Erzählungen russischer Autorinnen der Gegenwart
Aus dem Russischen von Christiane Körner; die Petruschewskaja-Erzählung wurde von Antje Leetz übersetzt
Zweisprachig: Russisch / Deutsch
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2003, Deutsche Erstausgabe, 168 S.
Während der Moderne (Anfang / Mitte des 20. Jahrhunderts) waren große Lyrikerinnen wie Sinaida Gippius,
Anna Achmatowa
und Marina Zwetajewa
hervorgetreten, in der Bürgerkriegszeit eine Erzählerin wie Sidija Sejfullina, im Tauwetter
die Ethnologin Natalja Baranskaja, die als erste in "Woche um Woche"
die physische und psychische Überforderung einer sowjetischen
Durchschnittsfrau darstellte, oder die Technologieprofessorin
Irina Grekowa, die verschiedentlich, so in "Der Lehrstuhl"
Frauengestalten im Wissenschaftsmilieu beleuchtete. In den 1990er
Jahren kam eine ganze Plejade neuer Erzählerinnen zu Wort, die nicht
mehr nur Frauenschicksale "aus der Küchenperspektive" thematisierten,
sondern Erzählstrategien und einen sprachlichen Duktus pflegten, die
von der Kritik als "weibliches Erzählen" apostrophiert wurden.
Immerhin ein Ausweg enthält sieben aktuelle Geschichten von
russischen
Autorinnen der Gegenwart, die bei uns in Deutschland teils schon sehr bekannt sind (Ljudmila Petruschewskaja und
Tatjana Tolstaja), teils noch unbekannt (Galina
Baschirowa, Viktoria Fomina, Marina Palej, Irina Poljanskaja und Marina
Wischnewezkaja); alle sieben Geschichten stimmen sehr alltags-nachdenklich. Am meisten
beeindruckt haben mich Mir allein von der Baschkirowa und Der
jüngere Bruder von der Petruschewskaja.
In Mir allein kämpft die Geliebte eines über lange Jahre von
seiner Ehefrau gequälten Mannes um die Urne mit seiner Asche. Sie schreckt vor keiner
Demütigung vor den Bürokraten zurück
und verausgabt sich mit großzügigen Geschenken an die
Friedhofsvorsteherin, bis sie die Urne des Geliebten ausgehändigt bekommt und in ihrem Garten bestattet.
"Fedjenka, hörst du mich? Jetzt gehörst du mir allein." In Form eines inneren Monologs
blickt die tapfere Frau auf das gemeinsam mit dem sanften Fedja
verbrachte Jahr zurück, der bei seiner Frau soff und bei ihr keinen
Schnaps anrührte... Galina Baschkirowa, siebenundsechzig Jahre alt, ist in
Moskau
geboren, studierte Geschichte an der
Moskauer Universität,
sie erzählt vorwiegend von der sowjetischen Intelligenzija.
1983-1987 verbrachte sie in den USA, wo ihr Mann als Korrespondent einer
sowjetischen Zeitung arbeitete. Sie lebt als Rentnerin in
Moskau, ist
inzwischen verwitwet, hat einen Sohn.
Der jüngere Bruder von Ljudmila Petruschewskaja handelt
von einer eigentümlichen Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem
fünfundzwanzigjährigen Sohn. Dina, eine
in die Jahre gekommene, aber noch immer anerkannte Dolmetscherin, Wladik, ein
verbummelter Taugenichts.
Die Mutter räumt ihm jedes Hindernis aus dem Weg, kümmert sich reinweg um alles. Als
sie schwer erkrankt, wandelt sich der ungeratene Sohn zu deren liebevollem Pfleger. Ljudmila
Petruschewkaja - heute eine der profiliertesten russischen
Schriftstellerinnen - ebenfalls siebenundsechzig Jahre alt, ebenfalls in
Moskau
geboren, arbeitete nach ihrem Journalistik-Studium an der
Moskauer
Universität. Sie hatte es anfangs schwer, sich als
Autorin durchzusetzen. Die Lektorin Antje Leets, die sie entdeckt hat, schreibt in
"Fenster zur Welt": "Ich hatte sie 1982 bei einem
Forschungsaufenthalt in Moskau - ich war inzwischen für neue russische
Autoren zuständig - kennengelernt. Mit Anfang 40 hatte sie gerade noch ein
Baby bekommen und lebte mit diesem, zwei weiteren Kindern und ihrem Mann
in recht ärmlichen Verhältnissen, denn es wurde nichts von ihr
veröffentlicht. Mit ihrer Prosa und ihren Theaterstücken durchbrach sie
gängige künstlerische Kanons und erschloß neue Themen, sie schockierte mit
Häßlichem, hinter dem sich für mich aber immer ein hohes Ideal verdarb. Sie
holte die Sprache der Straße in die Literatur. Ich bekam von ihr eine
Mappe mit unveröffentlichten Texten, und in zwei Nächten im Hotel Berlin
konnte ich nicht mehr aufhören zu lesen. Meine Auswahl (...) stieß im
Verlag zunächst auf Widerstand. Ihre Frauen-Figuren, für mich Madonnen,
die im Dreck lebten, fanden bei niemandem Gegenliebe. So kamen die Texte
nur halb versteckt in der `Novitätenkassete 2´ (1985) heraus.
