Die Rote Armee 1939 bis 1945
Aus dem Englischen von Hans Günter Holl
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2006, 474 S.
Mein Wissen über den Großen Vaterländischen Krieg stammte bis zur Wende
aus Kriegsfilmen und Büchern russischer Autoren.
Nekrassow fällt mir da
ein, Kusnezow, Twardowski, Bykau,
Granin, Bondarew; zum Maß aller Dinge
avancierte Konstantin Simonows Romantrilogie "Die Lebenden und die
Toten", deren erster Band bereits 1969 in 12. Auflage mit
insgesamt 207 000 Exemplaren erschienen war, 1988 kam die 18. Auflage
heraus. Es wurden in der DDR an die hundert Werke russischer Autoren zur Thematik des
zweiten Weltkrieges verlegt. Heute, nachdem ich
Beevor,
Gelfand,
Jahn... gelesen habe, frage ich mich, inwieweit die in der DDR
erschienenen Bücher - die alle schon die russische Zensur durchlaufen
hatten - authentische Kriegserfahrungen boten? Ganz sicher waren sie
allzu heroisch und ganz sicher allzu einseitig darauf abgestimmt, dass
die Rote Armee "wie ein Mann" zusammenstand. Nichts da von
kriegsmüden, desertierenden, panischen, traumatisierten sowjetischen
Soldaten in der Roten Arbeiter- und Bauernarmee. Ausgespart wurden auch
Plünderung, Raub, Mord... an der einheimischen Bevölkerung im
Hinterland, um an Nahrungsmittel zu kommen, und der Schrecken der
Befreiung durch die Rote Armee an der deutschen Zivilbevölkerung mit
Plünderung, Raub, Mord, Vergewaltigung aus Rachedurst.
"Es entstand eine Gruppendynamik
zwischen den Männern. Und die Frauen, die das alles erleiden mussten,
spielten dabei keine Rolle. Sie waren reine Objekte, Projektionsflächen
des Hasses - keine Individuen mehr", schreibt Merridale.
Auch von ethnischen Spannungen liest man in den Briefen der Soldaten,
die Merridale zitiert. Ein
Infanterist beklagte damals, nur die Russen würden noch kämpfen, "die
meisten Ukrainer sind gar nicht erst angetreten".
Und noch fast sechzig
Jahre später lästerte ein Interviewpartner Merridales, dass die
"Leutchen aus Zentralasien [Mittelasien]"
sich "regelmäßig zu Boden warfen und mit ihrem `Oh Allah!´ anfingen", statt zu kämpfen.
Natürlich hatte man aus der DDR-Buchlektüre auch nichts über das "Geheime Zusatzprotokoll
zum Hitler-Stalin-Pakt" erfahren, und nichts stand in den Büchern über
den Stalinschen "Befehl 227" vom 28. Juli 1942 - über das
Erschießen der eigenen Leute bei Fahnenflucht; erst 1988 wurde dieser Befehl im Rahmen von
Gorbatschows
Glasnost publik. Dass sich der (verständliche) Deutschen-Hass in den
Büchern als Hass gegen die Faschisten kundtat, ist oft den jeweiligen
Übersetzern zu danken, die angewiesen worden waren, aus "Deutsche"
"Faschisten" zu machen und die deftigsten russischen Schimpfwörter (die
so genannten Mutterflüche) zu entschärfen. Nicht von ungefähr warnt
Catherine Merridale vor "Memoiren, Romanen und anderen literarischen
Texten", weil gerade in Kriegserinnerungen die "sowjetische Zensur
schwer gewütet" habe. Erstmals las ich, dass insgesamt mehr als
tausend Schriftsteller und Künstler am Krieg teilnahmen, um von der
Front zu berichten, der bekannteste unter ihnen war Ilja Ehrenburg;
vierhundert ließen im Krieg ihr Leben.
Catherina Merridale geht in Iwans Krieg bis zum Winterkrieg
mit Finnland von 1939/40 zurück. In diesem Krieg hatte die russische
Armee ihre eigenen Kräfte völlig überschätzt, ohne daraus Konsequenzen
für den zweiten Weltkrieg zu ziehen. Wenn man alle Verluste der
Roten Armee
zusammenzählt, wurde sie mindestens zweimal völlig vernichtet und
wieder erneuert. Schon Ende 1941 - also ein halbes Jahr nach dem deutschen
Überfall vom 22. Juni 1941 - hatte die Rote Armee Verluste von
viereinhalb Millionen Mann erlitten, im gesamten Krieg starben acht Millionen Soldaten.
Über die Schicksale der insgesamt dreißig Millionen Soldaten der teils in
Fußlappen marschierenden Armee, über ihre Lebensbedingungen und
Vorstellungswelten, weiß man trotz der so zahlreich aufgelegten
russischen Kriegsromane wenig. Sie blieben, so stellt die Historikerin Merridale fest,
verborgen hinter der großen in viele wuchtige Denkmäler
gegossenen Erzählung vom heldenhaften Sieg. Die einseitige
Berichterstattung änderte sich erst mit dem Ende des Kalten Krieges, als
in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion die Archive geöffnet wurden.
