Sachbuch REZENSIONEN

Stalin kommt fast nicht vor...
Russe; über Stalingrad
Stalingrad
Aus dem Russischen von Nadeshda Ludwig
Mit einem Nachwort des Autors von Mai 1981, übersetzt von Alfred Frank
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2002, 2. Auflage, 362 S.

Vor mir liegen zwei Bücher gleichen Inhalts von Viktor Nekrassow: "In den Schützengräben von Stalingrad" und Stalingrad. Das eine ist 1954 in der Reihe "Deutsche Volksbibliothek" im DDR-Aufbau-Verlag, Berlin erschienen, das andere 2002 beim Berliner Aufbau Taschenbuch Verlag. Bei beiden Büchern ist die anerkannte Übersetzerin Nadeshda Ludwig. Die Ausgaben unterscheiden sich, was das Vorwort bzw. Nachwort anbelangt, den Titel betreffend und die Ausstattung, die dort eine kitschige Zeichnung ziert, hier ein ausdruckvolles Foto.

Im nicht mit Namen gezeichneten Vorwort zur Ausgabe von 1954 wird Stalin (Er starb am 5. März 1953.) nicht erwähnt. Doch "In den Schützengräben von Stalingrad" hatte seine Erstveröffentlichung 1946 in der Zeitschrift "Snamja" in Fortsetzungen. Aber auch Nekrassow, der sich in seinem Buch unter der Ich-Figur des Jurij Kershenzew verbirgt, erwähnt Stalin kaum. Nekrassow dazu: "Anfang 1947 (...) wurde ich von der Zensorin vorgeladen - ein Ausnahmefall. Sie sah mich vorwurfsvoll an und sagte: `Ein gutes Buch haben Sie geschrieben. Aber wie das - über Stalingrad und ohne den Genossen Stalin? Irgendwie peinlich. Der Inspirator und Organisator all unserer Siege, und Sie... Sie sollten eine kleine Szene ergänzen im Arbeitszimmer des Genossen Stalin. Zwei, drei Seitchen mehr nicht...´ - Ich stellte mich dumm. Bin kein Schriftsteller, habe beschrieben, was ich gesehen habe, mir was ausdenken kann ich nicht. Dabei kommt einfach nichts raus, glauben Sie´s mir. - Damit endete unser Gespräch." Und zehn Jahre später? Nekrassow: " (...) das war schon nach dem XX. Parteitag, bat mich der Leiter des Militärverlages `Wojenisdat´  fast unter Tränen zu sich, die zwei, drei Zeilen zu streichen, wo bei mir Offiziere über Stalin sprechen. Ich lehnte ab. Und zwar nicht aus Liebe zu Stalin, versteht sich."

Übrigens: Die  (etwas mehr als zwei, drei) Zeilen über Stalin lauten: "`Was muß er doch für einen Willen haben...´, sagt Schirjajew, ohne aufzublicken. `Wahrhaftig...´ - `Wer?´ - Ich verstehe nicht. - `Stalin natürlich. Zwei solche Rückzüge aufzuhalten. Überleg doch mal! Im Jahre einundvierzig und jetzt hier... Es fertigzukriegen, sie von Moskau fortzujagen. Und hier aufzuhalten. Wie lange stehen wir schon hier? Den dritten Monat? Und die Deutschen können nichts machen mit allen ihren Junkers und Heinkel. Und da nach einem solchen Durchbruch. Nach den Julitagen... Wie mag ihm da zumute gewesen sein? Was denkst du? Das zweite Jahr schon leisten wir diese schwere Arbeit. Er aber denkt für alle. Wir halten da fünf- bis sechshundert Meter und schimpfen schon. Hier ist es nicht recht, und dort ist es nicht gut, und das Maschinengewehr frißt sich fest. Aber er - für die ganze Front... Wahrscheinlich hat er nicht einmal Zeit, die Zeitung zu lesen. Was meinst du, Kershenzew, hat er Zeit dazu oder nicht?´ - `Ich weiß nicht. Ich denke, daß er trotzdem Zeit dazu hat.´ -`So, meinst du? Nun, ich denke, er hat keine Zeit dazu. Du hast es gut. Sitzt im Unterstand, rauchst Machorka. Gefällt dir was nicht, kriechst du raus, fluchst, drohst auch manchmal mit der Pistole... Kennst alles in- und auswendig. Jeden Hügel, jeden Höcker hast du kreuz und quer durchkrochen. Und was hat er? Eine Karte! Und darauf Fähnchen: Geh, find dich zurecht. Und behalt alles im Kopf - wo angegriffen wird, wo gehalten wird, wo zurückgegangen wird. Und siehe da - er hält uns alle... Und wird uns zum Siege führen. Wirst schon sehen!´ Schirjajew steht auf. `Spiel was, Karnauchow. Die Gitarre hängt sonst so einsam an der Wand und ist traurig.´"

