Belletristik REZENSIONEN

Kein wahres Kleinod

Über Russland; russische Literatur
Russland A-Z / Россия A-Я
EUROPA ERLESEN, Hrsg. von Lojze Wieser
Wieser Verlag, Klagenfurt 2003, 216 S.

Die Wieser-Reihe EUROPA ERLESEN macht seit 1997 durch Anthologien mit europäischen Ländern, Städten,  Landschaften bekannt. Wer  aber bei Russland A-Z wie zum Beispiel bei "St. Petersburg" (1998), "Moskau" (1999), "Tallinn" (2003), "Georgien" (2006) mit landeskundlichen Beiträgen gerechnet hat, wird enttäuscht. Landeskundliches, konkret auf Russland Bezogenes, ist trotz gründlichen Lesens nicht auszumachen - bis auf fünf dem Band als Motto vorangestellte Gedichtzeilen von Nikolaj Nekrasov [Nikolai Nekrassow]: "Du bist das elende, / Du auch das prächtige, / Du auch das machtlose, / Du auch das mächtige / Mütterchen Rus´!"

Der Russland-Band ist nach Autoren von A-Z aufgegliedert, obwohl sich doch - wie bei den anderen genannten Bänden auch - viel eher eine chronologische Reihenfolge angeboten hätte. So steht dann in Russland A-Z die 1937 geborene "radikal subjektivistische Lyrikerin" Bella Achmadulina vor der 1869 geborenen Zinaida Gippius [Sinaida Hippius], der "bedeutendsten Dichterin der Emigration" und das Gedicht "Die verirrte Straßenbahn" des Akmeisten Gumilëv [Gumiljow] vor dem "Russischen Lied" von Puškins (Puschkins) Freund Anton Del´vig [Delwig] aus dem Goldenen Zeitalter... Die Reihenfolge der Autoren und damit die Konzeption des Buches ist also allein den Anfangsbuchstaben der Nachnamen der Autoren geschuldet. Aber sie sind nicht etwa aneinandergereiht nach dem deutschen Alphabet, sondern nach dem russischen, in dem die Buchstabenfolge eine andere als im Deutschen ist.

Nehmen wir einmal an, Sie suchen Maximilian Woloschin, weil er einer Ihrer Lieblingsschriftsteller ist. Da müssen Sie wissen, dass das "W" im russischen Alphabet auf das "B" folgt. Schwachsinnig für eine Anthologie in deutscher Sprache! Aber damit nicht genug, hat der Verlag (oder haben die Herausgeber) die Namen der Autoren in der wissenschaftlichen Transliteration (Umschrift) wiedergegeben: Aus dem russischen "W" wird ein deutsches "V", das es im Russischen gar nicht gibt! Aber auch damit nicht genug, ist immer, wenn ein Autor mit einem neuen Anfangsbuchstaben beginnt, eine (hübsch anzusehende) Vignette des Buchstabens vorangestellt. Bleiben wir bei Ihrem eventuellen Lieblingsschriftsteller, dem 1877 geborenen Maximilian Woloschin. Vor seinem transliteriert geschriebenen Namen Maximilian Vološin prangt in der Vignette ein russisches "B" (das ein "W" ist). Aber auch damit nicht genug, haben sich bei der Transliteration auch noch Fehler eingeschlichen, denn nach dieser - für belletristische Titel völlig ungeeigneten Umschrift - muss Maximilian (Woloschin) Maksimilian geschrieben werden, wie Puškin richtig Aleksandr geschrieben ist. Was die unselige Umschrift anbetrifft, so ergibt sich auf S. 78 dieses Kuriosum: In "Die Reise nach Petuschki" spricht der Autor Wenedikt Jerofejew mit sich selbst: "Hilf ihm, Jerofejew", dachte ich. Hilf dem armen Kerl." Doch welcher russisch nicht bewanderte Leser soll darauf kommen, dass hier der Autor Jerofejew selbst gemeint ist, wo sich doch sein Autorenname in der Umschrift Erofeev schreibt...

