BELLETRISTIKREZENSIONEN

"Benzin ist das Blut des Krieges..."

Russe
Benzinkönig
Aus dem Russischen von Annelore Nitschke
Luchterhand Literaturverlag, München 2011, 479 S.

"Wann habe ich jemals unredlich gehandelt?", fragt auf Seite 375 der Hauptheld des Romans Benzinkönig, Major Schilin, die alten Tschetschenen, die ihn bitten, den toten Berg-Achmet, alias Achmet Udygow, ("[...] der kein Gesicht mehr hatte. Es war vom Feuerstoß weggefegt worden. Zermatscht.") aus dem Leichenhaus freizukaufen; denn die Greise wollen ihren gefallenen Verwandten - ihrer tschetschenischen Tradition gemäß - schnell der Erde übergeben. Und Major Schilin meint, was er sagt. Immer. Jedenfalls im Krieg. Und die alten Männer, die um die Redlichkeit des "Benzinkönigs" entweder vom Hörensagen wissen oder sie schon am eigenen Leibe erfahren haben, nicken Zustimmung. Und so bezahlt der russische Versorgungsoffizier Schilin die Beamten des russisch geleiteten Kühlhauses mit der vereinbarten Menge Heiz- und Dieselöl, und die tschetschenischen alten Bittsteller bekommen im Gegenzug ihren tschetschenischen Leichnam. Auf Saaschik, wie Alexander Schilin bei den Tschetschenen heißt, ist eben Verlass - egal, ob es sich darum handelt, tschetschenischen (im Prinzip) prorussischen Bauern Treibstoff zu verkaufen, damit ihre Erntemaschinen laufen oder den berüchtigten tschetschenischen Feldkommandeuren mit Benzin unter die bewaffneten Arme zu greifen oder um russische "grüne Jungs" vor dem Erschießen zu bewahren oder russischen Soldatenmüttern* zu helfen, ihre in tschetschenische Gefangenschaft geratenen Söhne ([...] "die zum Teil keine Ohren mehr hatten oder vergewaltigt worden waren") freizukaufen oder an die russische Hubschrauberstaffel eine Benzin-Sonderzuteilung auszugeben, damit sie tschetschenische Kämpfer bombardieren, die eine russische Panzer- und Fahrzeugkolonne eingekesselt haben oder... oder ...oder... "Gäbe es Major Schilin nicht, dann stünden irgendwo Berge von Benzin- und Masutfässern und irgendwo anders gar keine. Wie bei den Kommunisten. Stagnation."

Wer will es da unredlich finden, dass der Versorgungsoffizier Schilin - um die Vierzig, verheiratet, eine fast erwachsene Tochter, im Zivilleben Bauingenieur - jedes zehnte Fass Benzin oder Diesel für sich selbst abzweigt - als Gegenleistung sozusagen für seine oft lebensgefährlichen Bemühungen? Irgendwoher müssen die Rubelchen / Dollarchen ja kommen für das im Bau befindliche Haus "mittlerer Erschwinglichkeit", an einem russischen Fluss, für das die Frau daheim als Bauherrin durchaus ihren Mann steht - wie ihr Gatte aus den nächtlichen Telefonaten mit ihr weiß. Übrigens hat die famose Idee des  Datschen-Häuserbaus dem Major Schilin Dschochar Dudajew eingegeben, der erste tschetschenische Präsident, der dann im Oktober 1991 durch einen gezielten russischen Raketenschlag getötet worden war. "Eine Datscha", hatte er gesagt,  ist sehr gut für einen Major a. D." Das war, nachdem Dudajew ("Intelligente Tschetschenen nannten Dudajew schon ganz zu Anfang Duda, das klang seriös und bedeutungsvoll. Nicht Dudka, Pfeife, sondern DUDA. Trompete. Horn!") mit Major Schilin über Freundschaft palavert hatte: "Freunde verraten einen, Major. Die besten! Gerade die Freunde verraten einen... [...] Warum?  Weil alle anderen uns ausliefern. Bekannte liefern aus. Kameraden liefern aus. Mitarbeiter liefern aus. [...] Im Kaukasus gibt es ein Gleichnis der Bergbewohner: "Ein Wolf zog ein verletztes Wolfjunges auf, in der Annahme, es würde sein Hund werden. Das Wölflein wurde natürlich ein Wolf und lief in den Wald davon. Als der Mann ihn eines Tage im Wald traf, sagte er vorwurfsvoll: `Du Verräter´, worauf der erwachsene Wolf erwiderte: "Belaste mich nicht mit einem fremden Namen. Ich bin einfach ein Wolf. Ich war nicht dein Freund. - ´Ich war nicht dein Freund´, fuhr der Wolf fort. `Aber dein falbes Pferd, das dein Freund war, und das du so geliebt hast. Das du besser gefüttert und getränkt hast als dich selbst. Das du aus Mitleid nicht kastriert hast. Das dich jeden Morgen mit seinem Wiehern geweckt hat. Und das dich gestern vergessen und sich einer jungen Stute angehängt hat, das auf dem Pfad in die Berge weggegangen ist... wo unsere Wälder sind... und wo ich ihm gestern die Gurgel durchgebissen habe, das ist ein Verräter."

