Vor mir liegen zwei Bücher gleichen Inhalts von Viktor Nekrassow: "In den
Schützengräben von Stalingrad" und Stalingrad. Das eine ist 1954 in
der Reihe "Deutsche Volksbibliothek" im DDR-Aufbau-Verlag, Berlin
erschienen, das andere 2002 beim Berliner
Aufbau Taschenbuch Verlag. Bei beiden Büchern ist
die anerkannte Übersetzerin Nadeshda Ludwig. Die Ausgaben unterscheiden sich, was das
Vorwort bzw. Nachwort anbelangt, den Titel betreffend und die
Ausstattung, die dort eine kitschige Zeichnung ziert, hier ein
ausdruckvolles Foto.
Im nicht mit Namen gezeichneten Vorwort zur Ausgabe von 1954 wird
Stalin (Er starb am 5. März 1953.) nicht erwähnt. Doch "In den Schützengräben von Stalingrad" hatte seine
Erstveröffentlichung 1946 in der Zeitschrift "Snamja"
in Fortsetzungen. Aber auch Nekrassow, der sich in seinem Buch unter der Ich-Figur des Jurij Kershenzew
verbirgt, erwähnt
Stalin kaum. Nekrassow dazu: "Anfang 1947 (...) wurde ich von der Zensorin vorgeladen - ein Ausnahmefall. Sie
sah mich vorwurfsvoll an und sagte: `Ein gutes Buch haben Sie
geschrieben. Aber wie das - über
Stalingrad und ohne den Genossen
Stalin?
Irgendwie peinlich. Der Inspirator und Organisator all unserer
Siege, und Sie... Sie sollten eine kleine Szene ergänzen im
Arbeitszimmer des Genossen
Stalin. Zwei, drei Seitchen mehr nicht...´ -
Ich stellte mich dumm. Bin kein Schriftsteller, habe beschrieben, was
ich gesehen habe, mir was ausdenken kann ich nicht. Dabei kommt einfach
nichts raus, glauben Sie´s mir. - Damit endete unser Gespräch." Und zehn
Jahre später? Nekrassow: " (...) das war schon nach dem XX. Parteitag,
bat mich der Leiter des Militärverlages `Wojenisdat´ fast unter Tränen
zu sich, die zwei, drei Zeilen zu streichen, wo bei mir Offiziere über
Stalin sprechen.
Ich lehnte ab. Und zwar nicht aus Liebe zu
Stalin, versteht sich."
Übrigens: Die (etwas mehr als zwei, drei) Zeilen über Stalin
lauten: "`Was muß er doch für einen Willen haben...´, sagt Schirjajew,
ohne aufzublicken. `Wahrhaftig...´ - `Wer?´ - Ich verstehe nicht. -
`Stalin natürlich. Zwei solche Rückzüge aufzuhalten. Überleg doch mal!
Im Jahre einundvierzig und jetzt hier... Es fertigzukriegen, sie von
Moskau fortzujagen. Und hier aufzuhalten. Wie lange stehen wir schon
hier? Den dritten Monat? Und die Deutschen können nichts machen mit
allen ihren Junkers und Heinkel. Und da nach einem solchen Durchbruch.
Nach den Julitagen... Wie mag ihm da zumute gewesen sein? Was denkst du?
Das zweite Jahr schon leisten wir diese schwere Arbeit. Er aber denkt
für alle. Wir halten da fünf- bis sechshundert Meter und schimpfen
schon. Hier ist es nicht recht, und dort ist es nicht gut, und das
Maschinengewehr frißt sich fest. Aber er - für die ganze Front...
Wahrscheinlich hat er nicht einmal Zeit, die Zeitung zu lesen. Was
meinst du, Kershenzew, hat er Zeit dazu oder nicht?´ - `Ich weiß nicht.
Ich denke, daß er trotzdem Zeit dazu hat.´ -`So, meinst du? Nun, ich
denke, er hat keine Zeit dazu. Du hast es gut. Sitzt im Unterstand,
rauchst Machorka. Gefällt dir was nicht, kriechst du raus, fluchst,
drohst auch manchmal mit der Pistole... Kennst alles in- und auswendig.
