Belletristik REZENSIONEN |
Moskau gibt mehr aus, als es in der Tasche hat...
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Valeria Jäger / Erich Klein
(Hrsg.) |
Deutsche; über das russische Moskau |
Moskau
EUROPA ERLESEN, Hrsg. von Lojze Wieser
Wieser Verlag, Klagenfurt 1999, 280 S. |
Die Herausgeber Jäger und Klein des Moskau-Bandes haben auch schon
St. Petersburg
(1998) "erlesen". Für Moskau* nun haben sie achtundachtzig Beiträge aus fünf
Jahrhunderten zusammengetragen, beginnend mit einem unbekannten
Chronisten, der schrieb: "Fürst Jurij bestieg
[im Jahre 1147] den Hügel, sah sich um,
schaute nach allen Seiten, hierhin und dorthin, in beiden Richtungen
den Moskau-Fluß und die Neglinnaja entlang; und er entzückte sich an
ihren Dörfern und befahl, unverzüglich hier eine Stadt aus Holz zu
errichten, und ihr Name solle Moskau-Stadt sein."
War bei
"Russland A-Z / Россия A-Я"
kritisch anzumerken, dass die gebotenen Auszüge kaum
Landeskundliches enthielten, so betrifft bei
Moskau tatsächlich jeder Beitrag - ob Gedicht, Bericht, Brief, Erzählung, Roman,
Reisebeschreibung - die Stadt
Moskau, egal, ob sich russische oder
ausländische Autoren äußern. So schreibt der österreichische
Diplomat und Schriftsteller
Sigismund zu Herberstein (1486-1566): "Die Stadt liegt zwar nicht in
Asien, aber doch an der äußersten Grenze von Europa. (...) Moskau ist
in seinem Kern ganz aus Holz gebaut. Es ist sehr groß und sieht von
ferne noch umfangreicher aus. Die Häuser besitzen nämlich auch noch
weite Gärten und Höfe, und dies verleiht der Stadt einen Anschein von
Größe." Der italienische Abenteurer, Schriftsteller und Frauenheld Giacomo Casanova (1725-1798) berichtet:
"Die Frauen fand ich in Moskau schöner als in Petersburg: ich
glaube, das liegt an der Luft, die dort viel gesünder ist.
Leo Tolstoi (1828-1910) nennt
Moskau, "(...) die Stadt mit den unzähligen Kirchen"
eine "orientalische Schöne"; Nikolai Gogol (1809-1852) vergleicht
Moskau mit St. Petersburg so: "Petersburg - ist ein Mensch von
peinlicher Akkuratesse - ein echter Deutscher, es erwägt alles und
rechnet alles nach, und ehe es eine Abendgesellschaft gibt, tut es
einen Blick in die Tasche; Moskau - ist ein russischer Edelmann, wenn
er sich einmal amüsiert, dann amüsiert er sich so, daß er hinfällt,
und kümmert sich nicht darum, ob er mehr ausgibt, als er in der Tasche
hat. (...)" Geradezu eine Liebeserklärung gibt der
österreichische Schriftsteller Rainer Maria Rilke
(1875-1926) ab: "Und ich
würde glauben, daß ich überall so einsam und verloren und überzählig
wäre, wenn ich nicht zweimal (in den Jahren 1899 und 1900) in Rußland
gewesen wäre, wo ich erkannte, daß es eine Heimat für mich gibt, ein
Erdreich, in dem ich Wurzel schlagen, ein Volk, das ich lieben könnte
- das ich liebe." Alexander Sinowjew (geb. 1922) schreibt als
Emigrant: "Für mich gibt es nur eine Hauptstadt auf der Welt, und das
ist Moskau. Alles andere ist für mich Provinz. Moskau ist nicht
einfach nur die Hauptstadt eines Staates. Es ist die Hauptstadt der
Geschichte."
Viel wird auch über den Kreml und die
Basilius-Kathedrale geschrieben, über die Moskauer Boulevards, den
Roten Platz, die Denkmäler, das Mausoleum, das
Puschkin-Museum, dessen Direktor einst
Marina Zwetajewas Vater war... Bei so kundiger Auswahl macht es Sinn, die kleinen handlichen Bändchen mit Goldschnitt auf
die Reise
(nach Moskau) mitzunehmen.
Doch ich vermisse wieder einmal biographische Angaben
zu den einzelnen Autoren. Viele Texte erschließen sich doch erst
richtig, wenn man weiß, welcher Nationalität der Autor ist, welcher
literarischen Strömung er angehört, was er geschrieben hat... Wer zum
Beispiel ist Sergej
Gandlevskij, geboren 1952? Das Buch, aus dem der Auszug "Elegie"
stammt ist in deutscher Sprache bisher nicht erschienen, auch andere
Veröffentlichungen von ihm gibt es auf dem deutschen Buchmarkt nicht. Im Internet
entdeckte ich zwar einen russischen Autor seines Namens, der aber ist 1932 geboren. Und Reinhard Lauer schreibt in seiner
"Kleinen
Geschichte der russischen Literatur": "Ein Sammelbecken der
zeitgenössischen Lyrik wurde seit 1994 die von Aleksej Alëchin
herausgegebene Zeitschrift "Arion"**, der es gelang, sowohl ältere
Dichter (...) als auch jüngere (Sergej Gandlevskij, Timur Kibirov u.
a.) um sich sich zu scharen. Jüngere Dichter? Das könnte der gesuchte
Sergej Gandlevskij sein. Aber Lyriker? Der Auszug zu seinem Text
"Elegie" ist ein Prosatext. Will sagen, dass biographische Angaben zu
den einzelnen Autoren unerlässlich sind.
