Belletristik REZENSIONEN

Im weißrussischen Ghetto von Minsk

Paul Kohl
Schöne Grüße aus Minsk
Droemer Verlag, München 2001, 508 S.
Über die Besetzung von Minsk (Belarus/Weißrussland)
Ich wüsste nicht zu sagen, wie viele Bücher ich schon gelesen habe zum Thema Judenverfolgung im Dritten Reich. Nun wieder eines: Schöne Grüße aus Minsk, ein dicker Wälzer - den man nicht unbedingt gelesen haben muss, finde ich..

Paul Kohl, geboren 1937, war Dramaturg und Regisseur an mehreren Theatern und schrieb zahlreiche Features für den Rundfunk. 1995 erschien sein erstes Sachbuch "Der Krieg der deutschen Wehrmacht und der Polizei 1941-1944", 2001 kam sein erster Roman (so steht´s im Buch) Schöne Grüße aus Minsk heraus. Ein Roman ist Schöne Grüße aus Minsk allerdings ganz sicher nicht. Eher könnte man das Buch als einen dokumentarischen Roman bezeichnen. Aber mir scheint, dass es sich hier um eine belletristisch angehauchte Dokumentation handelt, die gut recherchiert ist, aber literarisch nicht genügt.

Kohl hat seit 1985 zahlreiche Zeitzeugen befragt, u. a. Jelena Grigorjewna Masanik, eine Weißrussin, die die Kontaktperson zur Widerstandsgruppe im jüdischen Ghetto war und das Attentat auf Wilhelm Kube ausführte, den Generalkommissar für Weißruthenien. (Ruthenen ist die frühere Bezeichnung der in der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie - besonders in Obergalizien - lebenden Ukrainer.)

Paul Kohls "Roman" beginnt in Deutschland, in Köln. Es geht hier um eine deutsche Familie - Vater, Mutter und der erwachsene Sohn Felix - und um eine jüdische Familie - Vater, Mutter, die erwachsene Tochter Hilde und den erwachsenen Sohn Adolf. Sie wohnen im selben Haus, sind Nachbarn. Die deutsche Jüdin Hilde und der Deutsche Felix kennen sich von klein auf, als Jugendliche verlieben sie sich ineinander. Seit 1933 ist die jüdische Nachbarfamilie Deutschmann den Schikanen der Nazis ausgesetzt, im Juli 1942 werden die Deutschmanns zusammen mit Tausenden anderen deutschen Juden in das von den Deutschen besetzte Minsk deportiert, ins Jüdische Ghetto. Felix, der von seiner Redaktion den Auftrag erhalten hat, über einen Kindertransport zu schreiben, entdeckt den Zug der Deutschmanns und findet auch Hilde. Doch er ist nervös, hat keine Zeit... Zwischen seinen privaten Gefühlen und dem journalistischen Auftrag hin und her gerissen, verabschiedet er sich hastig von Hilde, obwohl er nicht weiß, ob er sie jemals wieder sehen wird. Diese Szene geht unter die Haut - wie eine ganze Reihe weiterer Szenen dieses Buches. Doch in allen Episoden und im Buch insgesamt wird geschildert und berichtet, nicht gestaltet. Außerordentlich störend finde ich auch, dass zwischen Wahrem und Fiktivem nicht zu unterscheiden ist. Und das bei dieser brisanten Thematik! Auch die Rückblenden von Hilde an Felix, in denen sie gemeinsame Erlebnisse aufzählt und die sich immer weiter steigernden Schikanen der Nazis auflistet - jeweils beginnend mit "Weißt du noch"? oder "Erinnerst du dich?" - wirken außerordentlich ungeschickt, an manchen Stellen (wenn es um intime Beziehungen zwischen ihr und Felix geht) mehr als kitschig. Warum? Wahrscheinlich, weil sich Felix natürlich an diese einschneidenden Erlebnisse erinnern kann und es bei dieser "Machart" lediglich darum geht, den Leser zu informieren, statt das Geschehene literarisch gestaltet einzubauen.

Einige Tag nach dem Abtransport der Deutschmanns erhält der junge Journalist Felix seine Abkommandierung zur "Minsker Zeitung", dem NS-Propagandablatt für das besetzte Weißrussland. Schon auf der Zugfahrt nach Minsk erlebt er schrecklich brutale Szenen, sieht mit eigenen Augen, wie Juden, die flüchten wollen, zusammengeschossen werden. Und auch den Zug mit dem Judentransport entdeckt er wieder, der mit großer Verspätung unterwegs ist.

In Minsk gerät Felix schnell unter Druck; denn sowohl der weißrussische Widerstand (mit Jelena Masanik) als auch der deutsche Generalkommissar Wilhelm Kube setzen ihn für ihre Zwecke ein. Einerseits hilft Felix also der Widerstandsbewegung im Ghetto (wo er Hilde wieder trifft und verspricht, sie und ihre Familie aus dem deutschen Sonderghetto innerhalb des weißrussischen Judenghettos herauszuholen.), andererseits spioniert er für Kube. Wie er dabei zum Mörder wird, ist scheußlich. Und ob er Hilde wirklich liebt - obwohl er allzu gerne mit Jelena schlafen würde (die ihn nicht lässt) und mit der Sekretärin Erna Siebeck (die ihn lässt). Ich weiß nicht, ob es das Unvermögen von Felix ist, glaubhaft erschüttert zu wirken (z. B. als er sieht, wie Hilde in den grauen Gaswagen gestoßen wird, einem Kastenwagen, wie er ihn bei seiner Ankunft in Minsk sah: jener mit der roten Aufschrift "Kaisers Kaffee" und daneben die rote lachende Kaffeekanne...) oder Unvermögen des Autors, der doch besser bei Dokumentationen bleiben sollte, deren Metier er gut beherrscht.

Ein russischer Freund machte mich kürzlich auf das Buch "Das Blut" von Anatoli Asolski aufmerksam, das sich ebenfall mit dem Attentat auf Kube beschäftigt. Es soll außerordentlich spannend und gut geschrieben sein. Vielleicht findet sich bald ein deutscher Verlag, der es herausbringt...

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de 

 

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Am 13.09.2005 ins Netz gestellt.  Letzte Bearbeitung am 22.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Wer Ruhe finden will, muss blind, taub und stumm sein.
Sprichwort der Belarussen (Weißrussen)

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