Sachbuch REZENSIONEN

Einmaliger Run auf die Sowjetunion...

Russe
Ich bitte um Arbeit in der Sowjetunion
Das Schicksal deutscher Facharbeiter im Moskau der 30er Jahre
Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann
Redaktionelle Fachbearbeitung Wladislaw Hedeler
Ch. Links Verlag, Berlin 2003, 189 S.

Auswanderer aus der UdSSR gab es viele. In drei Emigrationswellen verließen diese "Unpersonen" ihre sowjetische Heimat. Aber nur ein einziges Mal während ihrer Geschichte sind in die Sowjetunion Menschen in großen Scharen eingewandert: aus Westeuropa - vornehmlich aus Deutschland und Österreich.  Beginnend in den zwanziger Jahren entwickelte sich die Immigration in die Sowjetunion während der frühen dreißiger Jahre zu einem Massenphänomen. Die deutschen Arbeiter baten nach der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre um Arbeit in der Sowjetunion wegen der großen Arbeitslosigkeit zu Hause und auch wegen der gezielten sowjetischen Anwerbung. Die Sowjetunion brauchte für ihre ehrgeizigen Industrialisierungspläne dringend ausländische Spezialisten. So kamen Fachleute von der Siemens AG und von Osram in das Moskauer Elektrokombinat "Elektrosawod", wo sie zunächst lukrative Devisenverträge erhielten. Doch binnen weniger Jahre verschlechterten sich die Lebensbedingungen, und die meisten Verträge wurden gebrochen. Für viele deutsche Arbeiter gab es nach 1933 kein Zurück mehr in ihre deutsche Heimat. Sie mussten sich auf Gedeih und Verderb auf die sowjetischen "kollektiven Lebensbedingungen" einstellen. Später waren sie in erschütternder Zahl dem Stalinschen Terror ausgeliefert.

Da war zum Beispiel die Familie Huth: In den zwanziger und dreißiger Jahren hatte diese kinderreiche Familie unter ärmsten Verhältnissen in Berlin gelebt. Nach langer Arbeitslosigkeit schloss der Schleifer Alfons Huth im Februar 1931 einen Vertrag mit dem Moskauer Elektrokombinat ab und zog mit seiner Frau und den fünf Söhnen in die UdSSR. Der Sohn Johannes - einer der besten Stoßarbeiter des Elektrokombinats - besuchte bald schon Fortbildungskurse, Bernhard ging zur Arbeiterfakultät, Paul und Bruno studierten Medizin, der jüngste, Karl, besuchte die deutsche Karl-Liebknecht-Schule in Moskau. Auch diese Musterfamilie wurde 1938 von der Welle des Großen Terrors erfasst: Die älteren vier Söhne wurden als Mitglieder einer erfundenen faschistischen Spionageorganisation hingerichtet. Im Juni 1940 wurde auch der Vater Alfons Huth verhaftet und zu sieben Jahren Besserungs-Arbeitslager verurteilt; er starb in der Haft. Seine Frau Julia wurde nach Sibirien verbannt, wo sie verhungerte. Als einziger überlebte der jüngste Sohn Karl. Die Familie Huth war kein Ausnahmefall! Gerade die "Erfolgreichen", die mit Prämien bedachten ausländischen Stoßarbeiter, deren Schicksal auch mit Blick auf das Ausland propagandistisch aufgearbeitet worden war, waren während des Großen Terrors in besonderem Maße der Verfolgung ausgesetzt. Ihre Anpassung an das sowjetische Leben, ihre Aufopferung und ihr Engagement galt den NKWD-Behörden als gelungene Tarnung, die Höchststrafen nach sich zog.

Der Moskauer Historiker Sergej Shurawljow hat in seinem Buch viele Schicksale der deutschen Facharbeiter im Moskau der zwanziger und vor allem der dreißiger Jahre recherchiert und sehr fundiert und spannend geschildert - aus der Sicht einfacher Arbeiter und nicht, wie bisher üblich, aus der Perspektive der sowjetischen Eliten oder hochrangiger Politemigranten. Shurawljows Ich bitte um Arbeit in der Sowjetunion ist die erste Fallstudie eines russischen Historikers zum Thema ausländische Arbeiter in der Sowjetunion, die - wie im Buch immer wieder hervorgehoben - auf einer Art "deutscher Insel" lebten. Deutlicher Ausdruck für diese Abgeschlossenheit war der Klub für ausländische Arbeiter in Moskau, der an mehreren Stellen beschrieben wird: Hier war eine Art "ausgelagertes Wohnzimmer" der in beengten Wohnverhältnissen lebenden Ausländer, wo sie sich zu Veranstaltungen und Zirkeln, aber auch einfach zum geselligen Austausch trafen. Die Ausländer, die in der Mehrzahl schlecht russisch sprachen, blieben hier unter sich.

Sergej Shurawljow (geb. 1960), studierte am Moskauer Institut für Geschichte und Archivwesen, promovierte zum Doktor der Geschichtswissenschaft und ist heute leitender Forscher am Institut für russische Geschichte der russischen Akademie der Wissenschaften. Warum bat der Links-Verlag* Shurawljow nicht um ein Vor- oder Nachwort? Ich finde, dies fehlt im ansonsten außerordentlich informativen Anhang (Anmerkungen, Verzeichnis der Arbeiter aus Deutschland und Österreich im Moskauer Elektrokombinat, Glossar, Abkürzungsverzeichnis, Personenregister; leider aber ohne Bibliographie und weiterführende Literaturhinweise.).


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 * Der Ch. Links Verlag, Berlin, wurde im Januar 1990 als einer der ersten Nachwende-Verlage gegründet. "Der Osten hat seit der Wende zwei Dirtel seiner Verlage verloren", sagt Christoph Links in der Berliner Zeitung vom 17. November 2005, "nur drei Prozent der Neuerscheinungen kommen von hier. Zehn Prozent der zweihundert Verlagsgründungen haben überlebt."

 

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  • Gernot Friedrich, Mit Kamera und Bibel durch die Sowjetunion.
  • Andreas Meyer-Landrut, Mit Gott und langen Unterhosen. Erlebnisse eines Diplomaten in der Zeit des Kalten Krieges.
  • Gabriele Stammberger / Michael Peschke, Gut angekommen - Moskau. Das Exil der Gabriele Stammberger 1932-1954.
  • Erika Voigt / Heinrich Heidebrecht, Carl Schmidt - ein Architekt in St. Petersburg 1866-1945.

Am 03.02.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Die Arbeit schmückt den Menschen.
Sprichwort der Russen

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