Sachbuch REZENSIONEN | |
"Ich habe Glück mit den Menschen..." | |
Michail Chodorkowski | Russe |
Briefe aus dem Gefängnis | |
Mit einem Essay von Erich Follath
Aus dem Russischen von Birgit Veit und Ganna-Maria Braungardt Mit Fotos Albrecht Knaus Verlag, München 2010, 285 S. |
Als ich Chodorkowskis Briefe aus dem Gefängnis las, kam mir immer wieder das Buch
"Das Maß der Freiheit"
von Alexander Panikin in den
Sinn. In meiner Rezension - aus dem Jahre 2000 - schrieb ich: "Bis jetzt
kannte ich Tellerwäscher-Karrieren vorrangig aus Amerika. Nun kennt man auch eine aus
Russland." Das Buch des russischen Millionärs Panikin ist
die Lebensgeschichte des ersten legalen Unternehmers
Russlands - während
Gorbatschows Perestroika-Zeit. Panikin hat
seine Millionen mit Textilien gemacht.
Ein anderer Russe, Michail Chodorkowski, hat eine "Tellerwäscher-Karriere" vom Funktionär der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol zum reichsten Mann Russlands hinter sich. Chodorkowski wurde Milliardär in den chaotischen neunziger Jahren - nach dem Zerfall der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Chodorkowski hat seine Milliarden mit Öl gemacht. Chodorkowskis Buch beginnt mit rührenden Briefzeilen an die Mutter: "Meine gute, liebe Mamulja", bittet der Sohn, "Du musst nicht nur aushalten, bis ich zurückkomme, sondern mir dabei helfen, das, was in diesen Jahren zerstört worden ist, wieder aufzubauen. Ich hoffe sehr auf Dich." Was ist "in diesen Jahren" für Chodorkowski zerstört worden? Alles! Seine mit "vierzehnstündiger Arbeit täglich" und sicherlich nicht immer mit ganz legalen Mitteln (Was war in den Neunzigern legal, was nicht?) aufgebauter Ölkonzern Jukos, das Leben der Eltern, seiner Frau und seiner vier Kinder. Warum? Weil es Putin so gefiel? "An Chodorkowski klebt Blut", soll der Ministerpräsident Russlands 2010 gesagt haben, "der Dieb gehört hinter Gitter." Und auch die Worte, Chodorkowski solle "die Schleimsuppe" der Gefängnisse "löffeln" werden Putin zugeschrieben. "Ich bin", sagt Chodorkowski von sich, "keineswegs ein idealer Mensch, aber ich bin ein Mensch der Ideen. Und Ideen, Tatkraft, Durchhaltevermögen waren in den russischen neunziger Jahren durchaus gefragte Charaktereigenschaften. In dem Buch-Kapitel "Warum ich dieses Buch geschrieben habe" kann man die Karriere des 1963 in Moskau Geborenen nachverfolgen. "Ich komme", sagt er da, "aus einer ganz normalen sowjetischen Ingenieursfamilie, habe eine ganz normale sowjetische Schule besucht, habe studiert [Chemie und Volkswirtschaft], war im kommunistischen Jugendverband und bin nur durch Zufall mitten in die revolutionären Umwälzungen der neunziger Jahre geraten und zu einem Mitgestalter des neuen russischen Staates geworden." 1989 hat Chodorkowski eine der ersten Privatbanken Russlands gegründet, stand als Berater der ersten russischen Regierung Boris Jelzin nahe, hat zusammen mit dessen Leuten 1991 das Weiße Haus verteidigt, gehörte 1992 zum Beraterstab Jelzins, war 1993 stellvertretender Energieminister und gehörte 1996, während der schwierigen Wahlen, wiederum zu Jelzins Mannschaft. "Wir versuchten, einen neuen demokratischen Staat aufzubauen, die Gesellschaft zu erneuern, und wir haben uns im Laufe dieses Kampfes auch selbst verändert." Er habe, schreibt Chodorkowski, erst allmählich gelernt, was Demokratie wirklich heiße, was eine moderne Wirtschaft ausmache, wie man als Bürger seine Verantwortung wahrnehmen und sich auch für soziale Belange einsetzen müsse. 