kunst mit diesem Ereignis umgegangen wurde. "Heldenepos", "Opfergang", "Tragödie" und "Lehrstück" - sehr unterschiedliche Begriffe in der sowjetischen, der ostdeutschen und der westdeutschen Erinnerung. Was war das Chiffre "Stalingrad" in einzelnen Geschichtsperioden im Selbstverständnis der Deutschen und der Russen?

Für die Sowjetunion wurde die Schlacht zum historischen Zeichen des unabwendbaren Sieges. Auch nach dem (Großen Vaterländischen) Krieg wurde daran erinnert, was seinen Ausdruck unter anderem im monumentalen Denkmalsensemble auf dem Mamajew-Hügel fand. Oft wird bemängelt, dass durch dieses Denkmal nicht das individuelle Leid und der Schrecken des Krieges den Mittelpunkt des Gedenkens bilden, sondern der kollektive Triumph über den Gegner. Viktor Nekrassow, Schlachtteilnehmer und Autor von "Stalingrad" verlieh seiner Erschütterung darüber in seiner Erzählung "Vorfall auf dem Mamai-Hügel" anschaulich Ausdruck: "(...) alles war weg. Einfach weg. Spurlos verschwunden. Statt dessen erhob sich vor mir, links vom Wasserturm, ein gewaltiges rätselhaftes Gebilde - eine Klippe oder eine Ruine. Als ich näher kam, entpuppte es sich als ein Monument von gigantischen Maßen: ein halbnackter Mann mit einer Maschinenpistole in der Hand. Mir schwindelte." Nikolai Nekrassow, Architekt und Regisseur, war während der Schlacht um Stalingrad stellvertretender Kommandeur eines Pionierbataillons; während eines Lazarettaufenthaltes begann er sein Erstlingswerk "In den Schützengräben von Stalingrad" zu schreiben, das bereits 1946 erschien.

In der BRD wurde vor allem an das "Opfer" der untergegangenen 6. Armee und den "Verrat" der Naziführung erinnert.

Die DDR sah im "Chiffre Stalingrad" das Resultat einer verbrecherischen Politik; der Untergang der 6. Armee galt als "Lehrstück".

Historische Dokumente, Fotos, Zeitungsartikel, Plakate, Karikaturen, Lithografien, Schlachtengemälde... belegen diese Interpretationen. Besonders brisant Stalins "Befehl 227" vom 28. Juli 1942, der erst 1988 im Rahmen von Gorbatschows Glasnost publik wurde. Diesem Befehl zufolge rückweichende eigene Soldaten zu erschießen waren. In diesem Befehl gestand Stalin ganz offen die kritische Lage der Sowjetunion ein. Unter Hinweis auf die großen Verluste an Land und Rohstoffen warnte er vor der verbreiteten Ansicht, dass sich die Armee noch weiter nach Osten  zurückziehen könnte. Die mangelnde Disziplin der Truppe zwinge zu harten Maßnahmen bei Panik und Flucht. Wer dabei gefasst werde, sei mit dem Tod zu bestrafen. Um solche Rückzüge aufzuhalten, wurden Spezialverbände aufgestellt, die nur gegen die eigene Truppe bei Flucht eingesetzt wurden. In der Anwendung dieses Befehls sind allein 1942 tausende sowjetische Soldaten erschossen worden. Wie viele Rotarmisten dem Befehl  insgesamt zum Opfer fielen, zumal viele vermeintliche "Feiglinge und Panikmacher" in Strafbataillone versetzt wurden, in denen sie nur eine geringe Überlebenschance hatten, wird wohl niemals geklärt werden. In den Statistiken werden diese Soldaten  zu den im Kampf Gefallenen gezählt. Ein NKWD-Bericht gibt an, dass bis zum 15. Oktober 1942 im Raum Stalingrad 41 Sperreinheiten eingerichtet worden seien. Diese hätten seit dem 1. August 51 758 Soldaten aufgegriffen, die sich von der vordersten Frontlinie entfernt hätten. Von diesen seien 980 verhaftet, 711 erschossen und 1 349 in Strafeinheiten versetzt worden. Die übrigen wurden ihren Einheiten überstellt. Der "Befehl 227" wurde übrigens erst Ende der achtziger Jahre veröffentlicht.

Alle Abbildungen des Buches sind technisch brillant wiedergegeben und mit sehr informativen Bildtexten versehen; das ganze Buch ist von Kurt Blank-Markard durchweg eindrucksvoll gestaltet. Auf Seite 106 stoße ich auf meine geliebte FREIE WELT, bei der ich mehr als drei Jahrzehnte gearbeitet habe; hier ist aus dem Jahre 1973 als ein Medienbeispiel die Aufmachung unseres Beitrages zum 30. Jahrestag der Schlacht bei Stalingrad abgedruckt. Und auf S. 162 begegnet uns ein Foto (Wolgograder Liebespaar) von Waleri Stignejew, von dem in dieser Homepage das Buch "Moskau-Berlin" vorgestellt ist. Nicht ganz gelungen scheint mir die Titelgestaltung mit dem im Mosaik eingefügten Titelblatt der "Quick", auf dem zu lesen ist: "Vor zwanzig Jahren: Stalingrad. Protokoll einer Schlacht". Man ist fälschlicherweise versucht, diesen Text als eine Art Untertitel auf den Inhalt des Buches zu beziehen...