Oft genug investiert Major Alexander Sergejitsch Schilin auch noch seinen eigentlich für sich abgezweigten Treibstoff als Verhandlungsbasis - mit dem und jenem, mit Freund und Feind. Nehmen wir als Beispiel gleich die ersten beiden Kapitel des Romans: In Tschetschenien ist aus Russland Nachschub eingetroffen - grün hinter den Ohren, Kriegs unerfahren, stockbesoffen. Auf der Zugfahrt zu Major Schilins Vorratslager geraten die blutjungen Soldaten ("Die Visagen glühen rot. An den Backen, ha-ha, könnte man sich die Zigarette anzünden.") in einen tschetschenischen Hinterhalt. Der tschetschenische Feldkommandant verlangt von Schilin fünftausend Dollar, ja Dollar, die "ihm schon in den Eingeweiden brannten. Das stärkste Sodbrennen unserer Tage." ("Das Lösegeld für einen Soldaten [...] war in jenen Tagen nicht hoch - einhundertfünfzig bis zweihundert Dollar. [...] Ich hatte die Überschlagsrechnung des Kommandeurs durchaus erfasst. Einhundertfünfzig Greenbacks mal dreißig oder vierzig - Besoffene und Verschlafene - sind etwa diese Summe.) Die Verhandlungen ziehen sich lange hin, das Blutbad scheint unausweichlich. Da bemerkt Schilin so nebenbei, dass er in einiger Entfernung einige alte Tschetschenen auf der Straße gesehen habe, denen der Sprit ausgegangen sei. Wenn also der Feldkommandeur diese besoffenen, grünschnäbeligen Einfaltspinsel erschießen lasse, werde er, Schilin, einen Kampfhubschrauber anfordern, um "aus den Greisen Qualm zu machen".  So als wäre das alles nicht schon gefährlich genug, beginnen die besoffenen, übermütigen russischen Soldaten die Tschetschenen zu provozieren, indem sie den "Tschitschen" ihre nackten Hintern präsentieren und sich über ihre Heldentat auch noch krumm lachen. Eine furiose Szene!

Man kann sich gut vorstellen, das es Major Schilin eine schöne Stange Benzin kostet, die "Auffüllsoldaten" vor dem Abschlachten zu bewahren...

Wer will da noch behaupten, der Benzinkönig und Ich-Erzähler Major Schilin sei korrupt? Oder charakterlos? Oder gar unmoralisch? Zumal Major Schilin zwar sein Treibstoff-Business mit Freund und Feind betreibt, aber niemals auch nur eine einzige Knarre verhökern würde... Die Benzinhändler sind ein Trio, ein "gut aufeinander eingespieltes": der Tschetschene Ruslan, der Stabsmajor Kolja Gussarzew und eben Major Schilin. "Die Armee ist derzeit nur halb zu führen. [...] Es gibt keine Disziplin. Und wenn es keine Disziplin gibt, dann soll wenigstens der Markt die Versorgung mit Treibstoff lenken. Sonst herrscht Chaos." Nach außen sind die drei Geschäftspartner einfach Freunde - die sich nie wegen der Aufteilung des Geldes streiten. Major Schilin "zahlt großzügig, manchmal einfach zu gleichen Teilen." Redlich eben!

