Belletristik REZENSIONEN

Heilige? Hexen? Huren? Frauen!

Litauerin
Die Regenhexe
Aus dem Litauischen von Markus Roduner
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2002, 295 S.
 
Verdammt in sich haben es die Sexszenen in diesem Buch von drei Frauen, die heilige Männer lieben.

In Jurga Ivanauskaitės Roman sind drei Frauen aus verschiedenen Jahrhunderten die Buchheldinnen. Da ist zum einen Viktorija, genannt Vika, die im postsowjetischen Litauen lebt und Paulius, einen Priester liebt. Als der ihrer beider Verhältnis urplötzlich beendet, weil er, wie er ihr sagt, das Mönchsgelübde ablegen wird, ist Vika todtraurig, bitter enttäuscht, voller Hass. Um den frommen Geliebten zu vergessen, stürzt sie sich in geschmacklose Liebesabenteuer und sucht die Psychoanalytikerin Norma auf. So nach und nach - ein Drittel von Vikas Gehalt geht Monat für Monat für die psychologischen Sprechstunden drauf - dringt Norma in Vikas Liebesseele ein, und erfährt der Leser alle, auch die delikatesten Einzelheiten aus ihrem Liebes- und Sexualleben mit dem Priester Paulius.

Die zweite Romanheldin ist Marija Viktorija, die der Leser in einem mittelalterlichen Kerker antrifft. Sie wird von der Inquisition der Hexerei beschuldigt, nachdem ihre verbotene Beziehung zu dem als Heiligen verehrten Einsiedler Povilas bekannt geworden war, und sie außerdem des Studiums des apokrypten - nicht im Alten Testament enthaltenen - Tagebuchs der Maria Magdalena überführt ist.

Das dritte Liebesschicksal erleidet Maria aus Magdala, die nach ihrer Errettung vor der Steinigung eine der eifrigsten Jüngerinnen Jesu wird. Auch sie breitet in Die Regenhexe Liebe und Leid vor dem Leser aus, denn sie liebt Jesus, Gottes Sohn. Der Apostel Petrus vertreibt Maria Magdalena von Jesus mit den Worten: "Du bist eine Frau, und Frauen sind nicht wert zu leben." Nach dem Alten Testament sind Frauen, die sündigen - Maria Magdalena tat es vor ihrer Liebe zu Jesus für Geld - zu steinigen. Jesus jedoch wäscht Maria Magdalena die Füße und sagt: "Nur die Liebe macht euch frei." Jurga Ivanauskaitė will gewiss auch sagen, dass das Recht der Frau um Gottes Gnade um nichts geringer als das des Priesters oder Mönchs ist, die ebenfalls nicht frei von Sünde sind.

Ist die Befreiung der Frau durch die Liebe - in einem vom Ideal der Männlichkeit geprägten Litauen - Ivanauskaitės Botschaft? Die Suche nach der wahren Liebe zwischen Mann und Frau ist für die Autorin jedenfalls ein wichtiges Thema. Doch den drei Protagonistinnen des Romans, die Männern zuliebe sogar ihre Identität verleugnen, ist sie nicht vergönnt, die selbstlose Liebe - die wahrlich christliche, wie die Autorin meint. Und von den drei Männern im Roman hat allein Jesus Verständnis für die Bedürfnisse der Frau, der gleichzeitig der Beweis ist, dass Liebe auch ohne Sex ihren Ausdruck finden kann. Gibt es vielleicht gar keine wahre Liebe zwischen Mann und Frau? Was ist Liebe? Was ist wahre Liebe?

Die staatliche litauische Ethikkommission stufte Die Regenhexe als pornographisch und antichristlich ein (was nicht verwundert in einem Land, in dem 90 Prozent der Bevölkerung katholisch ist. Einst waren die Litauer die letzten Nichtchristen im Nordosten Europas.). Immerhin erlaubte die Kommission trotz bescheinigter Gotteslästerung den Verkauf des Buches in Läden mit Erotikartikeln. Innerhalb von zwei Wochen wurden auf diese sinnige Weise 20 000 Exemplare verkauft und Jurga Ivanaukaitė war - nach einer Novellensammlung und zwei Romanen -  zur meistgelesenen Schriftstellerin Litauens aufgestiegen.  

Die Regenhexe (Was für eine Regenhexe?) ist eine leidenschaftliche Suche nach Gott und geistiger Vollkommenheit, finde ich. Außerdem ist der Roman ein gekonnt komponiertes Buch vom zeitunabhängigen Geschlechterkampf auf drei Zeitebenen. Alle drei Frauen stürzen sich kopfüber in ihre Liebe - im Gegensatz zu den Männern, die alle drei durchaus nicht bedingungslos lieben. Jede der Frauen scheitert, jede auf eine andere, auf ihre Weise. Aber auch die Männer enden tragisch... Beeindruckend, wie die Autorin die zeitlich weit voneinander getrennten Frauenfiguren durch Analogien und raffinierte Satz- und Motivwiederholungen zu einem einzigen Prototyp werden lässt.