Jeden Hügel, jeden Höcker hast du kreuz und quer durchkrochen. Und was
hat er? Eine Karte! Und darauf Fähnchen: Geh, find dich zurecht. Und
behalt alles im Kopf - wo angegriffen wird, wo gehalten wird, wo
zurückgegangen wird. Und siehe da - er hält uns alle... Und wird uns zum
Siege führen. Wirst schon sehen!´ Schirjajew steht auf. `Spiel was,
Karnauchow. Die Gitarre hängt sonst so einsam an der Wand und ist
traurig.´"
Ja, Viktor Nekrassow war kein Schriftsteller; er hatte eine
Fachschule für Eisenbahnbau besucht, studierte Architektur und arbeitete
als Architekt, Schauspieler, Regisseur und Bühnenbildner. Er war weder bei den Pionieren noch bei den Komsomolzen.
"Ich hatte zu ihnen dasselbe ironische Verhältnis wie zur Sowjetmacht.
(...) Das Jahr siebenunddreißig überstanden wir wie durch ein Wunder
heil. Ein Rätsel. Meine Eltern gehörten als Adlige zu den
`Ehemaligen´. (...) Ich absolvierte das Institut und das Theaterstudio.
Anschließend arbeitete ich an einem Theater. Einem halb illegalen
Wandertheater. (...) Mein letztes Theater war in Rostow am Don. Das
Theater der Roten Armee. Von hier holte man mich zur Armee. In den
Krieg."
In seinem Buch
Stalingrad, das vor seiner Umbenennung "In den Schützengräben von
Stalingrad" hieß, beschreibt er, was er sah. Er und seine Helden kennen
nicht mehr, als sie aus dem Blickwinkel der im Schützengraben kämpfenden
sowjetischen Soldaten und Offiziere sahen: den schmalen Abschnitt vor
sich, die Verteidigungsgräben, den Unterstand im Keller eines
zerschossenen Hauses. Zwei Figuren charakterisiert Nekrassow besonders
gut: Den Armenier Charlamow, seinen früheren Stabschef, und Wolegow aus
dem fernen Altai, den alle nur Walega nennen. Nekrassow findet Charlamow
mit den schwarzen Augen nach einem Gemetzel verwundet auf dem
Schlachtfeld, einige Schritte von seinem Trichter entfernt. Der
Verwundete stöhnt. "Schwarze, lockige Haare, schrecklich bekannt. (...)
Er stirbt ganz ruhig, hört einfach auf zu atmen. (...) Er hat den Tod
sehr gefürchtet. (...) Mir fällt ein, daß ich ihm seine Papiere abnehmen
muß. (...) Ich hätte mir niemals träumen lassen, daß Charlamow so
ordentlich ist. Als er bei mir im Stab war, hat er stets alles vergessen
und verloren." - Walega ist klein, ausdauernd wie ein Maulesel, ein
gebürtiger Altaier. Er, achtzehn Jahre alt, ist die Ordonanz von Nekrassow,
achtundzwanzig Jahre alt. "Walega
(...) kann Haare schneiden, rasieren, Schuhe reparieren, bei strömendem
Regen Feuer anmachen. Jede Woche wechsle ich die Wäsche, die Socken
stopft er so, daß man nicht feststellen kann, wo das Loch war. Lagern
wie am Flusse, so gibt es täglich Fisch, lagern wir im Walde -
Walderdbeeren und Pilze. Alles tut er schweigend, ohne eine Mahnung
meinerseits. In den fünf Monaten unseres gemeinsamen Lebens hatte ich
nie Gelegenheit, mich auch nur ein einziges Mal über ihn zu ärgern.
Jetzt marschiert er neben mir, mit seinem weichen, geräuschlosen
Jägerschritt."
Im Gegensatz zu Plieviers "Stalingrad", das ausschließlich auf der
deutschen Seite der Front spielt, berichtet Nekrassow ausschließlich
über das Frontgeschehen auf russischer Seite. Auch hier wird gestöhnt,
gestorben, gehungert... Aber es war doch nicht ganz so dramatisch wie
bei der eingekesselten deutschen 6. Armee.
Nekrassow war im
zweiten Weltkrieg zuerst Führer eines Panzerzuges,
später Regimentsingenieur und stellvertretender Kommandeur eines
Pionierbataillons. Er wurde 1944 verwundet und begann im Lazarett seinen
Roman zu schreiben, der 1946 erschien (1956 unter dem
Titel "Die Soldaten" verfilmt). Nekrassow wurde in den
Schriftstellerverband aufgenommen; 1947 erhielt er den Stalinpreis. In
den folgenden Jahren geriet er immer wieder ins Feuer der offiziellen
Kritik. 1974 emigrierte er nach Frankreich, er starb 1987 in Paris.
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