Ja, Viktor Nekrassow war kein Schriftsteller; er hatte eine Fachschule für Eisenbahnbau besucht, studierte Architektur und arbeitete als Architekt, Schauspieler, Regisseur und Bühnenbildner. Er war weder bei den Pionieren noch bei den Komsomolzen. "Ich hatte zu ihnen dasselbe ironische Verhältnis wie zur Sowjetmacht. (...) Das Jahr siebenunddreißig überstanden wir wie durch ein Wunder heil. Ein Rätsel. Meine Eltern gehörten als Adlige zu den  `Ehemaligen´. (...) Ich absolvierte das Institut und das Theaterstudio. Anschließend arbeitete ich an einem Theater. Einem halb illegalen Wandertheater. (...) Mein letztes Theater war in Rostow am Don. Das Theater der Roten Armee. Von hier holte man mich zur Armee. In den Krieg."

 In seinem Buch Stalingrad, das vor seiner Umbenennung "In den Schützengräben von Stalingrad" hieß, beschreibt er, was er sah. Er und seine Helden kennen nicht mehr, als sie aus dem Blickwinkel der im Schützengraben kämpfenden sowjetischen Soldaten und Offiziere sahen: den schmalen Abschnitt vor sich, die Verteidigungsgräben, den Unterstand im Keller eines zerschossenen Hauses. Zwei Figuren charakterisiert Nekrassow besonders gut: Den Armenier Charlamow, seinen früheren Stabschef, und Wolegow aus dem fernen Altai, den alle nur Walega nennen. Nekrassow findet Charlamow mit den schwarzen Augen nach einem Gemetzel verwundet auf dem Schlachtfeld, einige Schritte von seinem Trichter entfernt. Der Verwundete stöhnt. "Schwarze, lockige Haare, schrecklich bekannt. (...) Er stirbt ganz ruhig, hört einfach auf zu atmen. (...) Er hat den Tod sehr gefürchtet. (...) Mir fällt ein, daß ich ihm seine Papiere abnehmen muß. (...) Ich hätte mir niemals träumen lassen, daß Charlamow so ordentlich ist. Als er bei mir im Stab war, hat er stets alles vergessen und verloren." - Walega ist klein, ausdauernd wie ein Maulesel, ein gebürtiger Altaier. Er, achtzehn Jahre alt, ist die Ordonanz von Nekrassow, achtundzwanzig Jahre alt. "Walega (...) kann Haare schneiden, rasieren, Schuhe reparieren, bei strömendem Regen Feuer anmachen. Jede Woche wechsle ich die Wäsche, die Socken stopft er so, daß man nicht feststellen kann, wo das Loch war. Lagern wie am Flusse, so gibt es täglich Fisch, lagern wir im Walde - Walderdbeeren und Pilze. Alles tut er schweigend, ohne eine Mahnung meinerseits. In den fünf Monaten unseres gemeinsamen Lebens hatte ich nie Gelegenheit, mich auch nur ein einziges Mal über ihn zu ärgern. Jetzt marschiert er neben mir, mit seinem weichen, geräuschlosen Jägerschritt."

Im Gegensatz zu Plieviers "Stalingrad", das ausschließlich auf der deutschen Seite der Front spielt, berichtet Nekrassow ausschließlich über das Frontgeschehen auf russischer Seite. Auch hier wird gestöhnt, gestorben, gehungert... Aber es war doch nicht ganz so dramatisch wie bei der eingekesselten deutschen 6. Armee.

Nekrassow war im zweiten Weltkrieg zuerst Führer eines Panzerzuges, später Regimentsingenieur und stellvertretender Kommandeur eines Pionierbataillons. Er wurde 1944 verwundet und begann im Lazarett seinen Roman zu schreiben, der 1946 erschien (1956 unter dem Titel "Die Soldaten" verfilmt). Nekrassow wurde in den Schriftstellerverband aufgenommen; 1947 erhielt er den Stalinpreis. In den folgenden Jahren geriet er immer wieder ins Feuer der offiziellen Kritik. 1974 emigrierte er nach Frankreich, er starb 1987 in Paris.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 

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Am 31.03.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Mit der Schlinge um den Hals ist schlecht aufmucken.
Sprichwort der Altaier

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