| Die Unmenschlichkeit des Krieges Russland 1941-44
 Herausgegeben und mit Vor- und Nachwort versehen von Stefan Schmitz
 Claassen Verlag, München, 3. Auflage 2003, 284 S.
 Willy Peter Reese ist zwanzig Jahre alt und Lehrling beim Duisburger 
        Bankverein, als er 1941 zur Wehrmacht eingezogen und an die Ostfront 
        geschickt wird. Sein großer Wunsch ist es, Schriftsteller zu werden. An 
        eine Kriegsthematik hat er ganz sicher nicht gedacht, denn nichts konnte 
        seinem Wesen mehr widersprechen, als daß er Soldat werden musste, "ein 
        Namenloser unter fremden Gefährten, ein Spielzeug für Launen und 
        Befehle, daß ich das Waffenhandwerk lernen und eines Tages auch kämpfen 
        sollte, kämpfen für eine Weltanschauung, die ich haßte, in einem Krieg, 
        den ich niemals wollte, und gegen Menschen, die meine Feinde nicht 
        waren". Jedenfalls schreibt Reese von 1941 bis 1944  auf, was er an der Front erlebt, auch 
        unbarmherzig gegenüber sich selbst. Dieses Gedicht von ihm stammt aus 
        dem Jahre 1943: Wir sind der Krieg. Weil wir Soldaten sind.
        Ich habe alle Städte verbrannt.
 Alle Frauen gewürgt
 Alle Kinder geschlagen
 Allen Raub genommen vom Land.
 Ich habe Millionen Feinde erschossen,
 alle Felder vernichtet, die Dome zerstört,
 die Seelen der Menschen verheert,
 aller Mütter Blut und Tränen vergossen.
 
        Ich habe es getan, - ich tat
        Nichts. Aber ich war Soldat.
 
        
        Als er dieses Gedicht schrieb, trug er die Uniform eines 
        Wehrmachtsgefreiten, an seiner Brust steckten vier Medaillen und Orden, 
        darunter das Eiserne Kreuz zweiter Klasse.
        