1997 wurde Chodorkowski Vorstandsvorsitzender des Ölkonzerns Jukos. Mit großer Dankbarkeit denke er in diesem Zusammenhang an die Mitglieder des Konzernvorstandes von Jukos [...] Im Aufsichtsrat von Jukos saßen im Jahre 2002 drei Franzosen, der Büromanager war Norweger, der Vizepräsident Amerikaner. "Sie haben mir weit mehr vermittelt als ein Verständnis für globale Wirtschaft, internationales Finanzwesen und gutes kooperatives Management." 2001 initiierte Michail Chodorkowski die Stiftung "Offenes Russland", die in der etwa vierzig Kilometer von Moskau entfernten Ortschaft Koralowo ein Internat für bedürftige und obdachlose Kinder unterhält, das derzeit von Chodorkowskis Eltern verwaltet wird. Seine Auslassungen zur "Chancengleichheit" der Kinder Russlands haben mich sehr angerührt: "Ich werde alles tun, was ich kann, damit bei uns in Russland alle Kinder die gleichen Chancen bekommen. Das ist unerreichbar, wie jedes Ideal. Aber für dieses Ideal würde ich mein Leben geben.. Das `Recht auf eine Chance´ ist das Wichtigste, was wir allen Kindern in Russland geben müssen. Auf der ganzen Welt. Umweltschutz, Bildung, politische Freiheiten dienen nicht nur dazu, einen gewissen minimalen Lebensstandard und Komfort für jedermann zu gewährleisten, nicht nur dazu, den durchschnittlichen Lebensstandard anzuheben, sondern dazu, dass jedes Kind, jeder Mensch eine Chance bekommt, seine Möglichkeiten zu realisieren, unabhängig davon, in was für eine Familie (oder in welchem Land) er geboren wurde. - Für die ganze Welt kann ich keine Verantwortung übernehmen, aber für die nächste Generation in Russland kann und will ich kämpfen. Ich bin sicher, dass ist nicht nur eines der wichtigsten Ziele, sondern auch die wichtigste Ressource für die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft. - Darüber, was ich `danach´ tun werde, denke ich selten und nur abstrakt nach. Das wird sich zeigen. Tun, was man kann, muss man, wie ich finde, hier und heute, jeden Tag so, als sei es der letzte. Dann hat man keine Zeit, sich zu fürchten. Handeln, solange Kraft und Talent reichen, damit es später nicht `qualvoll schmerzt´ [Nikolai Ostrowski, "Wie der Stahl gehärtet wurde"], wenn du plötzlich erfährst, dass deine Zeit um ist..." Chodorkowski wollte "schon als Kind Betriebsdirektor werden. "Was im Grunde nicht verwunderlich ist: Meine Eltern haben ihr ganzes Leben in einem Betrieb gearbeitet, der Kindergarten gehörte zum Betrieb, das Ferienlager genauso, und der Betriebsdirektor war überall der wichtigste Mann." Als er dann "Betriebsdirektor", sprich Ölmagnat des mächtigen Jukos-Konzerns ist, merkte er, dass Macht und Geld nicht alles ist und erwog, sich 2008 aus diesem Posten zurückzuziehen. Doch: Am 19. Februar 2003 fand eine öffentliche Konferenz bei Päsident Putin statt, bei der es vor allem um das Thema Korruption ging. Im Auftrag des Russischen Unternehmer- und Industrieellen-Verbandes (RSPP) hielt Chodorkowski "eine sehr polemische, ehrliche Rede..." Schon im März begann die Strafverfolgung, Chodorkowski wurde zu Vernehmungen vorgeladen und im Juni zum ersten Mal festgenommen - wegen angeblicher Steuerhinterziehung und Diebstahl von Ölfördermengen in Sibirien und Moskau. "Man drängte mich förmlich dazu, das Land zu verlassen, doch ich lehnte eine Ausreise öffentlich ab. [...] Ob ich es bereue, dass ich vor der Verhaftung nicht einfach ins Ausland gegangen bin? Das ist für mich eine ambivalente Sache. Die eine Hälfte von mir bereut es bis heute jeden Tag, den ich von meiner Familie und