Sachbuch REZENSIONEN

Die Geschichte des sowjetischen Zwangsarbeitssystems

US-Amerikanerin; über den russischen Gulag
Der Gulag
Aus dem Englischen von Frank Wolf
Mit diversen Schwarz-Weiß-Fotos
Siedler Verlag, Berlin 2003, 734 S.

Weil sie sich vom GULAG (die Abkürzung für "Hauptverwaltung der Lager") kein Bild machen konnte, begann  Anne Applebaum - die in Yale russische Geschichte studierte, Korrespondentin des "Economist" in Warschau war und gegenwärtig bei der "Washington Post" arbeitet - mit ihren Recherchen über das weit verzweigte russische Lagersystem. Applebaums daraus entstandenes Buch Der Gulag - inzwischen Sammelbegriff für das ganze Zwangsarbeitssystem in der Sowjetunion - wurde von der Kritik geradezu euphorisch gefeiert und 2004 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Inzwischen gilt Anne Applebaums Buch als Standardwerk.

Der Gulag ist - obwohl im Deutschen gekürzt - die bisher umfassendste und detailreichste Gesamtdarstellung der Straflager, deren Netz von den Inseln im Weißen Meer bis zu den Stränden des Schwarzen Meeres, vom Polarkreis bis zu den Ebenen Mittelasiens, von Murmansk und Workuta bis nach Kasachstan vom Zentrum Moskaus bis zu den Vororten von Leningrad reichte. Die Öffnung der russischen Archive seit 1991 hat es der Autorin ermöglicht, einen wichtigen Teil des Gulag-Geschehens neu zu rekonstruieren und die ganze menschliche Tragödie des Gulag deutlich zu machen. Applebaum  hat sich allerdings nicht nur auf Archivmaterial gestützt, sondern zitiert auch aus Memoirenliteratur, hat ehemalige Häftlinge gesprochen und war vor Ort: in Archangelsk, Magadan, Syktywkar, Workuta, Petrosawodsk, Nowosibirsk... (Ich habe als DDR-Journalistin alle die hier genannten Orte ebenfalls besucht, allerdings ohne von den Lagern zu wissen und ohne dass je auch nur eine Andeutung von meinen vielen russischen Bekannten fiel - was mir im Nachhinein zu schaffen macht...) Anne Applebaum hat ihr Buch denen gewidmet, die beschrieben haben, was geschehen ist.

Die Autorin beginnt ihr umfangreiches Werk mit einer dreißig Seiten langen Einleitung, in der sie über die Geschichte von Lager und Verbannung - im zaristischen System Katorga genannt - informiert und ihre Leser auch teilhaben lässt an ihren Gedankengängen, inwiefern die nationalsozialistischen Konzentrationslager  und die Straflager des Gulag einander glichen und inwiefern sie nicht miteinander zu vergleichen sind. Nach dieser ausführlichen Einleitung hat die Autorin ihr Buch in drei Teile gegliedert, in zwei chronologische und einen thematischen Teil:

Der erste (chronologische) Teil, "Die Ursprünge des Gulags 1917-1939", beschreibt die Anfänge des Gulags unter den Bolschewiken in Zahlen, Fakten und Gesetzestexten. Die Autorin schildert die Entwicklung des Gulags von den "nördlichen Lagern zur besonderen Verwendung", die bereits 1923 auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer eingerichtet wurden und in denen erstmals die systematische Ausbeutung der Häftlinge entwickelt wurde, bis hin zum "Großen Terror", den Massenverhaftungen und Massenerschießungen sowie den Schauprozessen von 1937 und 1938. Die Lager dienten hauptsächlich wirtschaftlichen Zwecken, indem die Häftlinge als "Arbeitssklaven" ausgebeutet wurden. Gulag und Auschwitz gehören nach Auffassung der Autorin in die gleiche geistige und historische Tradition, "weisen aber feine, ins Gewicht fallende Unterschiede auf". Wer (z. B. durch den ausgezeichneten Text/Bildband des Polen Tomasz Kizny) einigermaßen mit der Literatur über die Solowezki-Inseln und dem Bau des Weißmeer-Kanals vertraut ist, wird an Grundsätzlichem nicht so viel Neues entdecken. Allerdings machen doch viele Details betroffen, z. B. der Sadismus und die sinnlosen Folterungen auf den Solowezki-Inseln, beschrieben in einem Bericht einer Untersuchungskommission, die Moskau Ende der zwanziger Jahre auf die Insel sandte. Bei dieser Inspektion stellten die Moskauer Beamten entsetzt fest, "dass das Wachpersonal Gefangene regelmäßig im Winter unbekleidet in den ungeheizten Glockentürmen der Kathedrale stehen ließ, Hände und Füße auf dem Rücken mit einem Strick gefesselt. Oder sie zwangen Gefangene, bis zu achtzehn Stunden lang bewegungslos auf Pfählen zu sitzen, wobei ihnen manchmal sogar Gewichte an die Beine gebunden wurden, was ihnen zwangsläufig schwere Verletzungen zufügte. Häftlinge mussten bei Frost und Kälte bis zu zwei Kilometer nackt zum Badehaus marschieren. Oder man gab ihnen absichtlich verdorbenes Fleisch zu essen und verweigerte ihnen medizinische Behandlung. Auch völlig Sinn- und Nutzloses war an der Tagesordnung. So mussten die Gefangenen von einer Brücke in den Fluss springen, wenn ein Wachmann `Delphin´ rief." Anne Applebaum schreibt von einer weiteren Folter, die es nur auf den Solowezki-Inseln gegeben hat: "Häftlinge wurden `den Mücken zum Fraß´ vorgeworfen. Ein weißgardistischer Offizier namens Klinger, dem später als einem der wenigen die Flucht von den Solowezki-Inseln gelang, berichtet, wie ein Häftling diese Tortur erleiden musste, weil er sich darüber beschwerte, dass ein Paket von zu Hause eingezogen worden war. Die wütenden Aufseher befahlen dem Mann, sich nackt auszuziehen und banden ihn dann an einen Pfahl im Wald, wo es im Polarsommer von Mückenschwärmen wimmelt. `Nach kaum einer halben Stunde war der Unglückliche von den Stichen am ganzen Körper rot angeschwollen´, schrieb Klinger. Schließlich habe er vor Schmerzen und Blutverlust das Bewusstsein verloren."

Der zweite (thematische) Teil, "Leben und Arbeit in den Lagern", ist der beeindruckendste, weil er eine Vielzahl persönlicher Überlebensgeschichten vereint. Die Autorin beschreibt in allen Einzelheiten den Lageralltag und die Überlebensstrategien der Häftlinge, die besonders bitteren Erfahrungen von Frauen und Kindern in den Lagern, die freiwilligen und erzwungenen sexuellen Beziehungen, sogar heimliche Eheschließungen. Sie erzählt von Rebellion, Streiks und Flucht. Sehr ausführlich geht sie auf die beiden Kategorien der Gefangenen ein: auf die Politischen und die Kriminellen, die sogar einen besonderen Slang sprachen. Über Massenvergewaltigungen auf den Schiffen zu den Lagern der Kolyma zitiert die Autorin Jelena Glink: "Die Vergewaltigung begann auf Kommando des `Schaffners´... Auf den Ruf `Schluss mit lustig´ zog sich der Kerl widerwillig zurück und machte Platz für den nächsten, der schon in voller Bereitschaft dastand... Tote Frauen wurden an den Beinen zur Tür geschleift und über die Schwelle geworfen. Wer das Bewusstsein verlor, wurde mit einem Schwall Wasser wieder zu sich gebracht. Und die Reihe rückte weiter vor. Im Mai 1951 wurden auf der `Minsk´ die toten Frauen kurzerhand über Bord geworfen. Die Wärter notierten nicht einmal die Namen der Verstorbenen."

Der dritte (chronologische) Teil verfolgt den "Aufstieg und Fall des Lager-Industrie-Komplexes 1940-1986". Hier ist im Zusammenhang mit den Geschehnissen im Gulag vom zweiten Weltkrieg die Rede, von den nichtrussischen Völkern, die jetzt zunehmend die Lager bevölkern, von Amnestien, Stalins Tod, ersten Freilassungen; dieser Teil umfasst auch die Ära der Dissidenten, die Perestroika und die endliche Schließung der Lager durch Gorbatschow 1986.

