Sachbuch REZENSIONEN

"Den einen fehlt die Kraft zum Schreien, den anderen die Kraft zum Schweigen"

Über Stalingrad
Im Kessel
Erzählen von Stalingrad
Piper Verlag, München/Zürich 2002, 394 S.

Bei Plievier hatte ich gelesen: "Wenig Großstädter bei der ganzen Stalingradarmee. Die meisten sind Bauern oder Halbbauern." Bei Carl Schüddekopf erzählen über Stalingrad ein Hilfsarbeiter (Jahrgang 1921 aus dem Ruhrgebiet), ein Sportstudent (Jahrgang 1914 aus Oberschlesien), ein Briefträger (Jahrgang 1923 aus Ostpreußen), ein Schuhmacher (Jahrgang 1922 aus den Rheinlanden), ein Kraftfahrer (Jahrgang 1920 aus dem Kohlerevier von Aachen) ein Arzt (Jahrgang 1911 aus Stuttgart), ein Landmaschinenschlosser (Jahrgang1920 aus Thüringen) und ein Abiturient (Jahrgang 1922 aus der Nähe von Breslau); ein Bauer ist nicht dabei...

Theodor Plieviers Buch, das erste, das über Stalingrad geschrieben wurde, erschien bereits 1943/44 in Fortsetzungen in der von Johannes R. Becher herausgegebenen Moskauer Exilzeitschrift "Internationale Literatur/Deutsche Blätter" und berichtet ausschließlich von der deutschen Seite der Front. Viktor Nekrassow, stellvertretender Bataillonskommandeur auf sowjetischer Seite, schrieb sein Buch "Stalingrad" während eines Lazarettaufenthaltes, es erschien 1946, geschrieben aus eigenem Erleben von der sowjetischen Seite der Front. Sechzig Jahre später erzählen bei Carl Schüddekopf acht ehemalige Stalingradkämpfer, damals zwischen achtzehn und achtundzwanzig Jahren, von ihren Erlebnissen. Sechzig Jahre nach dem Erlebten! Um es gleich vorwegzunehmen: Es ist erschütternd, wie viele Einzelheiten allen im Gedächtnis geblieben sind, wie viele grausame Einzelheiten!

Für Fritz Schreiber, dem damaligen Hilfsarbeiter, wird Krieg (anfangs) zum Synonym von Vormarsch. Ohne einen einzigen Toten gelangt seine Batterie bis weit in den Osten der Ukraine. "(...) Hundertundsechzig Raketen, in den einen war Flammöl und in den anderen Sprengstoff. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Eine schreckliche Wirkung. Die Menschen verbrannten und wer nicht verbrannte, dem wurde durch den Luftdruck die Lunge zerrissen."

Überraschend, dass die meisten der acht Zeitzeugen auch von den Stalingrader Zivilisten erzählen (die bei Plievier nahezu gar nicht, bei Nekrassow äußerst selten vorkommen). Schreiber (der Hilfsarbeiter): "Auf dem Weg sind wir manchmal Frauen begegnet, Zivilisten, dick eingepackt, die konnten auch nur nachts raus. Sie hockten in irgendwelchen Kellern wie wir." Pribatsch (der Sportstudent): " (...) Wenn wir in der Steppe, aber auch schon vorher, ein Dorf angriffen und das verteidigte sich, dann kamen unsere schweren Waffen und haben das Dorf zusammengeschossen. (...) Das beeindruckte mich, wenn wir dann in das Dorf zogen und da waren brennende Häuser und die armen Mütter saßen mit ihren Kindern etwas weiter weg und weinten. Das war ganz übel von uns." König (der Schuhmacher): "Da steh ich vor einem halb zerstörten Bahnwärterhäuschen und sehe dort Zivilisten sitzen, alte Leute. Sie waren arm dran. Halb verhungert, jammernd und in ihren Lumpen frierend saßen sie dort und kochten über einem kleinen Feuer in einem  Topf Pferdefüße." Vogt (der Arzt): "Ein Posten wurde mit uns in die Dörfer geschickt, und wir haben von den Bauern Herdplatten und Kochtöpfe geholt. Wir, die deutschen Gefangenen, klauten unter militärischer Bewachung den armen Leuten, die sonst auch nichts hatten, ihr Kochzeug." Lohstein (der Abiturient): "Manchmal kamen die Alten mit einem Tee, den sie aus immer wieder aufgekochten Blättern gemacht hatten. Wir saßen da zusammen und hinterher hab ich ihnen das Haus über dem Kopf abreißen lassen."