meinem Zuhause getrennt bin. Doch da ist die andere Hälfte, die für mein Pflichtgefühl steht, und die in Kategorien von Anstand und Verrat denkt; sie lässt mir keine Ruhe. Vielleicht sind meine Prinzipien idiotisch. Vielleicht müsste man flexibler sein. Sicher müsste man das. Aber meine Prinzipien sind nun einmal so. Ich hätte mich wahrscheinlich darüber hinwegsetzen können, aber wie ich dann hätte leben sollen, weiß ich nicht. So dass es zwei ehrliche Antworten gibt. Ja, ich bereue es jeden Tag. Nein, ich bereue es nicht, ich hätte mit der Emigration nicht leben können." 2006 (vom 14./15. Oktober) las ich in der "Berliner Zeitung" ein langes Interview mit Jurij Schmidt - dem bekannten russischen Menschenrechtsanwalt - über Antisemitismus in Russland, den neuen Stalinkult und seinen "berühmten" jüdischen Mandanten Michail Chodorkowski". War Chodorkowski bis dahin für mich einer von den stinkreichen Oligarchen, die ihr Geld wer weiß wie gemacht haben, so verfolge ich seit jenem Gespräch mit viel Sympathie, was mit und um Chordokowski geschieht; denn Jurij Schmidt, ein Überlebender der Leningrader Blockade, sagte in diesem Interview, dass er für die Verteidigung Chodorkowskis den Rest seines Lebens opfern würde. Und: "Wenn ich zumindest noch den Tag erleben kann, an dem er in die Freiheit zurückkehrt und meine Hilfe nicht mehr benötigt, dann werde ich das als würdigen Abschluss einer Rechtsanwaltskarriere auffassen." "Meine Verhaftung", schreibt Chodorkowski, "und die darauf folgenden Strapazen haben viel verändert, sowohl in mir selbst als auch an dem Bild, das sich der gebildete Teil der russischen Gesellschaft von mir gemacht hatte." Davon zeugt in diesem Buch auch der Briefwechsel mit Ljudmila Ulitzkaja, eine der wichtigsten Gegenwartsautorinnen Russlands, in siebzehn Sprachen übersetzt, mit vielen Preisen geehrt, gesteht sie: "Normalerweise mag ich die Reichen nicht. [...] Aber ich habe ein sehr feines Gespür für soziale Gerechtigkeit." Und in ihrem Brief vom 18. November 2008 schreibt sie an Chodorkowski: "Sie hoben sich für mich von den übrigen Oligarchen ab, seit ich in einer Strafkolonie für Minderjährige, die ich zusammen mit befreundeten Psychologinnen besuchte, einen von Ihnen finanzierten Computerraum entdeckte, und als ich später in verschiedenen Zusammenhängen auf Spuren Ihrer Stiftung `Offenes Russland´* stieß. Vor einigen Jahren, Sie waren bereits verhaftet, war ich im Lyzeum Koralowo, lernte Ihre Eltern kennen und fand eine unglaublich wundervolle Insel für Waisen und Halbwaisen vor. Dergleichen hatte ich noch nirgendwo in Europa gesehen. Auch das ist Ihr Werk." Ljudmila Ulitzkaja in ihrem Brief vom 8. Juli 2009 schreibt, dass sie ihre Rolle in dem Briefwechsel darin sehe, "Ihnen einen Anlass zu geben, all das zu äußern, worüber Sie in den letzten sechs Jahren nachgedacht haben, damit die vielen Menschen, deren Augen auf Sie gerichtet und deren Herzen Ihnen zugewandt sind - als jemanden, der die großen gesellschaftlichen Rechnungen mit seinem eigenen, einzigen und unwiederholbaren Leben und mit seiner Gesundheit bezahlen muss - , damit diese Menschen erfahren, wofür Sie eigentlich zahlen." Ein weiterer berühmter Autor, der mit Chodorkowski in Briefwechsel steht, ist Boris Akunin, Philologe, Essayist, Romanautor, in dreißig Sprachen übersetzt, der mit seinem Detektiv Erast Fandorin und der Nonne Pelagia Kultfiguren schuf. Er stellt Chodorkowski u. a. die Frage, die mir selbst schon lange unter den Nägeln brennt: "Wie ist es mit