Ich sehe Anne Applebaums größtes Verdienst darin, dass sie bemüht war, für ein breites Publikum ein Buch zu schreiben, das kein Fachwissen über die sowjetische Geschichte voraussetzt. Applebaum schreibt allgemein verständlich, vermeidet Fremdwörter, beleuchtet ihren Stoff souverän und übersichtlich. Diesem Anliegen gilt auch die Gestaltung des Buches. So ist zum Beispiel jedem der fast dreißig Kapitel auf der linken Seite ein immer gleiches Foto vorangestellt - Lagerbaracken mit einem Wachturm - und ein kurzer Text: ein Gedicht, ein Sprichwort, ein Buchauszug, ein Zeitungszitat... Erst auf dem zweiten Blick fällt auf, dass auf diesem immer gleichen Foto von Mal zu Mal ein Detail verschwindet, und dass das Foto von Mal zu Mal blasser wird, bis es zum Schluss nur noch eine graue Fläche ist, auf der gerade noch die Elektroleitungen auszumachen sind - das symbolische Ende des Gulag... Einer dieser dazu gestellten Texte ist ein Zitat aus "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus". Da schreibt Dostojewskij, dass der Mensch ein Geschöpf sei, das sich an alles gewöhne. Aber, so frage ich mich immer, wenn ich "Lagerliteratur" lese, wie können diese gequälten Menschen, deren Augen unvorstellbar Schreckliches sahen, in ein normales Leben zurückkehren? In ihrem Kapitel "Überlebensstrategien" ist dazu bei Anne Applebaum zu lesen: "Am Ende gab es Gefangene, die überlebten. Sie überstanden selbst die schlimmsten Lager, die härtesten Bedingungen, die Kriegsjahre, den Hunger und die Massenexekutionen. Und nicht nur das. Einige blieben psychisch intakt genug, um nach Hause zurückzukehren, sich zu erholen und danach relativ normal weiterzuleben. Janusz Bardach wurde plastischer Chirurg in Iowa City. Isaak Filschtinski lehrte wieder arabische Literatur. Lew Rasgon schrieb wie zuvor Kinderbücher. Anatoli Schigulin verfasste wieder Gedichte, Jewgnia Ginsburg zog nach Moskau und war jahrelang der Mittelpunkt eines Kreises von Überlebenden, die sich regelmäßig an ihrem Küchentisch trafen, um miteinander zu essen, zu trinken und zu streiten. - Ada Purischinskaja, die als Jugendliche ins Lager kam, heiratete schließlich und hatte vier Kinder, von denen mehrere hervorragende Musiker wurden. Zwei lernte ich bei einem fröhlichen, üppigen Familienessen kennen. (...)  - Einige leisteten später Außergewöhnliches. Alexander Solschenizyn ist einer der bekanntesten und meist gelesenen russischen Schriftsteller der Welt geworden. General Gorbatow war an führender Stelle am Sturm der Roten Armee auf Berlin beteiligt. (...) Sergej Koroljow wurde zum Vater der sowjetischen Raumfahrt. Gustaw Herling-Grudzinski kämpfte in der polnischen Armee. Obwohl er später nach Neapel ins Exil ging, ist er heute einer der beliebtesten Schriftsteller im postkommunistischen Polen." Mit der Fähigkeit, neu anzufangen, waren diese Männer und Frauen keine Einzelfälle. Isaac Vogelfanger, der selbst Professor für Chirurgie an der Universität von Ottawa wurde, schreibt: "Wunden heilen, und du wirst wieder ganz neu - ein bisschen stärker und humaner als zuvor." Ob das nicht doch Ausnahmen sind, und die große Masse der Überlebenden sich als unheilbar traumatisiert erwies?

Hingewiesen sei darauf, das (auf dem Foto S.105) nicht Genrich Jagoda (1891-1938, 1935 Oberster Kommissar der Staatssicherheit) an der Seite Stalins den Weißmeer-Kanal besucht, sondern Nikolai Jeshow (1895-1940, von 1937 bis 1938 Oberster Kommissar der Staatssicherheit).

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

Weitere Rezensionen zum Thema "Lagerliteratur (GULag / Gulag / GULAG und Verbannung)":

  • Tomasz Kizny, GULAG.
  • Anna Larina Bucharina, Nun bin ich schon weit über zwanzig.
  • Gerhart Schirmer, Sachsenhausen - Workuta. Zehn Jahre in den Fängen der Sowjets.
  • Horst Schüler, Workuta, Erinnerung ohne Angst.
  • Lydia Tschukowskaja, Sofja Petrowna.
  • Semjon S. Umanskij, Jüdisches Glück. Bericht aus der Ukraine 1933-1944.
  • Julius Wolfenhaut, Nach Sibirien verbannt.
Am 27.06.2007 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 01.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Mit Worten allein heilt man kein Unheil.
Sprichwort der Russen

 [  zurück  |  drucken  |  nach oben  ]