Dem kaukasischen Thema, "Russlands offener Wunde", entgeht kaum ein russischer Schriftsteller von Rang: Gribojedow, Puschkin, Lermontow, Tolstoj. Von Makanin erschien 2005 schon  "Der kaukasische Gefangene", eine zutiefst anrührende Erzählung über den Tschetschenien-Krieg. Nun liegt der umfangreiche Roman Benzinkönig über den ersten und zweiten Tschetschenienkrieg vor. Da die historischen Hintergründe nicht jedem Leser geläufig sein werden, seien sie hier noch einmal in Erinnerung gerufen:

Der Krieg in Tschetschenien ist ein dunkles und blutiges Kapitel der russischen Geschichte, aber beileibe kein neues. [...] Die grausamen Kämpfe im nördlichen Kaukasus [...] reichen mit ihren Ursachen weit in die Geschichte des russischen Imperiums zurück. Jahrhundertelang haben sich die Tschetschenen allen Unterwerfungsversuchen widersetzt. Seit dem 18. Jahrhundert expandierte das zaristische Russland nach Süden. Die Tschetschenen lebten damals noch vorwiegend im gebirgigen Süden und machten sich durch Überfälle und Plünderungszüge in den Gouvernements Stawropol und Krasnodar bemerkbar. Grausame russische Strafexpeditionen waren die Folge, die oft in lange Kriege ausarteten. Lew Tolstoi beschreibt in seinem Roman `Hadschi Murat´ diesen Widerstandskampf und lässt Zar Nikolaus I. folgende Weisung erteilen: `Er (der Befehlshaber der russischen Truppen) soll sich streng an mein System halten, die Wohnsiedlungen der Tschetschenen zu zerstören, ihre Nahungsmittel zu vernichten, und sie durch fortgesetzte Überfälle beunruhigen.´

Nachdem Russland 1864 das Land unter seine Verwaltung gebracht hatte, war die militärische Lage ähnlich wie um 1994: Die Stützpunkte entlang der Heerstraße waren unter Kontrolle, doch in den Bergen leistete ein Teil der Bevölkerung weiterhin Widerstand. Während des türkisch-russischen Krieges 1877/1878 erhoben sich die Kaukasier erneut gegen Russland. Ihr Aufstand wurde niedergeschlagen. Die russische Besatzung löste bis Ende des 19. Jahrhunderts eine Emigrationswelle aus. In den eroberten Städten und Dörfern wurden Kosaken und Armenier angesiedelt.

Niemand entsprach dem Charakterideal des gefügigen, autoritätshörigen Sowjetmenschen und Bürokraten weniger als die Tschetschenen. Folgerichtig widersetzten sie sich auch bis in die dreißiger Jahre hinein der Kollektivierung der Landwirtschaft. 1921 war Tschetschenien Teil der Autonomen Sowjetischen Sozialistischen Gebirgsrepublik (GASSR) und im Jahr darauf autonomes Gebiet geworden. Mitte der dreißiger Jahre wurde es zur Tschetscheno-Inguschischen ASSR zusammengelegt.

Im Februar 1944 ließ Stalins Geheimdienstchef Berija mehr als 400 000 Tschetschenen und 100 000 Inguschen in Viehwaggons nach Kasachstan und Mittelasien transportieren - ihnen wurde vorgeworfen, mit dem deutschen Militär kollaboriert zu haben. Ein Viertel der Deportierten starb. Die sowjetische Republik Tschetschenien-Inguschetien wurde aufgelöst und den angrenzenden Republiken zugeschlagen. Erst Nikita Chruschtschow erlaubte 1957 die Rückkehr.