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Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.de
*
Viktor Jerofejew schreibt in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom
20.12.2007: "Der Fremde, der heute nach Moskau kommt, spürt
eine tiefe Verwunderung. Vor sich sieht er eine Stadt, die aus der
ehemaligen Hauptstadt des Kommunismus mit all den Lastern der
sowjetischen Zivilisation - vor allem der hoffnungslosen Monotonie,
dem Kasernengeist, der erzwungenen Askese, der schlecht kaschierten
Armut - zu einer irrsinnig teuren Weltmetropole des ungehemmten
Genusses geworden ist. Alles in Moskau, könnte man meinen, läuft auf
das Ziel hinaus, dem Leben unverzüglich grenzenlosen Spaß zu
entlocken, ohne an morgen zu denken. Der Moskauer Lebensstil ist
geprägt von der Luxussucht. Das Wichtigste sind Partys, Nachclubs,
Diskotheken, Spielbanken, Saunen mit Prostituierten - Moskau arbeitet
im Rhythmus einer Sündenstadt."
** Am 01.10.2007 schmökerte ich mal
wieder wahllos in meiner umfangreichen Bibliothek herum und entdeckte "Türspalt an
der Kette", Russische Lyrik des "ARION"-Kreises, aus dem Russischen
von Alexander Nitzberg, beim Grupello Verlag, Düsseldorf 1998, in der
Reihe Chamäleon als Sonderband erschienen. Und darin: auch Sergej
Gandlewskij mit diesem Gedicht:
Meiner Frau
Und alles tickt so laut. Sich in die Laken wühlen,
zum Streichholzmarsch, direkt, in Kleidung. Laß das sein:
jetzt keine Dummheiten. doch sind die Angstgefühle
älter und haltbarer als du, o Seele mein.
Es glimmt am Tellerrand die Zigarettenasche,
zwei Schlüssel schimmern leicht in Winterdunkelheit.
Das wäre wohl der Tod, da hast du es, du Flasche,
Gebot und Not und Brot: des Reimeschmiedes Leid.
Und eine nackte Frau erhebt sich dann vom Lager
und zieht über den Kopf ein luftiges Gewand,
und ohne jede Hast betrachtet sie in vager
Ziellosigkeit den Raum, der Gutes kaum gekannt,
sehr milde ausgedrückt... Vor einer großen Reise
setzt man sich einmal hin, nach alter Tradition;
nun, wie es sich gehört: sie setzt sich hin ganz leise.
Verehrte Ältesten - das ist die Hölle schon!
In lichter Finsternis wird sie zum Ausgang schreiten,
blickt von der Schwelle noch mein armes Bettchen an,
um schließlich in dem Staub des Sekretärs zu schreiben:
einen skurrilen Traum, den man nicht lesen kann.
Sergej Gandlewskij wird in "Türspalt an
der Kette" von Alexej Aljochin (Aleksej Alëchin),
dem Chefredakteur von "Arion", als Neoklassizist und offensichtlicher Nachfolger von
Wladislaw Chodassewitsch (1886-1939) bezeichnet.
Er nennt ihn einen der schillerndsten Dichter des ehemaligen Moskauer Untergrunds. Aus dem
biographischen Angaben zu den einzelnen Dichtern erfahren wir über
Sergej Gandlewskij: Geboren 1952 in Moskau. Absolvierte die
Philologische Fakultät der Moskauer Staatsuniversität.
Veröffentlichungen: Gedichtbände: "Erzählung" (1989) und "Die Feier"
(1995), Prosabände: "Trepanation des Schädels" (1996). Auszeichnungen:
Preis der Zeitschrift "Snamja" (1995), Kleiner Buker-Preis (1996) und
Antibuker-Preis (1996).
| Weitere Rezensionen zum Thema "Moskau":
|
- Kay Borowski (Hrsg.), Bei mir in Moskau leuchten die Kuppeln. Eine Stadt im Spiegel ihrer Gedichte.
- Claudia Erdheim, Eindrücke.
- Andrea Hapke / Evelyn Scheer, Altrussische Städte.
- Edeltraud Maier-Lutz, Flußkreuzfahrten in Rußland.
- Sonia Mikich, Planet Moskau.
- Sergio Pitol, Die Reise. Ein Besuch Rußlands und seiner
Literatur.
- Thomas Roth, Russisches Tagebuch.
- Karl Schlögel, Moskau lesen.
- Gregor M. Schmidt / Christa Damkowski, Moskau und der Goldene Ring.
- Elfie Siegl, Russischer Bilderbogen. Reportagen aus einem unbegreiflichen Land.
- Valerij Stignejew, Moskau-Berlin.
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Am 19.09.2007 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am
26.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
Mit einem klugen und guten Weggenossen lassen sich
Hunger und Kälte leichter ertragen. |
Sprichwort der Russen |
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