Ihrer Familie? [...] Für die Kinder ist es besser, auf einen abwesenden Vater stolz sein zu können als sich für einen anwesenden Vater schämen zu müssen. Das stimmt natürlich, aber es ist grässlich..." Chodorkowskis Antwort: "Meine Frau und ich sind seit über zwanzig Jahren zusammen, und wir haben einiges hinter uns. Ich weiß nicht, wie oft sie sich in Gedanken von mir verabschiedet hat, aber mindestens zwei Mal: Als ich in den Jahren 1991 und 1993 wegging, um die Große Welt zu verteidigen, wie ich sie verstand, ließ ich ihr ein Gewehr und Patronen zurück, um ihr die Möglichkeit zu geben, unserer Kleine Welt zu verteidigen. Das meine ich nicht im übertragenen Sinn, sondern wörtlich. [...] Bei unseren Nachbarn hatte es schon Hausdurchsuchungen gegeben, unsere Tochter Nastja hatten sie schon in der Schule aufgelauert. [...] Meine Eltern? Für sie war die Ehre immer wichtiger als ihr Leben. [...] Das ganze Jahr 2004 betete ich eigentlich nur darum, dass sie durchhalten. Wenn auch noch die Familie zerbrochen wäre, das wäre einfach entsetzlich gewesen. [...] Meine Familie steht immer hinter mir. Und nicht nur sie. Vor über zwanzig Jahren habe ich mich von meiner ersten Frau getrennt. Mein Sohn Pavel ist inzwischen erwachsen, hat studiert und ist berufstätig. Er, meine Exfrau und ihre Mutter, sie haben mir all diese Jahre geschrieben und mich und meine Eltern unterstützt. Ich habe Glück mit den Menschen." "Das ganze Jahr 2004 betete ich..." Ein ehemaliger Komsomol-Funktionär, der an Gott glaubt? Die Antwort finde ich wiederum im Briefwechsel mit Akunin: "Ich war auch vor dem Gefängnis kein reiner Atheist. Gott, Fatum, Schicksal, Vorherbestimmung, wir glauben fast alle an etwas, das höher ist als wir. Und es wäre auch merkwürdig, wenn wir, die wir doch in einer riesigen, unerkannten Welt leben und uns selbst nicht richtig kennen, der Meinung wären: Alles, was uns umgibt, ist ein Zufallsprodukt. Man kann glauben, dass es Gott nicht gibt, und man glauben, dass es ihn gibt. Der Glaube braucht bekanntlich keine Beweise. Aber wenn es keinen Gott gibt und unser ganzes Leben nur eine Sekunde und so vergänglich wie Staub ist, was soll es dann? Wozu träumen wir, streben nach etwas, leiden? Warum wollen wir etwas wissen? Warum lieben wir? Wofür leben wir eigentlich? Ich kann nicht glauben, dass das ohne Grund ist. Das kann und will ich nicht. Mir ist nicht gleichgültig, was nach mir kommt, weil ich dann auch noch da sein werde. Weil jemand vor mir da war und nach mir kommt. Das ist nicht sinnlos. Das ist nicht ohne Grund. Wir leben nicht nur, um Wasser und Luft zu verschmutzen. Wir existieren alle für ein größeres Ziel. Wofür, weiß ich nicht und werde es nie wissen. Jeder von uns für sich: für sein Glück. Und alle zusammen? Ich glaube, dass die Menschheit ein großes Ziel hat, das zu erkennen mir nicht vergönnt ist. Die Menschen haben dieses Ziel Gott genannt. Wenn wir diesem Ziel dienen, sind wir glücklich, wenn wir daran vorbeigehen, überkommt uns Leere. Eine Leere, die sich nicht mit Materiellem füllen lässt. Sie macht das Leben leer und den Tod schrecklich." Chodorkowskis dritter Briefpartner in diesem Buch ist Boris Strugazki, der mit seinem 1991 verstorbenen Bruder Arkadi zu den erfolgreichsten russischen Autoren der Nachkriegszeit gehört. Die Strugazkis begründeten und prägten die sowjetische Science-Fiction- und Fantasy-Literatur; ihre auf der ganzen Welt gelesenen Werke erreichten allein im Original eine Gesamtauflage von über 40 Millionen Exemplare. Chodorkowski, der