In den über siebzig Jahren der Sowjetunion lernten die Tschetschenen Russisch, wuchsen in der sowjetisch geprägten Zivilisation auf. Doch kamen nur wenige von ihnen in wirklich hohe Führungspositionen von Partei und Armee. Dazu gehört Aslan Alijewitsch Maschadow, zuletzt Befehlshaber der Artillerie- und Raketentruppen in Vilnius [Litauen]. Trotz dieser langen Assimilierungsphase brachen die alten Konflikte nach dem Zerfall der UdSSR [Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken] mit Wucht wieder aus. Auch hochrangige, sowjetisch sozialisierte Offiziere wie Dudajew und Maschadow wandten sich erstaunlich rasch gegen Russland und engagierten sich im Freiheitskampf Tschetscheniens.

Am 27. Oktober 1991 wurde Dschochar Dudajew zum Präsidenten gewählt. Er leistete seinen Amtseid auf den Koran. Wenige Tage später proklamierte er einseitig die Souveränität der tschetscheno-inguschischen ASSR und ihren Austritt aus der UdSSR. Die Inguschen trennten sich von Tschetschenien. Moskau versuchte vergeblich, durch Unterstützung der Opposition gegen Dudajew die Lage zugunsten Russlands zu wenden. Bis 1994 kam es zu einem Massenexodus der nichttschetschenischen Bevölkerung (200 000 bis 300 000 Menschen). Am 11. Dezember 1994 gab Präsident Boris Jelzin nach Beschluss des Sicherheitsrates der Russischen Föderation den Befehl zur militärischen Intervention. Der erste Tschetschenien-Krieg hatte begonnen. Etwa 40 000 Soldaten marschierten in Tschetschenien ein und nahmen nach zweimonatigen Kämpfen die Hauptstadt Grosny. Bei der Zerstörung der Stadt durch Luftangriffe starben 25 000 Menschen.

Arkadi Babtschenko beschreibt [in seinem Buch "Die Farbe des Krieges"] anschaulich, wie schlecht ausgebildet und mangelhaft ausgerüstet die jungen russischen Rekruten in diesen ersten Krieg geschickt wurden. Die Armee verstrickte sich hoffnungslos in einem Guerillakrieg, der sie weitestgehend demoralisierte.

Fast noch bestürzender als Sterben und Verwundung im militärischen Kampf ist Babtschenkos Schilderung der Gewalt in der Armee selbst. Die unaufhörlichen Schläge und sadistischen Schikanen der `Großväter´ (bei Jünger und Remarque hießen sie noch "alte Männer") gegen die jungen Rekruten mögen dem westlichen Leser unglaublich erscheinen. Aber tatsächlich geht die Zahl der gemeldeten Misshandlungen Jahr für Jahr in die Zehntausende, und ohne das `Komitee der Soldatenmütter`* wären viele gar nicht erst  bekannt geworden. Die Dunkelziffer liegt weit höher. Aufsehen erregte zuletzt der Fall des Rekruten Andrej Sytschow, dem nach Misshandlungen in der Panzerschule Tscheljabinsk beide Beine und die Genitalien amputiert werden mussten.

Verteidigungsminister Iwanow nannte als Grund dafür, dass man nicht so leicht etwas gegen diese Schinderei in der russischen Armee unternehmen könnte, die Armee sei nun mal ein Spiegel der Gesellschaft. Damit ist viel über den Zustand der Letzteren gesagt. Wenn die Soldaten sich schon untereinander keinen Respekt zollen, werden sie den Gegner umso weniger menschlich behandeln. Und die Entmenschlichung in der Sprache bereitet hemmungslose Gewalttaten vor. Die russischen Soldaten nennen die Tschetschenen `Tschechen´ bzw. `Tschechos´ [Bei Makanin heißen sie  Tschitschen´]; `Schwarzärsche´ (´Ĉernožopy´) ist das gängige Schimpfwort für kaukasisch aussehende Menschen in Moskau. Die Tschetschenen selbst bezeichnen alle Russen als `gasski´ - Fremde, Ausgestoßene. [...]