Mich stören in diesem Buch nicht die sexuellen Szenen zwischen den Liebenden. Mensch macht´s, Ivanauskaitė schreibt´s! Aber wozu die sonstigen Ausschweifungen? Geradezu abstoßend treiben es die Frauen untereinander (ohne sich zu lieben) und, vor allem Vika mit geradezu abstoßend beschriebenen Typen. Aus Rache allen Männern gegenüber? Ich weiß nicht, ob mir die drei Frauen - trotz der zwar unzweifelhaft drastischen, aber auch poetischen Sprache der Autorin -   sehr lange in Erinnerung bleiben werden. Aber Vikas Ehemann Go, ein begnadeter Maler, der dem Irrsinn verfällt, der ist von der Autorin so beeindruckend dargestellt, dass er für immer ins Gedächtniskästchen meiner Buchhelden wandern wird.

Wozu eigentlich ganz zum Schluss auch noch ein politischer Schlenker? Wozu wird, beziehungslos, wie ich finde, mit einem Mal über "jene furchtbare Nacht des dreizehnten Januar" gesprochen? Gemeint ist das brutale Vorgehen der sowjetischen OMON-Truppen am 13. Januar 1991, das zahlreiche Opfer unter der litauischen Zivilbevölkerung forderte. Vielleicht, weil die Autorin selbst zu den Zeiten des politischen Umbruchs gesellschaftlich und publizistisch äußerst engagiert war? Allerdings zog sie sich, wie viele andere Litauer auch, später aus der Politik zurück.

Jurga Ivanauskatė - 1961 in Vilnius geboren - gilt als die provokanteste litauische Schriftstellerin. Sie ist in Litauen aber sowohl als Schriftstellerin als auch als Malerin bekannt - die 1980 ihr Studium an der M. K. Čiurlionis-Kunstschule und 1985 ein Grafikstudium an der Kunstakademie Vilnius abgeschlossen hat. Im gleichen Jahr debütierte sie mit der Novellensammlung "Maiglöckchenjahr", das zum Kultbuch unter Jugendlichen wurde. Über sich sagt sie: "Ich war schon immer eine Außenseiterin. Ich weiß, dass ich auch jetzt in den Gefilden der litauischen Literatur eine Fremde bin." Eine Fremde?

"Die Inspiration für ihre zwei Bände mit Erzählungen und für ihre fünf Romane", meint die litauische Literaturwissenschaftlerin Loreta Mačanskaitė, "schöpfte  die Autorin aus der Subkultur der Beatniks und der Hippies, dem Feminismus, einem neuinterpretierten Christentum  sowie aus fernöstlicher Magie und Philosophie." Jurga Ivanauskaitė verbrachte zwischen 1993 (nach Erscheinen der "Regenhexe" in Litauen) und 1998 lange Zeit in Indien und Tibet, sie trat zum Buddhismus über. Ihre Asienreise hat ihr Schreiben und auch ihr photographisches und malerisches Werk entscheidend verändert. Schriftlich hat sie ihre Eindrücke in drei Reisebüchern verarbeitet und in dem 1995 erschienenen Roman "Agnijos magija" (Agnijas Magie), der die Liebe zwischen einer Litauerin und einem Inder erzählt. (Ein Auszug aus "Eine Reise nach Shambala" findet sich in der Anthologie zeitgenössischer litauischer Schriftsteller "Von diesen Träumen ganz verschiedene", herausgegeben von Jūratė Sprindytė und Klaus Berthel im ATHENA- Verlag.)