die Strugazkis um ihre Fähigkeit beneidet, die Zukunft vorherzusehen und Probleme vorwegzunehmen, die sich gerade erst am Horizont abzeichnen, schreibt, dass er ohne falsche Bescheidenheit sagen könne, dass er für seinen Wirkungsbereich einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahre prognostizieren kann. "Und zwar ganz intuitiv. Aber das können alle erfolgreichen Führungskräfte." Besonders interessant fand ich deren Diskussion über die ausreichende Energieversorgung der Zukunft im Zusammenhang mit der Abkehr vom heutigen Konsumdenken. Überhaupt lesen sich sowohl diese geistreichen Briefwechsel mit der Ulitzkaja, mit Akunin und Strugazki als auch die für russische Medien geschriebenen ideenreichen Beiträge von Michail Chodorkowski - die ihm in der Regel Einzelhaft einbrachten - und der Essay von Erich Follath, der Michail Chodorkowski persönlich kennt, außerordentlich spannend. Follath: "Vom Knast in den Kreml - ist so etwas auch nur im Ansatz denkbar? Und was genau will Chodorkowski politisch und ökonomisch, wie glaubt er, es erreichen zu können? Ist er wirklich die strahlende Ikone der Freiheit, der Märtyrer, zu dem ihn seine Bewunderer machen oder doch eher ein reichlich spät geläuterter Raubtierkapitalist, womöglich zum Teil sogar zu Recht von der Staatsmacht abgestraft? - Drei Leben jedenfalls scheint dieser Mann schon geführt zu haben. das erste, als er in den spätsowjetischen Zeiten jede Gesetzeslücke skrupellos ausnützt, zum Milliardär aufsteigt und sich als Lobbyisten Abgeordnete der Staatsduma hält; das zweite, als er sich zum modernen Konzernchef und Wohltäter seiner Belegschaft entwickelt, sich mutig, geradezu tollkühn gegen die Korruption an der Staatsspitze auflehnt; das dritte, als er sich unter schwierigen Haftbedingungen zum nachdenklichen, durch nichts und niemanden zu brechenden Idealisten entwickelt. Kann man diese drei Leben mit ihren so offensichtlichen und eklatanten Widersprüchen voneinander trennen? Den Rücksichtslosen vom Cleveren und den Cleveren dann vom Gutherzigen?" Möge sich jeder Leser selbst sein Urteil bilden. 2003 verhaftet, war Michail Chodorkowski in mehreren Prozessen, zuletzt im Dezember 2010, zu vierzehn Jahren Lager verurteilt worden. In seinem fast zehnseitigen Schlussplädoyer vom 2. November 2010 sagte er u. a. : "[...] Ich möchte jetzt nicht auf die juristische Seite des Falls zurückkommen. Alle, die etwas davon verstehen wollten, haben längst alles verstanden. Keiner erwartet ernstlich ein Schuldeingeständnis von mir. Es würde heute kaum einer glauben wenn ich sagte, das ganze Öl, dass mein Konzern gefördert hat, sei von mir geraubt worden. - Aber genauso wenig glaubt jemand, dass ein Moskauer Gericht im Fall Jukos auf Freispruch erkennen könnte. [...] Ich erinnere mich an die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Ich war damals 25. Unser Land lebte in der Hoffnung auf Freiheit und Glück für uns, unsere Kinder. [...] Ich erinnere mich auch an das Ende des vorigen Jahrzehnts. Ich war damals 35. Wir bauten den besten Ölkonzern Russlands auf. Wir errichten Sport- und Kulturzentren, leisteten Pionierarbeit, erschlossen Dutzende neuer Fördermöglichkeiten, nahmen die Ausbeutung der ostsibirischen Reserven in Angriff und führten neue Technologien ein. Taten eigentlich all das, wessen sich Rosneft, der Konzern, der Jukos übernahm, heute rühmt. [...] Die Stabilität wich zusehends der Stagnation. Die Gesellschaft erstarrte. [...] Mit dem Regierungsantritt des neuen