Wenn die Tschetschenen so radikal fremd und feindselig sind, warum will Russland sie dann unbedingt im eigenen Staatsverbund halten? Einerseits erhebt die Föderation Anspruch auf Tschetschenien als `Heimaterde´ Wladimir Putin), andererseits werden die Tschetschenen als wilde Tiere, als Fremde an sich, dargestellt. Der Hass verstärkt sich dann natürlich auch in der Gegenrichtung. Tolstoi beschreibt die Situation nach einem russischen Angriff auf ein tschetschenisches Dorf, bei dem Bienenstöcke verbrannt, Brunnen vergiftet und Kinder ermordet worden sind: `Niemand sprach vom Hass gegen die Russen. Das Gefühl, das alle Tschetschenen, vom jüngsten bis zum ältesten, empfanden, war stärker als Hass. Es war kein Hass, sondern das Unvermögen, diese russischen Hunde überhaupt als Menschen anzusehen, ein solcher Abscheu und Ekel, ein so fassungsloses Erstaunen über die sinnlose Grausamkeit dieser Geschöpfe, das der Wunsch, sie wie Ratten, giftige Spinnen und Wölfe auszurotten, ebenso selbstverständlich erschien wie der Selbsterhaltungstrieb.´

Nachdem die russische Armee im April 1995 rund achtzig Prozent des tschetschenischen Gebiets unter ihre Kontrolle gebracht hatte, setzten Dudajews Anhänger den Guerillakrieg fort. Sie schreckten dabei auch vor Geiselnahmen und Terroranschlägen nicht zurück. Im Juni 1995 brachten Rebellen unter der Führung Schamil Bassajews ein Krankenhaus im südrussischen Budjonnowsk in ihre Gewalt und verschanzten sich mit 1 000 Geiseln. Russland ging auf die Forderung der Rebellen ein und sicherte freien Abzug und das sofortige Ende der Militäraktionen zu. Am 30. Juni 1995 wurde in Moskau ein Abkommen unterzeichnet, in dem der Verzicht auf  Kampfhandlungen, Entwaffnung der Tschetschenen sowie Abzug der russischen Soldaten aus Tschetschenien bis auf 6 000 Mann vereinbart wurde. Doch tschetschenische Freischärler brachen den Waffenstillstand und führten erneute Angriffe. Im August 1996 eroberten sie Grosny schließlich zurück. [...]

Am 31. August 1996 handelte der russische Sicherheitsberater und ehemalige General Alexander Lebed** in Chassawjurt ein Waffenstillstandsabkommen mit dem Chef der tschetschenischen Übergangsregierung, Aslan Maschadow, aus. Boris Jelzin verfügte den Rückzug aller Truppen. In dem fast zweijährigen ersten Krieg starben etwa 80 000 Menschen. Die russische Armee machte sich schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig, und auch auf tschetschenischer Seite nahm die Grausamkeit immer mehr zu.

Am 27. Januar 1997 gewann Maschadow die Präsidentenwahlen deutlich vor Selimchan Jandarbijew und Schamil Bassajew. Im Mai 1997 unterzeichneten er und Jelzin einen formellen Friedensvertrag. Der politische Status Tschetscheniens sollte bis zum 31. Dezember 2001 offen bleiben. Aber das de facto ´unabhängige´ Tschetschenien nutzte zwischen 1996 und 1999 die Chance zur Stabilisierung nicht. Das Land verkam zum kriminellen Eldorado - vom Krieg verwüstet, menschlich verroht. An dem korrupten System verdienten sowohl die tschetschenischen Clans als auch die russischen Militärs. [...]