In der litauischen Zeitschrift "Literatur und Kunst" wird Jurga Ivanauskaitė von Rita Kubilenė nach ihrem Verhältnis zum Feminismus befragt. Ihre Antwort: "Vor einigen Jahren interessierte ich mich sehr für Fragen des Feminismus, doch später begriff ich, daß es Sphären gibt, die mich mehr anziehen. Zum Beispiel die Geschichte verschiedener Religionen und die des Mystizismus. In allen religiösen Quellen, geheimen Doktrinen usw. interessieren mich besonders Texte über die Frauen, denn da wird mehr über die Natur und die Bestimmung der Frau gesagt als es die patriarchale Zensur zuläßt..." Schreiben ist für Jurga Ivanauskaitė wie Liebe oder Glaube, eines der, wie sie sagt, intimsten Themen. Diese Dreiheit war ihr als innerer, vom Willen oder vom gesunden Menschenverstand nahezu losgelöster Prozess immer ein Geheimnis gewesen und würde es immer sein. Alle drei hätten keine definierten Regeln, deren Erlernung vor Irrtümern bewahren könne. Deshalb bleibe der Mensch im Schreiben und in der Liebe und im Glauben immer auf besondere Weise neu. "Das jedenfalls zeigt meine eigene Erfahrung. Damit ist das grundlegende Sujet meiner Arbeit schon benannt: Glaube, Liebe und Schreiben. Paulus spricht von einer anderen Dreiheit - Glaube, Liebe und Hoffnung. Manchmal denke ich, dass nicht zufällig das Schreiben bei mir an die Stelle der Hoffnung tritt. Wie die Hoffnung ist das Schreiben der wichtigste Motor in meinem Leben. Und ohne Liebe kommt ein Text in der westlichen Literatur sowieso nur selten aus, was, nebenbei gesagt, meine tibetischen Freunde sehr erstaunt hat." Mit der Zeit habe sie versucht, verschiedene Stufen der Liebe auszumachen, zu erkennen und zu beobachten, wie sie ausströme, wie sie in die Sphäre des Glaubens und der Religion übergehe. Eine weitere wichtige Sache sei für sie die Freiheit, sowohl die äußere, politische und soziale, wie auch die innere, im Bewusstsein und im Herzen des Individuums. "Die innere Freiheit verstehe ich auch im Sinne einer mutigen Entschlossenheit, die Grenzen des Realitätsbegriffs einzureißen und sich nicht durch eine einzige schmale und stickige Ebene der Alltagswirklichkeit zu begrenzen. Alles, was ich jetzt so ernst, fast barsch dargelegt habe, versuche ich, ohne ein Gefühl für Humor und Selbstironie zu verlieren, umzusetzen. Mitunter wird gesagt, dass man einem guten Ballett-Tänzer seinen Schweiß nicht anmerke. Wenn man so mein Schreiben einschätzen würde, wäre es für mich ein Kompliment. Ich mag es nicht, wenn in jedem Satz die auf Leben und Tod polternde und schwitzende Seele des Autors zu spüren ist. Mir gefallen Wörter und das, was man mit ihnen machen kann. Aber ich weiß auch, dass es die Erfahrung gibt, dass jeder Begriff kraft- und sinnlos und leer wird. Deshalb stimme ich jenen Metaphysikern und Astrophysikern zu, die behaupten, dass man nicht alles beschreiben kann. Vielleicht wäre ich sogar erfreut, wenn ich eines schönen Tages gänzlich verstummen würde." Ich denke, dass Ivanauskaitės Leser darüber nicht erfreut wären...

Auf der Frankfurter Buchmesse 2003 begegnete ich Jurga Ivanauskaitė oft. Stark geschminkt und  mit kohlrabenschwarzem wallendem Kraushaar und der lässig-eleganten Garderobe zog sie jedermanns (und jederfraus) Blicke auf sich. In ihr Buch schrieb sie die freundlichen Worte für mich: von Jurga. Danke!*


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

Nachfolgend die in dieser Rezension gebrauchten, für das Deutsche ungewöhnlichen Buchstaben des litauischen Alphabets und ihre Aussprache:

          Č č = tsch wie bei Tschaikowski
          Ė ė = langes offenes e wie in lesen
          Ū ū = langes u wie in Schuh

 * Die international erfolgreiche litauische Autorin Jurga Ivanauskaitė ist 2007 im Alter von fünfundvierzig Jahren gestorben; sie erlag einem Krebsleiden. Staatspräsident Valdas Adamkus sprach von  einem "grossen Verlust nicht nur für Litauen". Die Autorin galt mit ihren provokativen Romanen und Essays als eine der Wegbereiterinnen der zeitgenössischen baltischen Literatur. Im deutschsprachigen Raum wurde sie durch den zur Frankfurter Buchmesse übersetzten Roman "Die Regenhexe" bekannt. Auch das nachfolgende Buch "Placebo" beschäftigte sich mit dem Spannungsfeld von Religion und Emanzipation. Noch zum Jahreswechsel 2006/07 war Jurga Ivanauskaitė von der größten Frauenzeitung Litauens "Moteris" zur "Frau des Jahres 2006" gekürt worden. Wegen ihrer Krebserkrankung konnte sie den Preis nicht mehr entgegen nehmen. -  Zuletzt hatte Ivanauskaitė mit Gedichten und selbst illustrierter Kinderliteratur überrascht.

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Am 10.02.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 22.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

  
Körpernaturen:
von der in Litauen
geborenen Künstlerin
Aldona Gustas, 1994.

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