Belletristik REZENSIONEN | |
Pjotr kann aus Wasser Wodka machen... | |
Alexej Slapovsky | Russe |
Der heilige Nachbar Aus dem Russischen von Alfred Frank | |
Claassen Verlag, München 2003, 319 S. | |
Auf Seite 298 des Buches Der heilige Nachbar kommt an dem
Romanhelden Pjotr Salabonow, der gerade als Jesus Christus auf einem
großen Platz eine Rede schwingt, zufällig der "Schriftsteller Alexej
Slapovsky vorbei, der seinen Verstand und Blick schweifen ließ auf der
Suche nach Sujets und Absonderlichkeiten. Er hielt inne, ohne näher zu
treten, sah und hörte sich alles an. Und rannte inspiriert nach Hause,
um einen Roman mit dem Titel Der heilige Nachbar zu schreiben.
Einen Roman über einen Menschen, der sich einbildet, Jesus Christus zu
sein. Eine amüsante Sache könnte das werden..."
Im Gegensatz zu Slapovskys erstem deutsch erschienenen Buch "Das Formular" finde ich diesen Roman nur an wenigen Stellen amüsant, zum Beispiel wie Slapovsky Missstände im Russland der Jahre 1990 bis 1993 darstellt. Amüsant, ja komisch, ist auch die Idee, wie ein Verrückter in der Provinzstadt Polynsk sich ausdenkt und selber dran glaubt, dass sein Nachbar Pjotr der wieder auferstandene Jusus Christus ist. Schließlich, so sagen die Leute, habe ihn seine Mutter empfangen, ohne dass ihr impotenter Mann ihr beigewohnt habe. Außerdem heißt diese Mutter Maria und außerdem hat Pjotr am Körper Flecke wie Jesus Christus. (Hatte der welche?) Die Romanhandlung beginnt 1990, da wimmelt es in Russland von Scharlatanen, Wunderheilern*, Krishi-Jüngern, Parapsychologen; ich hörte in Moskau 1991 als eine von jeweils Tausenden einigen solcherart "Begnadeten" zu. Pjotr Salabonow entdeckt mit Hilfe des alten Nachbarn und Herumtreibers Iwan Nichilow immer mehr Übereinstimmungen mit Gottes Sohn und glaubt irgendwann selbst, was ihm der Alte beständig einredet. Doch die Leute wollen, um glauben zu können, Wunder sehen. Und Pjotr vollbringt sie. Zuerst heilt er Mama Soja von der Schuppenflechte, dann treibt er bei Oma Ibunjuschka einen Hexenschuss aus. Und Lucienne, die Modeschöpferin, heilt er gar von ihrer Frigidität, aber doch wohl eher als ihr Liebhaber, denn als Wunderheiler. Immer wieder beeindruckt, vorneweg die Säufer, wie Pjotr aus klarem Wasser hochprozentigen Wodka erzeugt. Bald findet sich dann auch ein "Athlet des Geistes", der Pjotr alias Jesus managt und für ihn Massenveranstaltungen organisiert. Apropos amüsant: Iwan Nichilow, inzwischen in der Klapsmühle gelandet, wird von einem anderen Irren ermordet, indem der ihm (Johannes der Täufer?) mit einer heraus gebrochenen Fensterscheibe den Kopf abschneidet... Und Pjotr, der gerade am Grübeln ist, ob er vielleicht doch nicht Christus ist, sondern der Antichrist, wird von herumlungernden Jugendlichen zu Tode gemartert, "am Gerippe eines ausgebrannten Waggons gekreuzigt und verstümmelt": " (...) Der `Oberst´ persönlich stieg eine Leiter hoch, schnitt Pjotr mit einem scharfen Messer die Ohren ab, stach ihm die Augen aus und beobachtete, wie die Flüssigkeit herausfloss. Dann ging er daran, Rippen freizulegen und herauszubrechen, um an das Herz heranzukommen und sehen zu können, wie es arbeitete, dazu hatte er noch nie Gelegenheit gehabt. Nachdem er sich das angesehen hatte, ließ er, großzügig, wie er war, auch die anderen heran, jeder stieg hoch und genoss neugierig und verwundert den Anblick. Dann stieg wieder der `Oberst´ die Leiter hinauf, stach sein Messer in