Präsidenten, und das ist schon mehr als zwei Jahre her, schöpften viele meiner Mitbürger wieder Hoffnung. Hoffnung, Russland werde doch noch ein modernes Land mit einer entwickelten Zivilgesellschaft. Frei von Beamtenwillkür, Korruption, Ungerechtigkeit und Gesetzlosigkeit. [...] Die Verhinderung von Reformen beraubt unser Land der Perspektiven. Das ist kein Patriotismus, sondern Heuchelei. - Ich schäme mich zu sehen, wie einige in der Vergangenheit von mir geachtete Leute versuchen, bürokratische Willkür und Gesetzlosigkeit zu rechtfertigen. Sie geben ihren guten Ruf im Tausch gegen ein ruhiges, privilegiertes Leben im Rahmen des herrschenden Systems. [...] Ich bin stolz darauf, dass es unter den tausend Mitarbeitern von Jukos während der sieben Jahre dauernden Verfolgungen keinen einzigen gegeben hat, der bereit gewesen wäre, durch eine Falschaussage seine Seele und sein Gewissen zu verkaufen. - Dutzende wurden bedroht, von ihren Angehörigen und Freunden getrennt und ins Gefängnis geworfen. Einige wurden gefoltert. Aber obwohl sie ihre Gesundheit und Jahre ihres Lebens opferten, bewahrten sich die Menschen das, was sie für die Hauptsache hielten: ihre Menschenwürde." Im Juni dieses Jahres, des Jahres 2011, hofften die Anhänger Chodorkowskis auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Aber: Dieser Gerichtshof meldete zwar Zweifel an der wirklichen Absicht der russischen Behörden an, monierte auch die Umstände der Festnahme 2003 und die Dauer und die Bedingungen der Untersuchungshaft sowie Chodorkowskis Behandlung während des Prozesses; es sei gegen das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung sowie gegen Freiheitsrechte verstoßen worden. Allerdings, so der Gerichtshof, habe Chodorkowski nicht ausreichend beweisen können, dass gegen ihn ein politisch motivierter Prozess geführt wurde... Michail Chodorkowski wird - wenn nicht noch ein Wunder geschieht - bis 2016 im sibirischen Straflager von Krasnokamensk einsitzen. Er stellte jedoch im Juni dieses Jahres einen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung auf Bewährung. Das ist im russischen Strafgesetz vorgesehen, es sei denn, ein Gericht bringt Gründe dagegen vor. Nach dem ersten Urteil war ein solcher Antrag gescheitert, weil ein Mitgefangener mit einer - inzwischen erwiesenen - Falschaussage Chordorkowski eines Messerangriffs bezichtigt hatte." Chodorkowski, inzwischen 47 Jahre alt, "sieht älter aus, ist sehr mager geworden und ergraut. Und er hat diese Narbe im Gesicht, die ihm ein Mitgefangener mit dem Messer zugefügt hat." (Jurij Schmidt)
Schon vor der
Berlinale 2012 macht ein Film von sich reden: der Dokumentarfilm „Der
Fall Chodorkowski“ von Cyrill Tuschi, dem Berliner Regisseur mit
russischen Vorfahren, der für diesen Film fünf Jahre recherchierte und
Russisch lernte. * "`Unsere Justiz ist unabhängig´, sagen Putin und Medwedew, von Gesetzen und dem gesunden Menschenverstand, sage
ich." | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de * "Das Gymnasium `Podmoskowny´ wurde 1994 auf Initiative von Michail Chodorkowski als wohltätiges Bildungsprojekt des Ölkonzerns Jukos gegründet. Ziel des Gymnasiums ist es, die kostenlose Schuldbildung für Kinder aus sozial schwachen Bevölkerungsgruppen verschiedener russischer Regionen zu unterstützen, insbesondere für Waisenkinder, die sich unter der Obhut von Verwandten befinden, und Kinder aus kinderreichen Familien mit einem allein erziehenden Elternteil. Außerdem werden in das Gymnasium vom ersten Tag seines Bestehens