Erstmals konnten Historiker nun die von der Zensur abgefangenen
Schreiben sowjetischer Soldaten und vor allem die Stimmungsberichte der
Politabteilungen der Roten Armee und des NKWD einsehen. Diese Dokumente
machen den besonderen Wert des Buches Iwans Krieg aus, da in
ihnen festgehalten ist, wo die Sicht der Soldaten nicht mit der
parteioffiziellen Lesart des Krieges übereinstimmte.
Man ist erschüttert, in welchem Maße die sowjetischen Soldaten
nicht nur Angst vor der "faschistischen Bestie" hatten, sondern auch vor
der eigenen Führung, die sie - ohne einen Gedanken an den Einzelnen zu
verschwenden - als Kanonenfutter missbrauchte. "Auf jeden toten
Deutschen", schreibt Merridale, "kamen zwanzig
[tote] sowjetische Soldaten." - "Ein Menschenleben",
schreibt die Autorin, zählte "im historischen Maßstab wenig, jedenfalls
im Vergleich mit den staatlichen Interessen". Entsprechend dieser
Einstellung wurden die Rotarmisten konsequent überfordert. Während ihre
deutschen Gegner zum Beispiel regelmäßig Fronturlaub bekamen, sahen sie
ihre Heimat erst nach dem Waffenstillstand vom 8. Mai 1945 wieder.
Und wie stand es mit den Frauen an der Front? Die achthunderttausend Frauen wurden von ihren
Frontkameraden meist belächelt und herablassend behandelt. "In der
Armee behandeln sie Frauen wie Schallplatten", schrieb ein junger Mann
1943, "spielen sie immer wieder ab und werfen sie dann weg."
Dabei machten "Scharfschützinnen oder die Pilotinnen von Marina Raskowas rein
weibliches 588. Nachtbomber-Geschwader, das seine ersten Einsätze im
Sommer 1942 flog, Schlagzeilen, "in dem sie eigene Maßstäbe an
Opferbereitschaft, Standesehre und Patriotismus setzten".
Besonders verdienstvoll ist, dass Catherine Merridale
umfangreich recherchiert hat, was das soziale Umfeld der Soldaten der
Roten Armee betrifft, ihren Bildungsstand, ihre Werteerziehung; die
meisten Soldaten kamen aus dem Bauernstand. Sie hatten Revolution,
Bürgerkrieg, Klassenkampf, Hungersnot, Zwangskollektivierung, Säuberung
hinter sich. Antony Beevor, der Autor von
"Stalingrad" urteilt über Iwans Krieg: "Catherine Merridales Buch über das Leben der
Soldaten der Roten Armee ist beispiellos in seiner Herangehensweise -
eine faszinierende und wichtige Arbeit." Und Anne Applebaum, Autorin von
"Der Gulag" äußert: "Einzigartig und von
unschätzbarem Wert, geschrieben mit einer beeindruckenden Leidenschaft."
Eigenartig finde ich, dass die Merridale als ein Motiv für die
Massenvergewaltigung von Frauen in Polen, Ungarn, Deutschland ansieht,
dass die Täter nicht nur von Rachegefühlen, sondern auch vom Misstrauen
gegen ihren möglicherweise untreuen eigenen Frauen getrieben wurden. Sie
hätten, so schreibt sie, das Bedürfnis gehabt, die eigene "labile
Männlichkeit zu bestätigen".
Überrascht hat mich beim Lesen ihres
Buches, daß die UdSSR (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken) 1918
gegründet worden sei, obwohl doch geschichtlich verbürgt ist, dass dies erst
vier Jahre später geschah. Verblüfft hat mich, den Schriftsteller Demjan Bedni als Schreiberling Stalins diffamiert zu sehen. Erstaunt habe ich
zur Kenntnis genommen, dass Shukows legendärer weißer Hengst im Buch zu
einem grauen mutiert. Geärgert habe ich mich über solche sinn-
und witzlosen Sätze wie: "Als kommunistische Pflanzungen müssen
sie [die Bäume] wie in allen russischen
Städten, gleichsam strammstehen."
In ihrer Danksagung schreibt Catherina
Merridale - seit 2004 lehrt sie an der Queen Mary University in London
- dass "Das Leben der Soldaten im Krieg" für sie ein neues
Forschungsgebiet war, und sie gesteht, dass sie eine ausgesprochen
unmilitärische Frau sei - was man nach der Lektüre ihres Buches nicht glauben
mag. Jedenfalls ist ihr Buch das erste Buch einer Historikerin, das über
das Leben des gewöhnlichen russischen Soldaten, von den Russen selbst
"Iwan" genannt, aufklärt, über die brutale Wirklichkeit seines
alltäglichen Lebens, seine Träume und sein Sterben. Erstmals wird
nachvollziehbar, wie die Mischung aus Mut, Patriotismus, Furcht und
Rachsucht zustande kam, mit der die Kämpfer der Roten Armee Hitler
besiegten. In ihrer Heimat wurden die Kriegsveteranen zu Helden
verklärt. Helden ohne Chance, keine Helden zu sein. Über das, was sie
wirklich erlebt haben, sprachen sie kaum. Catherine Merridale hat den
Rotarmisten in ihrem Buch die Menschlichkeit zurückgegeben.
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