Belletristik REZENSIONEN | |
Im GULAG von heute | |
Grigori Pasko | Russe |
Die rote Zone | |
Ein Gefängnistagebuch Ein Übersetzer ist nicht angegeben Mit einem Nachwort von Hannelore Umbreit Wallstein Verlag, Göttingen 2006, 366 S.
(Rezensiert, entsprechend dem Gästebuch-Eintrag von Herrmann Schön.) | |
"Menschenverachtende, tierische Lebensbedingungen: 15 Quadratmeter und
ganze 6 Kojen für 22 Mann", geschlafen wird in drei Schichten - bei
Licht, Radiogebrüll, Fernsehlärm, Tabakrauch, Schmutz, Gestank. Oft gibt
es nicht einmal Wasser, nicht einmal kaltes. "Nicht alle konnten sitzen,
einige mussten die Wachschicht im Stehen zubringen."
Ich dachte, wer Anatoli Pristawkins "Ich flehe um Hinrichtung" gelesen hat, kann von einem Gefängnistagebuch nicht mehr erschüttert werden. Aber es ist doch ein Unterschied, ob jemand als Außenstehender - als Vorsitzender der Begnadigungskommission des Präsidenten - oder als Betroffener die unglaublichen Gefängnisverhältnisse schildert. Dieser Betroffene ist Grigori Pasko, 1962 im südukrainischen Ossokorowka geboren, russischer Offizier, Militärjournalist seit 1983, Mitglied des Schriftstellerverbandes. Sein Vater war Lehrer, die Mutter arbeitete in der Landwirtschaft. Nach einem Schulabschluss mit Auszeichnung war er in die Fakultät für Journalistik der Militärpolitischen Hochschule von Lwow [heute Lwiw] eingetreten. Nach 1983 arbeitete er als Journalist und Abteilungsleiter bei der Zeitung "Bojewaja Wachta" (Kampfposten), dem Presseorgan der russischen Pazifikflotte. "Als streitbarer Journalist", schreibt Hannelore Umbreit in ihrem Nachwort, "griff der Fregattenkapitän - ein Marine-Dienstgrad, der im Deutschen dem eines Oberstleutnants entspricht - in seinen Artikeln so brisante Themen auf wie das Schicksal der ausgemusterten sowjetischen Atom-U-Boote, die Desorganisation in den Streitkräften der Russischen Föderation, die Untätigkeit der Flottenführung bei Umweltkatastrophen, den gewaltsamen Tod von Journalisten, die Sinnlosigkeit des verheerenden Tschetschenien-Krieges." Mitte der 1990er Jahre dokumentierte Grigori Pasko die illegale Verklappung atomarer Abfälle im fischreichen Japanischen Meer durch Schiffe der russischen Pazifikflotte und leitete Videoaufnahmen der japanischen Presse- und Medienagentur NHK sowie der Zeitung "Asachi simbun" zu. Pasko, der seit längerem unter Beobachtung des Inlandsgeheimdienstes der Russischen Föderation stand - nicht nur, weil er Anwerbungsversuche der "Sicherheitsorgane" mehrfach strikt abgelehnt hatte -, geriet nun vollends in das Visier des FSB (KGB). Als er Anfang 1997 eine offizielle Dienstreise nach Japan antrat, um dort Material für ein Buch über Begräbnisstätten gefallener russischer Soldaten zu sammeln, wurde sein Gepäck vor dem Abflug durchsucht und eine Mappe mit Unterlagen und journalistischen Materialien beschlagnahmt. Bei der Rückkehr aus Japan Mitte November 1997 erwartete der Inlandsgeheimdienst Pasko bereits auf dem Flughafen von Waldiwostok. Die Begründung für seine Verhaftung lautete: "... versuchte Verbringung geheimer militärischer Dokumente ins Ausland". Nach einem mehrtätigen Aufenthalt in der Arrestzelle der Milizverwaltung wurde Grigori Pasko in das Gefängnis der Stadt überstellt. Um die grauenvollen Tage und Nächte in der Untersuchungshaft zu überstehen, führte Pasko ein Tagebuch. Ihn rettet das Lesen und Schreiben "wie andere Leute das Rauchen". Paskos Tagebuch -
bisher nur auf Deutsch erschienen - besteht aus drei Teilen. Der erste
Teil reflektiert die Ereignisse und Eindrücke
der ersten beiden Haftmonate zwischen November 1997 und Januar 1998 in
beinahe täglichen, genau datierten Eintragungen. Pasko - "unrasiert und
stinkend, die Haare wirr und lange nicht gewaschen" - schildert die
"menschenverachtenden, tierischen Lebensbedingungen", erzählt von seiner zweiten Frau,
seiner "geliebten Galja", und von den Mitgefangenen, berichtet davon, dass sein
Großvater vom militärischen Abschirmdienst SMERSCH erschossen worden
ist, sein Vater im "Dauerkonflikt mit den "Organen" gestanden habe, klagt
Willkür und Rechtlosigkeit an. Um seine Selbstmordgedanken zu
vertreiben und gegen die Angst verrückt zu werden, kämpft er mit
Schreiben und Lesen an. "Es gibt nur ganz wenige, die lesen, viel
weniger noch als diejenigen, die sich abends die Füße nicht waschen." Pasko
sitzt einundzwanzig Monate im Untersuchungsgefängnis des fernöstlichen
Wladiwostok. Seine Gemeinschaftszelle, von den Gefängnisinsassen
"Schlachtschiff" genannt, ist die "schlechteste Gemeinschaftszelle im
gesamten Untersuchungsgefängnis von Wladiwostok, das wiederum das schlechteste ist in ganz
Russland, und dieses
Russland das schlechteste
Land weltweit." - "So viele Jahrhunderte sind vergangen", klagt Pasko, "doch in
Russland hat man noch
immer nicht begriffen, dass nur menschliche Verhältnisse einen Menschen bessern können."
Ich bin sicher, dass Grigori Pasko irrt, wenn er schreibt, dass die
"unzähligen Gefängnismemoiren den Leser langweilen oder überhaupt nicht
mehr zur Kenntnis genommen würden" - zumal eine "rote Zone" (allerdings
ohne verschärfte Haftbedingungen) bisher nur in einem Roman
Eduard Limonows vorkommt.
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Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de Der Wallstein Verlag, Göttingen, schreibt am 30.10.2008 an www.reller-rezensionen.de: Sehr geehrte Frau Reller, ich möchte Sie anlässlich des Tages des inhaftierten Schriftstellers am 15.11.2008 auf Grigori Pasko aufmerksam machen. Nachdem der 2003 vorzeitig aus der Haft entlassen wurde, ist Herr Pasko in diesem Jahr schwer erkrankt und konnte durch Spenden aus aller Welt erfolgreich in Deutschland behandelt werden. Wir würden uns freuen, wenn Sie Grigori Pasko weiterhin im Augen behalten, wenn es um Themen wie Meinungsfreiheit und politische Repression in Russland geht. Sein neues Buch heißt "Honigkuchen".* Mit herzlichen Grüßen für all Ihre Bemühungen Florian Grundei (Presse- und Öffentlichkeitsarbeit) * Ich habe auch "Honigkuchen in dieser Webseite rezensiert!
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Ins Netz gestellt am 06.03.2007. Letzte Bearbeitung am 25.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Vor Gefängnis und Bettelsack ist niemand gefeit. | |
Sprichwort der Russen |
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