 Reese lehnt sich nicht 
        auf, er desertiert nicht. Er will Zeugnis ablegen! Und: Er bekennt 
        und seziert auch die Gefühle, die mit seinem Selbstverständnis nicht zu 
        vereinbaren sind, aber trotzdem im Krieg an Macht gewinnen. Wie ist es 
        möglich, fragt er sich, dass wir, als eine Frau samt ihrer Kuh von einer 
        Mine zerrissen wird, "mehr die Komik als das Gräßliche gesehen" hatten. 
        Meist ist Reese "Dichter und Denker", manchmal aber auch deutscher 
        Besatzungssoldat im Osten. Doch noch findet er aus allen Verirrungen, zu 
        sich selbst zurück: "zu jenem Menschen, der ich vor dem Krieg war". Aber 
        bald schon fühlt er sich "sich selber seltsam fremd:  "So nahmen wir 
        den Frauen und Kindern das letzte Stück Brot, ließen uns Hühner und 
        Gänse zubereiten, steckten ihre geringen Vorräte an Butter und Schmalz 
        zu uns, beluden unsre Fahrzeuge mit Speckseiten und Mehl aus den 
        Vorratsbunkern, tranken die überfettete Milch und kochten und brieten in 
        ihren Öfen, Honig raubten wir in den Kollektivhöfen, Eier fanden wir 
        immer wieder, und Tränen, Flehen und Flüche störten uns nicht. Wir waren 
        die Sieger, der Krieg entschuldigte den Raub, forderte die Grausamkeit, 
        und der Selbsterhaltungstrieb fragte das Gewissen nicht. Frauen und 
        Kinder mußten uns Wasser holen, die Pferde tränken, das Feuer bewachen 
        und Kartoffeln schälen. Ihr Stroh verschwendeten wir für unsere Pferde 
        und unser Nachtlager, vertrieben sie von ihren Betten und schliefen auf 
        ihren Öfen." - Oder: "Die Frauen trieben wir aus ihren Wohnungen und 
        pferchten sie in den schlechtesten Häusern zusammen. Schwangere und 
        Blinde mußten mit hinaus. Verkrüppelte Kinder jagten wir in den Regen, 
        und manchen blieb nur ein Stall oder eine Scheune, wo sie neben unseren 
        Pferden lagen." Oder: "Ich verkaufte mein Menschentum und 
        Gott für ein Stück Brot. Kameraden hatte ich nicht. Jeder sorgte nur für 
        sich, haßte den, der bessere Beute machte, teilte nicht, tauschte nur 
        und versuchte, den andern zu übervorteilen.(...) Der Schwächere wurde 
        ausgenutzt, der Hilflose in seinem Elend gelassen. Das enttäuschte mich 
        tief, aber auch ich wurde hart." Oder: "Was wir an Wollsachen fanden, 
        gehörte uns. Tücher, Schals, Pullover, Hemden und vor allem Handschuhe 
        nahmen wir bei jeder Gelegenheit mit. Stiefel zogen wir den Greisen und 
        Frauen auf der Straße aus, wenn unsere schlecht wurden. Die Quälerei der 
        Märsche verbitterte uns und machte uns gefühllos für fremdes Leid. Wir 
        prahlten mit dem, was wir erobert hatten und mit dem Eindruck, den eine 
        Pistole auf ein wehrloses Weib gemacht hatte, daß bloß eine Russin war." 
        Oder: "Jeder Befehl sagte uns, daß wir im besiegten Land 
        waren und die Herren der Welt. Wir mußten vorwärts, die Front lag noch 
        fern. Niemand fragte uns, wie wir es schaffen. Unsere Beine eiterten, 
        die Strümpfe faulten, Läuse besaßen uns, wir froren, hungerten, wurden 
        an Durchfall, Krätze, Ruhr, Gelbsucht und Nierenentzündungen krank, 
        schleppten uns an Stöcken weiter, ritten auf ungesattelten Pferden oder 
        hielten uns mit starren Fingern an den Karren fest, aber wir 
        marschierten weiter." Oder: "Das Stroh war naß, Mäntel und Stiefel schwer. Wir 
        legten uns hin, froren, zitterten vor Kälte, Erschöpfung und Zorn. Am 
        Morgen bezogen wir ein Haus, wo eben ein Kind gestorben war. Die Frauen 
        wehklagten über der kleinen, weißen Leiche, in einem langgezogenen, 
        regellosen Gesang. Der Vater küßte die blassen Hände, den blutleeren 
        Mund. Manchmal weinten sie, aber sie bewirteten uns freundlich und gern. 
        (...) Der alte Bauer (...) erzählte von seinem Leben, von langen 
        Zuchthausjahren in 
        Sibirien, in Ketten, bei bitterster Kälte, 
        unmenschlicher Arbeit und Schlägen. Wir erfuhren nicht, welches 
        Verbrechen er begangen, und nur Demut und Güte strahlten aus seinen 
        hellblauen Augen." Oder: "Kaum sahen wir die Stadt. Wir 
        durchstöberten nur die Häuser nach Nahrungsmitteln und Wollsachen. 
        Arbeitenden russischen Gefangenen nahmen wir ihr Gepäck und ihren Tabak 
        fort." Oder: "Wir brachen in die ersten Häuser. Erbarmungslos wurden die 
        Männer niedergemacht und eilig die erreichbare Beute an Honig, Fett, 
        Zucker und besserem Brot verpackt."
 
 Solche Erlebnisse, schreibt Reese, "machten mich mir selber seltsam fremd".
 
 "Heute ist offenkundig und 
        weitgehend unbestritten", schreibt der Herausgeber Stefan Schmitz in 
        seinem Vorwort, "dass die Wehrmacht im Osten einen beispiellosen 
        Vernichtungskrieg geführt hat. (...) Getötet wurden rund 20 Millionen 
        Bürger der UdSSR, darunter etwa sieben Millionen Zivilisten. Über drei 
        Millionen sowjetische Kriegsgefangene kamen ums Leben; mehr als jeder 
        Zweite, den die Wehrmacht in ihre Gewalt gebracht hatte. In den von den 
        deutschen Armeen besetzten Gebieten Osteuropas töteten die Vollstrecker 
        der Nazis Millionen Juden." An seine Eltern schreibt Reese, er würde 
        sich als Besiegter innerlich wohler fühlen denn als Sieger.
 
 Jahrzehntelang hatte sich niemand für Willy Peter Reeses Manuskript 
        interessiert. Dabei ist sein Buch nicht nur ein authentisches Dokument, 
        sondern auch eine literarische Entdeckung, denn Reese hat es verstanden, 
        aus seiner Kriegserfahrung ein "Bekenntnis" zu machen, wie er in seinem 
        Untertitel schreibt. So etwas ist nicht oft überliefert worden.
 Bisher 
        galt  Theodor Plievier als der 
        Antikriegsschriftsteller 
        neben Remarque. Für mich ist Willy Peter Reese hinzugekommen. Sein 
        Antikriegsbuch zeigt, wie schnell es unter dem Einfluss von Militär und 
        Krieg zu jenen "Verheerungen der Seele" kommen kann, die er erschüttert 
        an sich selbst feststellt.
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