Belletristik REZENSIONEN |
Jede Flamme im Kolben - Abbild einer lebendigen Seele
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Andrej Wolos |
Russe |
Der Animator
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Aus dem Russischen von Christiane Körner
Carl Hanser Verlag, München 2007, 288 S.
Bei dem Wort "Animator" denken wohl die meisten an einen Urlaub,
bei dem fesche Jungs und knackige Mädchen dafür bezahlt werden, dass
sie nicht ausstehen können, wenn ein Urlauber auf der faulen Haut
liegt. Bei Wolos ist die "Animation" jedoch nicht, was man
normalerweise darunter versteht, sondern ein Zweig der
Bestattungsindustrie; "animator" kommt aus dem Lateinischen und
bedeutet "Beleber".
Der "Beleber" in Wolos Roman ist Sergej Barmin, Dozent am
Moskauer
Animazentrum und als Animator viel gefragt und gut bezahlt. Barnim
dreiundvierzig Jahre alt, hat eine erwachsene Tochter von der Mutter
gegen den treulosen Vater aufgehetzt. Und Barnim hat eine Geliebte,
Klara, die ihn eines Tages Hals über Kopf verlässt, weil sie, was er
nicht weiß, von ihm schwanger ist. Er hatte ihr oft genug bedeutet,
dass er keine Kinder mehr wolle. "Ja, ich war dagegen, mir Nachkommen
anzuschaffen, bewusst und konsequent."
Im Buch wechseln sich die
Kapitel, aus denen man von Sergej Barnims Privatleben erfährt, und die
Kapitel, die über sein berufliches Leben als Animator berichten, in
schöner Regelmäßigkeit ab. In den Kapiteln des Animazentrums spielen
acht Tote eine Rolle: Wassili Nikoforow, neunundvierzig Jahre alt,
hatte eine alltägliche Ehe mit Suff und Zank geführt und starb, weil
er, von Beruf Wurstmacher, einen elektrischen Fleischwolf
unfachmännisch zu reparieren versuchte; er bekam einen tödlichen
Schlag. - Waleri Rebrow, einundsechzig Jahre alt, Physiklehrer, kommt
bei einem Attentat in einem klapprigen Bus ums Leben. - Salah
Madshidow, siebzehn Jahre alt, ist der tschetschenische
Selbstmord-Attentäter, der nach entsprechender Schulung sein Leben für
den "wahren Glauben" opfert und hofft, als Märtyrer ins Paradies zu
kommen. - Nikolaj Korin, vierunddreißig Jahre alt, Oberstleutnant der
russischen Armee, verkauft den Tschetschenen gestohlene
Haubitzengeschosse, um sich für das Geld ein Traumhaus zu bauen. Ein
eigenes "Haus bei Charkow (einem geräumigen, soliden Haus mit Kamin,
Balkon, einem anständigen Grundstück, einer festen Garage und einem
glänzenden, lautlosen Auto darin.") Bevor er das Geld ausgeben kann,
wird er von den katschirischen (tschetschenischen) Islamisten
erstochen. - Walentin Belosjorow, neunundfünfzig Jahre alt,
Mitarbeiter der FABO, der Nachfolgeorganisation des KGB, wollte Sergej
Barnim überreden, sein Können bei Lebenden anzuwenden, um zu erkunden,
was sie im Schilde führen; er stirbt an einem Herzinfarkt. - Mamed
"der Gerechte", sechsunddreißig Jahre alt, der Korin erstochen hat
und der Sergeant Pawel Gratschkow, neunundzwanzig Jahre alt, der eine
Katschire (Tschetschene), der andere Russe, kommen um bei der
Geiselnahme im Columbus-Theater. (Gemeint ist die Geiselnahme im
Moskauer Musical-Theater "Nord-Ost".) Als Zuschauerin stirbt
hier auch Klara, mit der sich Barnim gerade wieder versöhnt hatte. Beide wollten - mit
Kind! - ein neues Leben beginnen...
Können solche skizzenartigen Geschichten ein Roman sein? Wolos nennt seinen vor sieben Jahren erschienenen Roman
"Churramobod"
einen "Roman in punktierter Linie", was bedeuten soll, dass die
einzelnen, in sich abgeschlossenen Geschichten durch etwas - hier ist
es die Stadt Churramobod - zusammengehalten werden. Auch Der
Animator ist so ein "Roman in punktierter Linie", zusammengehalten
jeweils durch einen Toten und seine Anamnese (Vorgeschichte): Der
Leser erfährt jeweils wichtige Punkte aus dem Leben des Toten und wie
es zu seinem Tod kam.
Laut Wolos hat sich die Gier der Menschen nach der Ewigkeit vervielfacht.
Deshalb genügen den Angehörigen (in Russland) nicht mehr Grabsteine, Denkmale
und Pyramiden, um ihre lieben Verstorbenen vor dem Vergessen zu
bewahren. "Der Mensch ist sterblich. Und er weiß es. Und trotzdem hegt
er eine stumpfsinnige Gier nach der Ewigkeit. (...) Wer lebt, möchte am
Leben bleiben. Immer. Bis ans Ende aller Zeiten. Und wenn das nicht
geht, dann will er wenigstens nicht vergessen werden. Im Kampf mit dem
Vergessen ist jedes Mittel recht." Und so nutzt der Animator das
Phänomen der "Noolumineszenz". Dazu benötigt er eine weiche
Frequenzstrahlung, die Substanz eines menschlichen Körpers - einfacher
ausgedrückt: eine Leiche - und eine spezifische Imaginationskraft.
Diese kann durch einen Informanten beeinflusst werden, der dem
Animator wichtige Einzelheiten aus dem Leben des Verstorbenen
berichtet. Am Ende der Prozedur entsteht ein Kraftkolben, in dem eine
Flamme glüht - das Abbild der Seele des Verstorbenen - je heller die
Flamme, desto höher das Honorar des Animators.
Ein Science-Fiction-Roman? Nicht wirklich, denn Wolos lässt seinen Helden ausufernd von den
Ideen des russischen Philosophen Nikolaj Fjodorow (1829-1903)
schwärmen, für den die Auferweckung der Toten und ihre
Wiedereingliederung in eine große "gemeinsame Sache" nicht bloß ein
abstrakter Traum gewesen ist. Fjodorows Ideen wirkten auf
Fjodor Dostojewskij und
Lew Tolstoj und wurden während der Sowjetära von
Andrej Platonow und Boris Pasternak literarisch verarbeitet. Nun also
hat Andrej Wolos sich dieses Sujets für die Nach-Sowjetzeit
angenommen...
Wolos schneidet in Der Animator viele innenpolitische Themen der Nach-Sowjetzeit
an. Über alle habe ich bei anderen Autoren
(Pelewin,
Sorokin,
Slapovsky...) schon Beeindruckendes gelesen. Auch über den Tschetschenienkrieg und die
Geiselnahme im Theater "Nord-Ost" haben andere Autoren (Jussik, Adler,
Cavelius...)
eindrucksvoller geschrieben. Warum eigentlich benennt
Wolos die Tschetschenen (verfremdend?) in Katschiren um? Warum sprechen sie
katschirisch, und warum heißt ihre Hauptstadt Katschirtys? Es dauert
ein Lese-Weilchen bis man dahinterkommt, dass sich hinter dem
fiktiven Volk der Katschiren die Tschetschenen verbergen. Wozu?
Ein kompliziert konzipiertes Buch, das an Wolos erstem Roman, an
"Churramodod", von nationalen Auseinandersetzungen in Tadshikistan
handelnd, nicht heranreicht.
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Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 27.07.2007 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am
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