Erstaunlich, was die Zeitzeugen über die feindlichen Russen zu erzählen haben: Schreiber: "Ich war überrascht, wie menschlich die Russen waren." - "Ich hab von den Russen nur Gutes erfahren. Sie haben mich gut behandelt. Sie waren human." Priebatsch: "Was die Propaganda über die Russen erzählte, von ihrer Grausamkeit, von ihrer Bestialität, das hab ich nicht geglaubt. Es gab sicher Kommissare, die verrückt spielten, aber das waren einzelne und solche, die es auch bei den Deutschen gab." - "Ab und zu steckten sie uns auch so ein paar Pellkartoffeln zu, aber nur sehr selten. Sie hatten selbst nichts. Horn: "Die Angst vor den Russen wurde von allen Seiten geschürt, nicht nur von den Offizieren. Die Russen machen keine Gefangenen, die Russen sind Barbaren. Sie waren aber genauso arme Schweine wie wir." König: "Die Verpflegung von den Russen war auch nicht dolle. Die kriegten Brot, ein klebriges Zeug, ein Stück Speck und ein Stück Zucker." Scheins (der Kraftfahrer): "Später in den Lagern bin ich von den Russen aber nie geschlagen worden." - "Die Russen waren ja Drecksäcke, aber es waren auch gute Leute dabei. Mehr Gute wie schlechte." Vogt: "Aber dann kam man in die Dörfer und sah, wie die Russen, die von der Propaganda als Untermenschen geschildert wurden, lebten. (...)  die sind ja wie unsere Bauern, die sind wie wir auch. "Die Russen hatten selbst nichts, aber wenn sie etwas aus dem Hinterland bekamen, gaben sie uns manchmal auch etwas." Lohstein: "Wo sich etwas bewegt, wurde geschossen, es war auf beiden Seiten hart geworden, obwohl man ja inzwischen begriffen hatte, da sind gegenüber genau solche wie wir, denen es auch nicht besser geht." - "Wir erlebten das erste Mal Asiaten und schlossen Freundschaft mit ihnen. Obwohl es fast keine sprachliche Verständigung zwischen uns gab, habe ich sehr gute Erfahrungen gemacht mit den Menschen dort und mit dem Leben, das sie führten."

In allen Augenzeugenberichten gibt es Geschehnisse, die einen wegen ihrer Unmenschlichkeit in Erinnerung bleiben werden. Aber am nachhaltigsten beeindruckt doch die "Erzählung" des Arztes Jakob Vogt, der sich entschlossen hatte, den Befehl, dass kein Offizier lebend in Gefangenschaft gehen dürfe, zu ignorieren. Er erzählt von Kannibalismus unter den deutschen Soldaten (der auch bei Plievier erwähnt wird): "Die Leute gingen hin und tranchierten die Leichen. Sie schnitten ihnen die Arschbacken raus und haben sie gekocht."

In Ausstellung und Buch "Stalingrad erinnern" wird ausführlich darüber berichtet, wie mit den eigenen sowjetischen Soldaten umgegangen wurde, wenn sie beim Desertieren geschnappt wurden - auf Befehl Stalins. Aber vergessen wir nicht, auch auf deutscher Seite wurden Soldaten (es waren nicht wenige) wegen "Feigheit vor dem Feind" erschossen - auf Befehl Hitlers. In Im Kessel erzählt u. a. der Postangestellte Hans Horn: "Morgens kommt der Befehl, daß sich alle Soldaten bis auf die MG-Besatzungen beim rückwärts gelegenen Gefechtsstand des Regiments zu melden haben. Von dort geht es auf eine freie Fläche vor einer fast senkrecht aufsteigenden Felswand, wo die Männer Aufstellung nehmen und zuschauen müssen, wie ein verheirateter fünfunddreißigjähriger Mann, Vater von zwei Kindern, wegen `Feigheit vor dem Feind´ erschossen wird."

Im Kessel ist außerordentlich gut recherchiert. Man erfährt über alle acht Personen auch, was sie vor dem Krieg machten, und wie es ihnen nach dem Krieg ergangen ist. Zugang zu den porträtierten Personen erhielt Schüddekopf vorrangig durch einen Zeitungsartikel, der auf seinen Versuch aufmerksam machte, mit ehemaligen Soldaten der Wehrmacht zu sprechen, die sich im Kessel von Stalingrad befunden hatten. Außerdem bekam der Autor Hinweise über Dritte  auf Verwandte oder Bekannte, die in Stalingrad gewesen waren. "Schließlich haben elf zugestimmt, daß ich sie zu Hause besuchte. Den anderen war ein Gespräch über ihre unmittelbare Kriegserfahrung hinaus zu viel."

Ein Fehler sei angemerkt: Der KGB war das Komitee für Staatssicherheit, nicht, wie Schüddekopf in der Anmerkung (auf S. 188) schreibt, das Komitee für Stabssicherheit.

Carl Schüddekopf (in Hamburg 1946 geboren), studierte Soziologie und Psychologie in Berlin, war Lektor und Publizist; der Schwerpunkt seiner Arbeit war seit den späten siebziger Jahren der Nationalsozialismus. Heute arbeitet Schüddekopf als Schriftsteller. Seine letzte Veröffentlichung ist "Krieg. Erzählungen aus dem Schweigen. Deutsche Soldaten über den Zweiten Weltkrieg", 1998.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 

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  • Tschingis Aitmatow, Das Wiedersehen mit dem Sohn, Hörbuch.
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  • Wladimir Gelfand, Deutschland-Tagebuch 1945-1946.
  • Heinrich Hoffmeier, Ich habe keine Hoffnung mehr. Soldatenbriefe aus Russland 1942-1943.
  • Peter Jahn (Hrsg.), Stalingrad erinnern.
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  • Jelena Koschina, Durch die brennende Steppe.
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  • Catherine Merridale, Iwans Krieg.
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  • Viktor Nekrassow, Stalingrad.
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  • Theodor Plievier, Stalingrad.
  • Theodor Plievier, Stalingrad, Hörbuch.
  • Willy Peter Reese, Mir selber seltsam fremd. Russland 1941-44.
  • Alexander Solschenizyn, Heldenleben. Zwei Erzählungen.

Am 31.03.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Gut sein, aber als schlecht zu gelten, ist besser als schlecht sein und für gut gehalten zu werden.
Sprichwort der Russen

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