das Herz und beobachtete, wie es flatterte, pochte, zuckte. Er drückte fester zu - es blieb stehen, erschlaffte, zog sich zusammen." Amüsant? Vielleicht fehlt mir ja eine Ader für solche furios-schrägen Romane... Auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse** 2003 wurde Alexej Slapovsky nach seiner Lesung gefragt, warum er dieses Buch geschrieben habe? Slapovsky: "Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, warum ich dieses Buch vor zehn Jahren schrieb - so wie ich nicht darauf antworten könnte, warum ich in der vergangenen Nacht diesen und keinen anderen Traum hatte." - Eine Leserin wollte von Slapovsky wissen, wie intensiv er die Bibel studiert habe. Slapovsky: "Nicht besonders gründlich. Aber mich fasziniert immer wieder das Johannes-Evangelium wegen der Melodik der Worte. Übrigens: Mein Buch nimmt Bezug auf die Religion, aber es ist nicht religiös." Ich frage den Autor, ob er an Gott glaube? Slapovsky: "Glauben ist nicht das richtige Wort. Aber ich fühle, dass Gott da ist, das reicht mir." Slapovsky, in Saratow 1957 geboren, blieb in der Provinz, bis er vor zwei Jahren nach Moskau zog. Zu Sowjetzeiten arbeitete er als Lehrer, Lastenträger und als Rundfunkjournalist. Dann tingelte er, "fast schon professionell", als Dichter, Sänger und Gitarrist durchs Sowjetland. Als ihn dieses Tun langweilte, schrieb er dreißig Theaterstücke, die meisten davon wurden aufgeführt, eines auch in Deutschland. Als ihm 1989 diese Beschäftigung zu eintönig wurde, wandte er sich der Prosa zu, schrieb Essays, Erzählungen, Romane. In Russland sind bis jetzt sieben Bücher von Alexej Slapovsky erschienen, vier davon auch im Ausland - zwei in Frankreich, zwei in Deutschland. Als ihn das Prosa-Schreiben zu monoton erschien, ging er zum Fernsehen: "In meinen Serien fließt kein Blut, gibt es keine Toten, gelitten wird nur aus Liebesschmerz." Nun scheint dem umtriebigen Autor das Fernsehen langweilig geworden zu sein, denn gegenwärtig schreibt er eine Komödie --- über einen ehrlichen Milizionär. "Würde der Ruhm mein Ziel sein", sagt Slapovsky, "würde ich weiterhin Fernsehserien schreiben. Aber mir sind fünf- bis zehntausend Roman-Leser wichtiger als 50 Millionen Fernsehzuschauer." | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de * Anfang Dezember 2005 musste sich in Russland erstmals ein Wunderheiler wegen Betrugs vor Gericht verantworten. Ein Fabrikarbeiter hatte den Magier Mironow verklagt, weil er ihn nicht wie versprochen vom Stottern heilte. ** Leipzig war als europäisches Handelszentrum schon Ende des 15. Jahrhunderts auch Treffpunkt der Buchhändler, Drucker und Verleger. Die ersten Mainzer Drucker heilten sich um 1470 auf der Leipziger Messe auf. Um 1500 stand die Stadt mit elf Druckereien an der Spitze der über 60 deutschen Druckorte. Nach der Reformation entwickelten sich Verlage und Buchhandel rasant, wurden aber vom Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) nahezu ausgelöscht. Mitte des 17. Jahrhunderts erlebte die Messe wieder einen Aufschwung. Nach einer Pause in der Nazi-Zeit begann sie 1946 wieder.
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Am 30.04.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 26.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Näh dir weite Ärmel, Witwe, damit du die vielen Lügen verstecken kannst, die man über dich verbreitet. | |
Sprichwort der Russen |
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