Die Clan-Tradition verhinderte die Etablierung einer starken Zentralregierung. Statt sich um Präsident Maschadow zu scharen, gründeten die tschetschenischen Feldkommandeure in ihren Heimatgegenden kriminelle Fürstentümer. Das Geschäft mit Geiseln blühte. Gleichzeitig wuchs der Einfluss des Islamismus. Aus dem Ausland sickerten islamistische Kämpfer ein. Ausbildungslager für Terroristen, zum Teil von Saudi-arabischen Geldgebern finanziert, wurden gegründet. Im Januar 1999 gab Maschadow islamistischem Druck nach und verkündete, dass in Tschetschenien innerhalb von drei Jahren die Scharia, das islamische Recht, eingeführt werden solle.

In den nun folgenden Ereignissen bereitete sich der Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges mit der Mechanik eines Uhrwerks vor. Im August 1999 drangen islamische Freischärler unter Führung Bassajews in die Nachbarrepublik Dagestan ein und proklamierten dort einen unabhängigen Gottesstaat. Der kurz zuvor von Jelzin zum Ministerpräsidenten ernannte (Wladimir Putin kündigte ein hartes Vorgehen an. m September 1999 starben in Moskau und in Südrussland bei schweren Sprengstoffattentaten auf Wohnhäuser etwa 300 Menschen. Der Kreml beschuldigte die Tschetschenen. Die wahren Urheber sind bis heute nicht ermittelt. Es gibt schwerwiegende Indizien dafür, dass der russische Geheimdienst in die Attentate involviert war. Auch innenpolitisch mochten dem Kreml das dadurch hervorgerufene Bedrohungsszenario  und ein weiterer `kleiner, siegreicher Krieg´ nützlich erscheinen. Im September 1999 flog Russland Luftangriffe auf Guerillastellungen. Die tschetschenischen Grenzen wurden abgeriegelt. Am 2. Oktober 1999 startete die russische Armee eine neue Bodenoffensive. Der zweite Tschetschenien-Krieg hatte begonnen. Er war militärisch besser vorbereitet, übertraf aber den ersten auch an erbittertem Hass bei weitem.

Maschadow und Lebed beziehungsweise Jelzin hatten noch miteinander verhandelt. Wladimir Putin akzeptierte den demokratisch gewählten Maschadow nicht mehr als tschetschenischen Präsidenten, und der rief als Oberkommandierender der Streitkräfte den `Heiligen Krieg´ aus. In der russischen Generalität empfanden viele die Niederlage im ersten Krieg, besonders die Rückeroberung Grosnys durch die Tschetschenen, als Schmach. [...] Ende 1999 nahmen russische Truppen Gudermes, die zweitgrößte Stadt Tschetscheniens, ein und schlossen den Belagerungsring um Grosny. Bis Jahresende wurden die größeren Städte Tschetscheniens erobert. Am 1. Januar 2000  - seinem ersten Amtstag als Nachfolger von Boris Jelzin  - besuchte Wladimir Putin Truppenteile in Tschetschenien, am 1. Februar 2000 wurde die Hauptstadt Grosny genommen. Am 6. Februar 2000 verkündete Putin den Sieg seiner Truppen im Krieg gegen Tschetschenien. Im Juni 2000 stellt er Tschetschenien als `Teilrepublik´ unter direkte Verwaltung Moskaus und setzte den muslimischen Geistlichen (Mufti) Achmed Kadyrow als Premier ein. Ende Januar 2001 übertrug Putin die Bekämpfung des Guerillakrieges dem Inlandsgeheimdienst FSB.

Tschetschenische Rebellen verübten weiter Terroranschläge. Russische Menschenrechtsorganisationen und die OSZE stellten nach wie vor Menschenrechtsverletzungen sowohl von russischer als auch von tschetschenischer Seite fest. Besonders Schamil Bassajew tat sich durch rücksichtsloses Vorgehen gegen Geiseln und Zivilisten hervor.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erklärte der Kreml den Krieg zum Teil des Kampfes "gegen den internationalen Terrorismus". Inzwischen ist es Russland gelungen, den Konflikt zu `tschetschenisieren´. Die Regierung von Ministerpräsident Ramsan Kadyrow, dem Sohn von Achmed, verzeichnete Erfolge beim Wiederaufbau der Infrastruktur. Mit seiner brutalen Garde von ehemaligen Widerstandskämpfern zwang er viele Rebellen zur Aufgabe, andere nutzten das Amnestie-Angebot.