an Kinder von Grenzsoldaten aufgenommen, deren Eltern ihren Dienst in Kriegsregionen leisten, sowie Kinder, die den Schrecken von Terroranschlägen ("Nord-Ost", Beslan) überlebt haben. - In den 15 Jahren seines Bestehens wurden etwa 400 Kinder in `Podmoskowny´ unterrichtet, die 11. Klasse des Gymnasiums schlossen 140 Schüler ab, davon 35 mit Auszeichnung. - Die überwiegende Mehrheit der Absolventen nahm anschließend ein Studium an einer Hochschule auf oder konnte erfolgreich ins Arbeitsleben entlassen werden. - Gegenwärtig halten sich in dem Gymnasium 180 Kinder aus 40 russischen Regionen auf. Darunter sind 57 Waisen beziehungsweise nicht in der Obhut ihrer Eltern aufwachsende Kinder, 25 Geiseln von Beslan [Am 1. September 2004 nahmen tschetschenische Terroristen in einer örtlichen Schule mehr als 1 200 Geiseln, darunter ein Großteil Kinder. Bei der Erstürmung der Schule kamen nach offiziellen Angaben 331 Geiseln ums Leben, größtenteils Kinder.], 32 Kinder, die aus Familien von Militärangehörigen der Russischen Armee, des Innenministeriums oder des FSB stammen und deren Eltern an `Brennpunkten´ eingesetzt sind, sowie Kinder aus kinderreichen Familien. [...] Das Internat bietet den Schülern ideale schulische, pädagogische und wohnliche Bedingungen, die es den Kindern ermöglichen sollen, ein wettbewerbsfähiges Bildungsniveau zu erreichen und nach Beendigung des Gymnasiums ihr Studium an einer Hochschule fortzusetzen. Das Hauptziel ist die Unterstützung einer Entwicklung der Kinder zu integren Bürgern des neuen Russlands. [...] Das Internat hat ein breit gefächertes zusätzliches Bildungsangebot: Ballett, Singen, Jazzorchester, Zeichnen, Theater, Fußball, Basketball, Volleyball, Skilauf, Schwimmen, Wandern, Werken, Handarbeit, Foto- und Videokurse. Künstlerisch begabte Kinder haben die Möglichkeit, Kurse der musikalischen oder choreografischen Abteilung der Kunstschule zu besuchen. [...] Die Lernerfolge und die Ergebnisse des staatlichen Zentralabiturs weisen das Gymnasium als eine der besten Bildungseinrichtungen der Region Moskau aus. - Das Internat hat eine moderne Ausstattung: ein Schulgebäude für 240 Schüler, vier Wohnhäuser für drei bis vier Schüler pro Zimmer, ein Sportzentrum (Stadion, Turnsaal, Schwimmhalle, zwei Krafträume), ein medizinischer Trakt, ein Bereich für zusätzliche Beschäftigungen (Aula, Tanzklasse, Zeichensaal, Werkstätten, Haus für festliche Veranstaltungen, Räume für Arbeitsgruppen), es gibt zwei Räume mit Computern und ein Internetzimmer. - Die Schüler erhalten täglich fünf ausgewogen zusammengestellte Mahlzeiten, Schuluniformen und Turnsachen. Der erhöhte Bedarf der Waisenkinder an Kleidung und Schuhen wird berücksichtigt. - Da die Mehrheit der Schüler gesundheitliche Probleme hat, wird im Internat besonders auf die Vorsorge geachtet. Fünf Kinderärzte, zwei Physiotherapeutinnen, ein Zahnarzt, eine Diätassistentin und zwei Krankenschwestern arbeiten für das Internat und erstellen individuelle Therapiepläne. - Das pädagogische Team besteht aus qualifizierten Lehrern und Erziehern. Alle Leistungen der Einrichtung sind kostenlos und werden durch Spenden finanziert." - Jewgeni Trawin, gekürzt.
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Am 30.08.2011 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
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Michail Chodorkowski: Wer dieses Buch gelesen hat, weiß, wie (legal?) er zu seinen Milliarden gekommen ist. |
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