Interessanterweise hatte der Verlag dabei ein Telegramm von der WAAP, dem
sowjetischen Urheberrechtsbüro, ignoriert, in dem sie die
Abdruckgenehmigung verweigerte. Der Band `Musikstunden´ war
Petruschewskajas erste Buchpublikation überhaupt, drei Jahre vor ihrem
ersten russischen Buch, weshalb sie [den
Verlag] Volk und Welt bis heute als ihre literarische Heimat
bezeichnet." Ihre Erzählungen
"Unsterbliche Liebe", "Lieder der Ostslawen" zerstreuten
dann jeden Zweifel daran, dass die Petruschewskaja über ein großartiges, unverwechselbares
Erzähltalent verfügt. Inzwischen erschien in Deutschland von ihr "Meine
Zeit ist die Nacht", "Der schwarze Mantel", "Die neuen Abenteuer der
schönen Helena", "Der Mann, der eine Rose roch", "Auf Gott Amors Pfaden und andere Erzählungen.
Marina Palejs, fünfzig Jahre alt, ist in
Leningrad geboren. Sie
arbeitete mehrere Jahre lang als Ärztin. Von 1985 bis 1991 studierte sie
Literaturkritik an der
Moskauer
Hochschule für Literatur. Sie schreibt
seit 1987 Prosa, Dramen, Drehbücher und übersetzt aus dem
Niederländischen, Englischen, Griechischen und Slowenischen. Ihre Werke
wurden in zwölf Sprachen übersetzt. Sie lebt seit 1995 in den
Niederlanden. In ihrer Erzählung Der Tag des Pappelflaums
begleiten wir eine Pflegerin durch ihren ersten Arbeitstag auf der
Intensivstation, erleben die Konfrontation mit Leid und Tod und die Missstände im Gesundheitswesen.
Marina Wischnewezkaja (auf S. 167 falsch Wischneweskaja)
ebenfalls fünfzig Jahre alt, in Charkow in der
Ukraine geboren,
studierte an der Filmhochschule in
Moskau.
Ihr Zeichentrickfilm "NIX" (Regisseur Petrov) wurde für den Oskar nominiert.
Die Ich-Erzählerin stellt in ihrer Erzählung
Der Architekt Komma Der nicht mit mir spricht fest, dass sie nur noch ein Körper
ohne Innenleben ist, der dem Verschwinden der Seele zuschaut.
Sie erzählt ihrer (imaginären?) Schwester von Affären ihres Körpers
während eines Badeurlaubs. ("Ein Strand ist ein Herdenrevier für Körper.")
Viktoria Fomina, vierzig Jahre alt, ist im Nordkaukasus geboren
(Genauer konnte ich ihren Geburtsort auch in Internet nicht erkunden.), studierte an der
Regiefakultät der Theaterschule des
Moskauer
Akademischen Künstlertheaters und an der Moskauer Hochschule für Literatur. Sie
arbeite als Regisseurin und Dramaturgin an verschieden Theatern in
Moskau und in der Provinz. 1999 erschien in
Russland ihr erstes Buch.
Sie übersetzt aus dem Englischen und Italienischen und lebt zusammen mit
ihrem schottischen Mann in Moskau. Im Mittelpunkt der Erzählung Die
betrunkene Ratte in der Küche steht ein altes, menschenscheues
Ehepaar. Der Mann ist sterbenskrank, die Frau pflegt ihn und scheint
verwirrt. Am meisten quält sie die Sorge, allein zurückzubleiben...