Das Buch kann Ihnen mal gestohlen bleiben? Gemach, das bis jetzt kritisch Genannte sind ja nur Äußerlichkeiten, kommen wir zum Inhalt. Da sind mit rund fünfzig Autoren die Vorklassiker Deržawin und Karamsin vertreten, die Klassiker (Dostojevskij, Gogol´, Gončrov, Lermontow, Leskov, Puškin, Tolstoj, Turgenev, Čechov...) und auch die wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts ( Achmatova, Babel, Blok, Brodskij, BulgakovEvtušenko, Esenin, Majakowskij, Mandel´štam, Nabokov, Pasternak, Rybakov,  Soščenko ...) wurden ausgewählt. Doch dann? Mit Ljudmila Ulickja [Ulitzkaja] findet sich nur eine einzige Vertreterin der Gegenwartsliteratur. Keine Tolstaja, keine Narbikowa, keine Tokarjewa... Kein Sorokin, kein Pelewin, kein (Viktor) Jerofejew... Im  Band Russland A-Z äußern sich zum Gegenstand Russland leider auch keine ausländischen Autoren wie es bei den anderen aufgeführten Bänden der Reihe EUROPA ERLESEN üblich ist.

Bei Russland A-Z / Россия A-Я handelt es sich eindeutig um eine Anthologie russischer Schriftsteller, von denen es doch wahrlich genug gibt. Doch damit nicht genug, handelt es sich hier ja nicht um vollständig abgedruckte Werke, sondern "nur" um Auszüge aus Geschichten, Erzählungen, Romanen, Gedichten... Was hat der Leser von solchen Auszügen, wenn sie nicht landeskundlich zugeschnitten, sondern ganz allgemeiner (russischer) Natur sind? Abgesehen vielleicht von den Gedichten kann man sich doch kein Bild von einem Autor und seinem Werk machen, wenn man zum Beispiel von Gončarovs "Oblomov" von knapp siebenhundert Seiten gerade mal fünf zitiert bekommt. Oder nehmen wir von Lev Tolstoj (Der Tod des Iwan Iljitsch). Von dieser hundertseitigen Meistererzählung bekommen wir sechs Seiten vorgesetzt, die von dem einsamen, grauenvollen Sterben Iwan Iljitschs nichts ahnen lassen...

Kurzum: Eine literarische Auszugs-Anthologie - wozu? Für wen? Auffällig übrigens, dass die ausgewählten Auszüge oft aus alten Übersetzungen stammen, obwohl neuere, manchmal auch anerkanntere erschienen sind.

Als angenehm habe ich empfunden, dass nach jedem Autor kurze biographische Angaben folgen, die, so komprimiert sie sind, von guter Sachkenntnis zeugen. Nur: Ein (einordnendes) Nachwort ersetzen sie nicht.

Und noch ein Wermutstropfen. Wieder (wie auch schon bei "St. Petersburg" hat der Fehlerteufel zugeschlagen. Nach S. 208 sind die folgenden Seiten (Quellenverzeichnis, Pressestimmen, alle lieferbaren Titel der Reihe EUROPA ERLESEN) völlig durcheinander geraten, verheftet; beim Quellenverzeichnis fehlen die Seiten mit Werken der Autoren von A-E ganz.

"Die Zeit" schwärmt von der Reihe EUROPA ERLESEN: "Diese Büchlein halten ihr Versprechen: Aus dem blinkenden Steinchen von Feuilletons, Gedichten, Landschaftsbetrachtungen und Portraits entsteht als dichtes Mosaik ein Bild von Lebensweise und Kultur, wie es kein Reiseführer vermitteln kann. Handlich, mit Goldprägung und Lesebändchen, sind die kleinformatigen Büchlein wahre Kleinodien." Russland A-Z / Россия A-Я ist da leider eine Ausnahme.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

  

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  • Claudia Erdheim, Eindrücke.
  • Andrea Hapke / Evelyn Scheer, Altrussische Städte. Moskau und der Goldene Ring.
  • Barbara Löwe, KulturSchock Russland.
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  • Sonia Mikich, Planet Moskau.
  • Thomas Roth, Russisches Tagebuch.
  • Michail Schischkin, Venushaar.
  • Gregor M. Schmidt / Christa Damkowski, Moskau und der Goldene Ring.
  • Dietmar Schumann, An der Lena flußabwärts.
  • Elfie Siegl, Russischer Bilderbogen. Reportagen aus einem unbegreiflichen Land.

Am 29.08.2007 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 26.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Gehe nie mit deinen eigenen Regeln in ein fremdes Kloster.

Sprichwort der Russen


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