Belletristik REZENSIONEN

Vom Muster-Immigranten zum Mafia-Debütanten

Russisch-jüdischer Amerikaner
Handbuch für den russischen Debütanten
Aus dem amerikanischen Englisch von Christiane Buchner und Frank Heibert
Berlin Verlag, Berlin 2003, 493 S.
 
Gary Shteyngart, ein einunddreißigjähriger jüdisch-russischer Amerikaner, beschreibt Vladimir Girshkins verzweifelte Suche nach einem warmen Plätzchen in der Welt. Der Autor, 1972 in Leningrad geboren, war sieben Jahre alt, als er mit seinen Eltern in die USA emigrierte; er lebt heute in New York. Der Buchheld war zwölf Jahre alt, als seine Eltern mit ihm in die USA emigrierten und Manhattan eroberten: Vater Girshkin als findiger Versicherungsbetrüger, Mutter Jelena als pfiffige Unternehmensberaterin. ("Waren Vladimir und seine Eltern Petersburger Snobs? Vielleicht. Schlechte Russen? Vermutlich. Schlechte Juden? Ganz sicher. Normale Amerikaner. Nicht einmal annähernd.") Die Girshkins waren so genannte Weizenjuden. "Weizenjuden" wurden jene russischen Immigranten genannt, die von US-Präsident Jimmy Carter gegen entsprechende Getreidelieferungen in die Sowjetunion nach Amerika geholt wurden. Vladimir Girshkin, einziger Sohn und große Hoffnung ehrgeiziger russisch-jüdischer Immigranten, ist 1993 fünfundzwanzig Jahre alt, hat an einer Elite-Highschool für fast 25 000 Dollar jährlich die beste Ausbildung genossen. Er arbeitet im Emma-Lazarus-Verein zur Förderung der Immigrantenintegration für acht Dollar die Stunde. Was nicht gerade nach dem Geschmack seiner erfolgreichen Eltern ist. Mama nennt ihn denn auch zartfühlend Failurchka - kleiner Versager.

Eines Tages tritt Mr (ohne Punkt!) Rybakow, der Ventilatormann, in sein Leben. Wenn er diesem - bekloppten - reichen Russen zu seiner heiß ersehnten amerikanischen Staatsbürgerschaft verhilft, verspricht der "Psychotiker", Vladimir seinem Sohn zu empfehlen, genannt "Das Murmeltier". Der ist Chef der Russenmafia im nachsozialistischen Prawa (Das soll wohl Prag sein.). Vorher jedoch macht der findige Vladimir den überglücklichen Alexander Rybakow - mit gefälschter Urkunde und Feierstunde - weis, dass er nun Amerikaner sei.

Als eine ungeheuerliche Affäre Vladimir in ein finanzielles Desaster stürzt, flüchtet er vor den rosafarbenen Limousinen der katalanischen Mafia nach Prawa, in die Hauptstadt des Wilden Ostens, in das obskure Reich des Murmeltiers Tolja. Vladimir will endlich reich werden und macht in der Republik Stolowaja tatsächlich eine Blitzkarriere. Mit seiner intimen Kenntnis der amerikanischen Psyche und der russischen Seele will er junge amerikanische Mittelschichtler, die sich in Osteuropas SoHo zusammengefunden haben, so richtig ausnehmen. Mit Unterstützung der Russenmafia - Vladimir ist inzwischen ihr geschäftsführender Vizepräsident - scheint sich die amerikanische Tellerwäscherlegende zu erfüllen.

Shteygarts "Handbuch" (Inwiefern eigentlich ist dieses Buch ein "Handbuch"?) ist für denjenigen, der abstruse Sprüche, Pointen, Metaphern und Neologismen am laufenden Band liebt, ein großer Lesespaß. Wie wär´s mit einem kleinen Mustersatz: "Runzeln so tief wie der San-Andreas-Graben, ein Haaransatz auf dem Rückzug, aber nicht im anmutigem Bogen typisch männlicher Allopezia, sondern im Zickzack, wie Soldaten auf der Flucht von der Front." Wer mehr auf den Inhalt sieht, erlebt ein gnadenlos boshaftes Feuerwerk gegen viele Klischees, z. B. das vom gemütlichen russischen Bären, den seelenvollen Babuschkas, der ewigen Wodkaseligkeit und auch gegen das weltfremde linksintellektuelle amerikanische Milieu. "Ich ging an ein richtig marxistisches College in Ohio. Und zwar um Politikwissenschaft zu studieren. Meine Abschlussarbeit 1985 trug den Titel `Back in the USSR´ und handelte davon, wie die Union der Sowjetrepubliken wieder aufersteht, den Kapitalismus ein für allemal erledigt und die Weltherrschaft übernimmt. Ich bekam Summa Cum Laude."

Das coole Handbuch für den russischen Debütanten ist ganz sicher nicht nur eine Ansammlung bloßer Gags. Dieser Roman, in dem ein Einfall den anderen jagt, beschreibt der Autor auf seine witzige Weise die vergeblichen Assimilationsversuche seiner Hauptfigur im Zeitalter der Globalisierung. Gewagt ist das Kapitel 34, der Besuch des Konzentrationslagers Auschwitz II (Birkenau), obwohl hier des Autors dauerironischer Sound etwas in den Hintergrund tritt. Aber eine "Grube voll menschlicher Asche" ist mit angesagtem Pointenstil wahrlich nicht zu beschreiben, da hilft auch die russische Märchenhexe Baba-Jaga nicht.

Vladimir Girshkin, dessen Lieblingskommunist "mit Abstand" Bucharin ist, der Tschechow und Turgenjew liebt, findet am Schluss des Romans (im Epilog) ein warmes Plätzchen in der Welt, Frau und Kind ("Für seinen Vater ein Halbfremder... Ein Amerikaner in Amerika.") und ein nettes zu Hause sowie einen Job als Buchhalter in Schwiegerpapas Enterprise - ein Schluss, der zum Buch überhaupt nicht passt, deshalb sei er verraten.

Und nicht zum Schluss: Ein außerordentliches Lob den beiden Übersetzern.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 13.09.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 26.11.2019.

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