Entsprechend dem Anliegen, Stalingrad im deutschen und im russischen Gedächtnis darzustellen, sind alle Texte zweisprachig deutsch und russisch. Sehr nachdenkenswert das fundierte Vorwort von Dr. Peter Jahn, dem Karlshorster Museumsdirektor* und Projektleiter von Stalingrad erinnern. Sein Text setzt sich fachhistorisch auseinander mit der Wahrnehmung der Schlachtteilnehmer und Zeitgenossen und deren Überlieferung und mit der späteren historischen Fachinterpretation. "Vielleicht müssen wir verstehen", schreibt Jahn, "dass ein traumatisches Ereignis wie `Stalingrad´ es zweifellos war, Geschichte erst werden kann, wenn Erinnerung, die auf persönlicher Erfahrung beruht, nicht mehr gegenwärtig ist." Vielleicht, sei hinzugefügt, müssen (objektive) ausländische Autoren (gerade erschien "Stalingrad" von dem britischen Militärhistoriker Anthony Beevor** über die Schlacht bei Stalingrad schreiben. Aber: Hätte Peter Jahn nicht - im Interesse seiner Leser - auf einige Fremdwörter (Hiatus, Selbstviktimisierung...) verzichten können?

Die weiteren fachgemäßen Texte stammen von Prof. Dr. Norbert Frei ("Stalingrad" im Gedächtnis der West-Deutschen), er ist Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum, von dem Germanisten und Historiker Dr. Jens Ebert ("Erziehung vor Stalingrad". Die Schlacht in der ostdeutschen Mentalitätsgeschichte) und von dem Osteuropa-Historiker Dr. Wolfram von Scheliha (Stalingrad in der sowjetischen Erinnerung).

Bei der Suchmaschine "Google" waren Mitte Januar 2004 nicht weniger als 36 500 deutschsprachige Einträge zu dem Stichwort "Stalingrad" nachgewiesen. Überraschend ist das nicht nachlassende Interesse an der Stalingrader Schlacht vor nunmehr sechzig Jahren nicht.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

    * Dr. Peter Jahn, gebürtig in Küstrin, studierte ab 1963 an der Berliner Freien Universität Osteuropa- und Neue Geschichte, er promovierte 1974. 2006 tritt er in den Ruhestand.

  ** In "Stalingrad" von Anthony Beevor ist über die abgebildete `Madonna´ und ihren Schöpfer Dr. Kurt Reuber, Arzt in der 16. Panzerdivision, zu lesen: "Der 36 Jahre alte Reuber, ein Theologe und Freund von Albert Schweitzer, war außerdem ein begabter Amateurkünstler. Er verwendete  [Weihnachten 1942] seinen Bunker in der Steppe nordöstlich von Stalingrad in ein Studio und begann auf der Rückseite einer erbeuteten russischen Karte zu zeichnen - ein anderes großes Stück Papier hatte sich nicht finden lassen. Sein Werk, das heute in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche hängt, ist die `Festungsmadonna´, eine umarmende, schützende, geradezu schoßartige Mutter mit Kind, und neben dieser Figur stehen die Worte des Evangelisten Johannes: `Licht, Leben, Liebe.´ Als die Zeichnung fertig war, befestigte Reuber sie an der Bunkerwand. Jeder, der eintrat, hielt inne und starrte darauf. Viele begannen zu weinen. Zu Reubers leichter Bestürzung - kein Künstler hätte bescheidener über seine Begabung denken können -  entwickelte sich sein Bunker zu einer Art Heiligtum. Der klavier spielende Bataillons-Kommandeur der 16. Panzerdivision war krank geworden, so daß Dr. Kurt Reuber ihn veranlassen konnte, die "Festungsmadonna" mitzunehmen. Reuber gelang es auch, für seine Frau ein letztes Bild fertig zustellen, da die Abreise seines Befehlshabers sich wegen schlechter Wetterlage um einige Tage verzögerte. Sein letzter Brief aus Stalingrad wurde mitgenommen. Reuber sah keinen Grund, vor der Realität dessen zurückzuschrecken, was ihm und seinen Kameraden bevorstand. Kaum eine irdische Hoffnung mehr bleibt. (...) Kurt Reuber starb am 20. Januar 1944 im Lager Jelabuga, nur wenige Wochen, nachdem er eine weitere `Gefangenenmadonna´ für das Weihnachtsfest gezeichnet hatte, die wieder die gleichen Worte verkündete: `Licht, Leben, Liebe.´"

 

Weitere Rezensionen zum Thema "Zweiter Weltkrieg":

  • Tschingis Aitmatow, Das Wiedersehen mit dem Sohn, Hörbuch.
  • Antony Beevor, Stalingrad.
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  • Wladimir Gelfand, Deutschland-Tagebuch 1945-1946.
  • Heinrich Hoffmeier, Ich habe keine Hoffnung mehr. Soldatenbriefe aus Russland 1942-1943.
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  • Viktor Nekrassow, Stalingrad.
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  • Theodor Plievier, Stalingrad.
  • Theodor Plievier, Stalingrad, Hörbuch.
  • Wladimir Gelfand, Deutschland-Tagebuch 1945-1946.
  • Willy Peter Reese, Mir selber seltsam fremd. Russland 1941-44.
  • Carl Schüddekopf, Im Kessel, Erzählen von Stalingrad.
  • Alexander Solschenizyn, Heldenleben. Zwei Erzählungen.

Am 10.02.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

  
Madonna von Stalingrad, 1942:
Von dem Pfarrer und
Militärarzt Dr. Kurt Reuber
(1906 bis 1944) gezeichnet
(Kohle auf Papier).
 

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