Aber je länger sich der Krieg hinzog, desto nervöser reagierte Moskau auf jede Kritik an seinem Vorgehen in Tschetschenien. Die Bewegungsfreiheit ausländischer Berichterstatter wurde schon Ende 2002 eingeschränkt. Am 2. Januar 2003 mussten Internationale Beobachter Tschetschenien verlassen. Das Mandat der einzigen internationalen Beobachtergruppe, der OSZE, wurde nicht verlängert.

Der unbewältigte Konflikt in Tschetschenien dient als Vorwand für den Abbau demokratischer Rechte im Inneren Russlands. Das reicht von der Entmachtung der föderalen Subjekte (Regionen) über die zunehmende Gleichschaltung der Fernsehsender und Zeitungen bis zur staatlichen Gängelung der NGOs. Politische Gegner werden unter dem Vorwand des Steuerstrafrechts mundtot gemacht - Michail Chodorkowskij sitzt im Straflager in Sibirien, weil er die liberale Opposition unterstützt hat; andere Oligarchen, die sich ebenso bereichert haben wie er, sind auf  freiem Fuß. Die zarten Pflänzchen einer Zivilgesellschaft drohen einzugehen.

Dabei wäre heute nichts nötiger als eine starke Zivilgesellschaft, eine offene Diskussion. Russlands wahre Größe beruht nicht auf polizeistaatlicher Härte und nicht auf imperialen Ansprüchen, sondern auf der Fähigkeit, auch schmerzliche Wahrheiten auszusprechen, jenem unbestechlichen Blick, wie Lew Tolstoi ihn hatte. Als `Hadschi Murat´ 1912 posthum erschien, waren die oben zitierten Passagen von der Zensur gestrichen. Heute ist die russische Presse von einer totalen Zensur zwar noch weit entfernt, aber der Druck nimmt zu. Kritische Journalisten riskieren ihr Leben. Eine solche Vertreterin russischer Größe war Anna Politkowskaja. Sie hat die russischen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien angeprangert, war aber auch nicht blind für die Verbrechen tschetschenischer Kommandeure und Krimineller. Vor ihrer Ermordung am 7. Oktober 2006 recherchierte sie über Folterungen unter dem Kommando des moskautreuen Kadyrow. [...]"

Dieses Nachwort des Übersetzers Olaf Kühn habe ich - gekürzt - aus dem Buch "Die Farbe des Krieges" von Arkadi Babtschenko übernommen; denn ich kenne kein anderes Material, das so komprimiert und faktenreich das Verhältnis von Russen und Tschetschenen darstellt.

In Makanins Roman "Benzinkönig" gibt es keine Regeln, jegliche Ordnung hat sich aufgelöst. An einer Stelle des Buches heißt es, in diesem Krieg gäbe es nicht einmal Gesetzmäßigkeiten außer dem Gesetz aller Gesetze: Schuldest du Geld? Dann gib´s zurück." Und über allem, einfach allem steht das Business, das Geschäft. Es steht über Gesetze, Religion, ethnische Zugehörigkeit, über Freundschaft und Feindschaft.

Wladimir Makanin zeigt den Major als letzte Bastion in einem chaotischen Krieg ohne Frontverlauf. Makanin berichtet auch über Kampfhandlungen und die Gräuel des Krieges: "Die Kugeln eines modernen großkalibrigen Maschinengewehrs verwunden einen Menschen nicht, sondern zerreißen ihn. In Stücke. " - "Dem unglücklichen Bruder spritzte als Erstem das Hirn heraus. Sein Kopf barst krachend. Er hatte nicht einmal mehr begriffen, woher geschossen wurde." - "Der tote Russe war wie ein Sieb. Durch ihn hindurch sah man die Erde. