Sachbuch REZENSIONEN

Ein Appell gegen das Vergessen
Über Stalingrad
Stalingrad
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001, 457 S.

Dieses Buch ist ausschließlich dem Stalingrad-Geschehen auf deutscher Seite gewidmet (im Gegensatz dazu erzählt Viktor Nekrassow in seinem "Stalingrad", was sich auf sowjetischer Seite abspielte).

Stalingrad  von Theodor  Plievier (1892- 1955)  ist  ein  dokumentarischer  Roman, in dem mit großer  Genauigkeit und  Wirklichkeitstreue  die  Vernichtung der 6. Armee geschildert wird. Aus der grauen Masse der Soldaten werden nur zwei Gestalten herausgehoben: Gnotke und Vilshofen. Unteroffizier August Gnotke, einst SA-Mann, der schnell mal mit dem Stuhlbein dazwischen gehauen hat, lernen wir als Strafsoldaten kennen, der Leichen in Gruben zu werfen hat; "Leichenaugust" nennen sie ihn in der Kompanie. Gnotke rettet dem Soldaten Matthias Gimpf das Leben als der sich, zwanzig Jahre alt, zu den Toten legen will. "Mein Matthias, mein süßes Kind, mein liebes Matthilein, mein Alles, mein liebes gutes einziges Alles" war er, der letzte Sohn eines wohlhabenden Bauern, von seiner Mutter in einem Brief genannt worden.

Panzerregimentführer und später beförderter General Manfred Vilshofen, "Ein Tollkopf, der immer aufs Ganze ging", auch "Eidbrecher", weil er sich für die Kapitulation aussprach, hat am Schluss des Buches ein Gespräch mit Gnotke: "`...und so viel ist wieder gutzumachen, glauben Sie denn nicht, Gnotke, daß da jede Hand gebraucht wird und ebenso jeder Kopf!´ - `Das glaube ich schon. Aber nun, ich muß es doch einmal aussprechen, ich komme aus dem Strafbataillon, also von unten der Unterste, und Herr Oberst...´ - `Nicht grade von oben das Oberste, aber doch aus dem Führungsstab und da ist die Schuldbelastung natürlich viel größer als die eines Soldaten aus dem Strafbataillon!´ - `An der verlorenen Schlacht, meint Herr Oberst?´ - `Ich habe hier in den Stalingrader Nächten noch über anderes als nur über die Katastrophe auf dem Schlachtfeld nachgedacht; und wenn ich jetzt von Schuldbelastung spreche, so meine ich die gegenüber unserm wenn auch nicht verlorenen, so doch in die Irre geführten und in seiner physischen Existenz bedrohten Volk! Und da gilt es zu reparieren!´ -`Ach so...´ - `Was: ach so?´ -  `Herr Oberst denken da wohl an einen nächsten Waffengang?´ - `Nein, Gnotke. Die Waffen waren zu grob: das zum ersten. Sie waren in falscher Stoßrichtung angesetzt, das zum zweiten. Ich denke daran, daß wir nicht in Europa und nicht in der weiten Welt, daß wir vor allem bei uns zu Hause Ordnung zu schaffen haben!´ - `Ach so, schwarze Reichswehr und so, das kenn´ ich, das haben wir bei uns in Pommern gehabt! Und die Feme, die SA haben wir gehabt, und die SA-Abschlachtung haben wir gehabt.´ - `Mensch, Gnotke! Jeder Mensch soll atmen, soll Wirt in seinem Haus sein, soll das, was er mit seinen Händen schafft, auch erhalten und auch verzehren dürfen, das ist grob gesagt, die Ordnung, die zu schaffen ist!´ - `Ja, so etwa hieß es damals auch!´ - Mein Gott, alle Bilder verbraucht, alle Worte verdreht, alle Quellen verstopft, kein Glauben mehr, nichts mehr, ausgebrannt, nur noch Stümpfe...´ Es war ein seltsames Gespräch zwischen einem General (der allerdings eine ungewöhnliche Erscheinung war) und einem Soldaten, aber es wurde auch in einer außergewöhnlichen Stunde geführt."

Die letzten Zeilen bei Plievier lauten: " und (...) eine Spur führte schluchtaufwärts, zog sich über das weiße Feld hinüber zu dem in den Schnee getretenen breiten Marschband, in dem sie sich verlor. - Es war die Fußspur von zwei nebeneinander schreitenden Männern" - die von August Gnotke und Manfred Vilshofen.

Der ehemalige SA-Mann Gnotke wendet sich gegen die Sache des Führers, nicht weil der den Krieg verliert, sondern weil  er den Krieg begonnen hat. Und Oberst Vilshofen wandelt sich vom gehorsamen Offizier zum scharfen Kritiker des blinden Gehorsams seiner Berufsklasse. In einem Ende 1947 veröffentlichten Brief hat Plievier diese Wandlungsprozesse als den Kern seines Romans bezeichnet. "Ohne dieses schwelende Feuer, das nur an wenigen Stellen zu klarem Ausdruck gelangt, wäre `Stalingrad´ nichts als eine Reportage über den Untergang einer Armee. Erst durch den Blick über die Trümmerwelt hinweg und erst durch den Glauben an eine aus physischem und moralischem Untergang wieder aufsteigende Zukunft sprengt es den Rahmen eines Tatsachenberichts." Und diese Wandlung der beiden Buchhelden wird trotz ihres diskontinuierlichen Auftretens durchaus deutlich. Alle übrigen Kämpfenden dagegen sind eher repräsentative Typen, die für eine Episode in den Vordergrund des Geschehens rücken, um darauf wieder in die Masse der namenlosen Soldaten zurückzutauchen.

Die historische Detailgenauigkeit kam dadurch zustande, dass Plievier im Kriegsgefangenenlager Ljunowo - zugleich das Hauptquartier des Nationalkomitees Freies Deutschland, dem er seit dem 14. September 1943 angehörte - mehr als hundert deutsche Offiziere und Soldaten nach ihren Erlebnissen und dem Verlauf der Schlacht befragen durfte. Gerhard Dengler, Hauptmann in Stalingrad - er hatte vierhundert Soldaten auf eigene Faust aus dem Kessel in die Gefangenschaft geführt - erzählt im "Neuen Deutschland" vom 7./8. Dezember 2002 auch von den Besuchen Theodor Plieviers. Große Hilfe leistete Plievier der deutsche Schriftsteller Johannes R. Becher, der sich zu der Zeit in der Emigration in Moskau befand. Becher sorgte dafür, dass Plievier zu dem Kriegsgefangenenlager Zutritt erhielt, und er ermöglichtes es, dass Stalingrad in der Moskauer Exilzeitschrift "Internationale Literatur/Deutsche Blätter" erscheinen konnte. Bereits im September 1943 begann Plievier unter ungeheurem Zeitdruck mit der Niederschrift: Vom November 1943 bis September 1944 erschien Stalingrad in der Exilzeitschrift in Fortsetzungen.

Vor uns liegt die Urfassung des Stalingrad-Romans, die 1983 in Deutschland das erste Mal erschien. Die Urfassung unterscheidet sich fast ausschließlich darin von der späteren Fassung, dass die Rede eines Generalstabsoffiziers der deutschen Stalingrad-Front weggelassen wurde. Warum? Sie ist in vielem sehr aufschlussreich. Dieser Generalstabsoffizier nämlich legt im Auftrag gleich gesinnter Offiziere aus dem Kriegsgefangenenlager Nr. 97 dar, dass "Stalingrad" als erschütterndstes Geschehen miterlebt und als notwendige Folge einer gewissenlosen Kriegführung erkannt wurde. "Die Angriffswellen der deutschen Truppen", führt der Redende aus, "waren in Stalingrad durch die Sowjetarmee zum Halten gebracht. Im Süden war die Wolga erreicht, Im Norden tobte der Kampf um die Fabrikviertel. Auf der großen Generalstabskarte im Hauptquartier führte nur eine eingleisige Bahn in Richtung Stalingrad und diese brach auch noch vorzeitig vor dem Don ab. Eine einzige Brücke ermöglichte  den Übergang über den Don. Der ganze Nachschub war angewiesen auf den Transport mit Lkw und Pferdefuhrwerken. Die Wegstrecke betrug bis 110 Kilometer und verlangte von Motor und Pferd Außergewöhnliches. Bei den Divisions-Verpflegungsämtern war Verpflegung nur für 8 bis 10 Tage vorhanden (Munition in Höhe der Erstausstattung). Auch bei einer Einbeziehung der Eisenbahnstrecke Rostow-Abganerowo im Süden war eindeutig zu errechnen, daß eine ausreichende Versorgung zweier Armeen, besonders kurz vor Eintritt der kalten Witterung, nicht mehr zu erreichen war." Und: " (...) trotz ernstester Mahnung seitens der Kommandostellen war Winterkleidung und Winterausrüstung nur in mangelhafter Menge, beziehungsweise überhaupt nicht geliefert worden." Die Rede des namentlich nicht genannten Generalstabsoffiziers schließt mit den Worten "Kriegsgefangene, Stalingradkämpfer! Vergeßt nicht, vergeßt nicht..."

Um seinen Schilderungen  größtmögliche Authentizität zu verleihen, fügte Plievier auch eine Vielzahl von Dokumenten in den Roman ein: Briefe, Tagebuchauszüge, Befehle deutscher Generäle, Rundfunkansprachen von NS-Größen,  das Kapitulationsangebot der Russen vom 8. Januar 1943. Am 10 Januar 1943 um 10 Uhr war das Kapitulationsangebot abgelaufen. Da bestand die 6. Armee nur noch aus 190 000 Mann (140 000 Mann waren seit dem 19. November 1942, als die Sowjetarmee die 6. Armee eingekesselt hatte,  bereits "unter den russischen Waffen, an Hunger, an Kälte, an Krankheiten zugrunde gegangen".)

In meinem Besitz ist die Fassung von 1945, 1948 wiederum beim Aufbau-Verlag erschienen. Ich hatte sie (für 7 Ostmark) 1969 im Antiquariat erworben, im gleichen Jahr gelesen und - wie ich es nicht lassen kann - vieles angestrichen. Erstaunt nehme ich nun nach dem Wiederlesen zur Kenntnis, dass mich zum Teil damals schon genau dieselben Stellen bewegten, die Anstreichungen zum Teil dieselben sind, zum Beispiel: An Proviant erhielten die Soldaten nur noch einen halben Tagessatz: "50 Gramm  Knäckebrot (eine Scheibe und  dazu eine kleine Ecke), 8  Gramm  Mittagskost (7 Erbsen), 25 Gramm  Abendkost  (einen Bissen Fleisch), 5 Gramm Getränke waren zu diesem Zeitpunkt der volle Tagessatz." Und: "Das war hier  ein Leben, da wimmelte es nur so von Russenfrauen, die sie hierher verschleppt hatten. Sie trugen Wasser und wuschen Wäsche und stopften Strümpfe, na ja, und nachts, da mußten sie dann auch herhalten und mit auf die Pritsche." Und: "Und ein anderer Wagen, ein kleiner Omnibus, hatten ebenfalls keinen Platz für Verwundete, aber für drei russische Frauen - Köchin, Wäscherin, Aufräumerin -, die zurückbleiben wollten, jedoch gezwungen wurden, zwischen den Säcken neben einem Schirrmeister, einem Oberfeldwebel und einem Truppensattler Platz zu nehmen." Und: "Hosenböden, hart wie Bretter von angefrorenem Kot." Und: " (...) aber daß Abfalleimer der Operationsräume beraubt und die Abfallgruben der Chirurgen geöffnet und geleert und der Inhalt gegessen worden war, dafür hatte es keine Rubrik in den Zustandsberichten gegeben, das hatte ihm nicht vorgelegen und so hatte er kaum eine Vorstellung davon, daß seine Armee in diesem Moment einen Zustand erreicht hatte, wo ein einziges Wort (wenn es dazu noch verborgene Lebensmittel versprach) Wahnvorstellungen erwecken konnte und Dutzende und Hunderte in einen aktiven Wahnsinn hineinzutreiben vermochte." Und: "Ein anderer war August Fell, schwer verwundet aber bei vollem Bewußtsein. Zwischen Rock und Hose quollen ihm die Eingeweide hervor. Pfarrer Kalser deckte die Wunde, damit der Sterbende nichts davon sähe, mit seinem eigenen Mantelende zu. Aber Fell wußte, wie es um ihn stand, er wollte kommunizieren. Doch der Kot stank ihm schon zum Mund heraus und er vermochte nicht mehr zu schlucken."

Die Nachkriegsausgabe des neu gegründeten Aufbau-Verlages im Osten Berlins machte das Buch 1945 zum Bestseller. Auch im Westen sorgte 1947 der Rotationsdruck von Rowohlt für rasche Verbreitung. Die deutschen wollten endlich die ungeschminkte Wahrheit über den Krieg erfahren. Plieviers Stalingrad gehörte damals nach Thomas Manns "Dr. Faustus" zu den meist besprochenen Büchern. Umstritten war es allerdings auch. Vor allen ehemalige Angehörige der Wehrmacht sahen in der schonungslosen Darstellung ihre Soldatenehre verletzt, und noch 1963 behauptete der Generalinspekteur der Bundeswehr, Stalingrad sei 1944 in Moskau "vom damaligen kommunistischen Schriftsteller in sowjetischem Auftrag" geschrieben worden. Doch Plievier ist niemals Mitglied der KP gewesen und hatte auch nicht auf Weisung der sowjetischen Führung gehandelt.

Stalingrad gilt als ein Buch gegen den Krieg schlechthin. In Gefangenschaft gingen 90 000  Stalingradmänner (von ursprünglich 330 000), zurück nach Deutschland kamen etwa 5 000. Die meisten der anderen starben in der Gefangenschaft an ihren Verwundungen, verhungerten oder wurden ganz einfach nicht mehr gesund...

Plivier starb 1955 in der Schweiz, er galt zu DDR-Zeiten als Renegat, da er sich abfällig über den Kommunismus geäußert hatte. Deshalb erschien sein Buch Stalingrad nur bis 1948 (in neun Auflagen) und dann erst wieder 1984 in 10. Auflage mit einem Nachwort von Hermann Kant.
 
(Begriffe, die bei Plievier als bekannt vorausgesetzt werden - als das Buch 1943/44 das erste Mal erschien, waren sie es wohl auch -  finde ich erklärt in "Im Kessel" von Carl Schüddekopf, erschienen 2002:
Hindenburglicht - eine Art Teelicht, das etwa eine Stunde brannte.
Hiwis                  - Hilfswillige aus der Stalingrader Zivilbevölkerung.
Balka                 - Eine der in der Steppe vor Stalingrad zahlreichen Schluchten, die, entstanden 
                              durch Erosion, zumeist tief und eng waren und Schutz vor Artillerie- und Fliegerangriffen boten.)


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

Das Buch zum Hörbuch!

 

Weitere Rezensionen  zum Thema "Zweiter Weltkrieg":

  • Tschingis Aitmatow, Das Wiedersehen mit dem Sohn, Hörbuch.
  • Antony Beevor, Stalingrad.
  • Irina Ehrenburg, So habe ich gelebt. Erinnerungen aus dem 20. Jahrhundert.
  • Wladimir Gelfand, Deutschland-Tagebuch 1945-1946.
  • Heinrich Hoffmeier, Ich habe keine Hoffnung mehr. Soldatenbriefe aus Russland 1942-1943.
  • Peter Jahn (Hrsg.), Stalingrad erinnern.
  • Paul Kohl, Schöne Grüße aus Minsk.
  • Jelena Koschina, Durch die brennende Steppe.
  • Ljalja Kuznetsova / Reimar Gilsenbach, Russlands Zigeuner.
  • Catherine Merridale, Iwans Krieg.
  • Uchqun Nazarov, Das Jahr des Skorpions.
  • Viktor Nekrassow, Stalingrad.
  • Ingeborg Ochsenknecht, "Als ob der Schnee alles zudeckte". Eine Krankenschwester erinnert sich. Kriegseinsatz an der Ostfront.
  • Theodor Plievier, Stalingrad, Hörbuch.
  • Willy Peter Reese, Mir selber seltsam fremd. Russland 1941-44.
  • Carl Schüddekopf, Im Kessel, Erzählen von Stalingrad.
  • Alexander Solschenizyn, Heldenleben. Zwei Erzählungen.
Weitere Rezensionen zum Thema "Rote Armee":

Am 31.03.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Bist du zu weich, wird man dich biegen, bist du zu hart, wird man dich brechen.
Sprichwort der Russen

 [  zurück  |  drucken  |  nach oben  ]