Irina Poljanskaja, dreiundfünfzig Jahre alt, ist in der russischen
Provinz (im Ural) geboren, sie besuchte die Schauspielschule in
Rostow-am-Don und studierte an der
Moskauer Hochschule für Literatur.
Sie veröffentlicht seit 1983. Seit 1997 schreibt sie Romane und Erzählungen. In
ihrer Geschichte Mama beschreibt die Ich-Erzählerin das Hoffen und
Bangen um ihre kranke Tochter im Krankenhaus und die Verbundenheit mit
der eigenen, ihr beistehenden Mutter.
Bleibt Tatjana Tolstaja, die ich auf der Frankfurter Buchmesse 2003
und zum Berliner Literaturfestival 2003 kennen lernte. Sie ist
vierundfünfzig Jahre alt, wurde in
Leningrad
geboren und wuchs dort auch auf. Sie ist die Enkelin von Alexej Tolstoi
(u. a. "Der Leidensweg", "Aelita",
"Peter der Erste",
"Iwan der Schreckliche", "Die Familie des Vampirs")
und dem Dante-Übersetzer Michail Losinskij. Sie wurde über Nacht berühmt durch
den Erzählungsband "Stelldichein mit einem Vogel". Seit 1990 schreibt
sie Essays, Novellen und Erzählungen. Eine Überraschung ist ihr jüngst erschienener SF-Roman
mit dem eigentümlichen Titel
"Kys". In der hier geschilderten neuen
Welt wird die alte Kultur wie eine geheime Botschaft von einem Tyrannen
verwaltet, um dann von ihm neu "erfunden" zu werden; es ist ihr erster
Roman. Die Tolstaja unterrichtete sechs Jahre lang russische Literatur in den
USA, 2000 kehrte sie mit enttäuschenden Erfahrungen nach
Russland
zurück, lebt jetzt wieder in Moskau, hat zwei erwachsene Kinder. Sie ist
sympathisch und diskutierfreudig, aber zu nahe treten darf man ihr nicht, dann ist sie schnell tief gekränkt. Und es kommt
auch vor, dass sie eine Schriftstellerrunde einfach verlässt... In ihrer
Erzählung Lilith (Der Überlieferung nach die erste Frau Adams, die im
Paradies blieb; und auch ein Gedicht von
Vladimir Nabokov) lässt die Autorin das weibliche Dasein im Verlaufe des
20. Jahrhunderts Revue passieren - auch anhand von Haartrachten und Hutmoden,
Benehmen, Wertewandel und Gesellschaftspolitik, alles verpackt in eine
hochpoetische Sprache. "Sie blicken aufs Wasser, sie sitzen am Wasser, sie
sind selber Wasser, diese Frauen Anfang des Jahrhunderts, Undinen,
Najaden, tiefe Strudel, Trichter auf zwei Beinen, Venusfliegenfallen.
Feucht und üppig, in Kleidern wie schäumende Gischt, hoch aufgesteckt
das wogende Haar von der Farbe der Nacht oder der Farbe des Sandes oder
der Farbe alten Goldes, mit Gaze bedeckt das Gesicht, dass keine
Sonnenbräune an die Sahnehaut kommt (...). Erstaunlich ist jedoch, wie
gut sie standhielten, die Frauen der dreißiger, vierziger, fünfziger
Jahre. Als wäre die Welt nicht abermals eingestürzt, hätte sich nicht
überkugelt, hätte nicht alles Gläserne zertrümmert und alle Länder zu
Kleinholz geschlagen."
Alle Autorinnen sind im Buch mit bio-bibliographischen Notizen vorgestellt.
Waren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erst einmal die
weiblichen Krimiautorinnen (Daschkowa,
Dankowtsewa,
Donzowa,
Marinina,
Platowa,
Stepanowa) stark gefragt, so sind es inzwischen zunehmend auch
die weiblichen Prosaautorinnen. Das schmale, zweisprachige
Bändchen ist von allen Autorinnen in der Tradition russischer
Erzählkunst geschrieben; ich bin sicher,
Anton Tschechow hätte seine Freude dran.
Die Auswahl der Geschichten nahm Natalija Nossowa vor, die nach Beginn der
Perestroika in
Moskau eine kleine Sprachschule aufbaute und seit 1997 an
der Universität Freiburg ein Seminar für literarisches Übersetzen
leitet. Die Übersetzerin Christiane Körner war nach der Wende drei Jahre
lang Dozentin für Deutsch in Moskau, ist mit einem Russen
verheiratet und lebt in Frankfurt/Main.
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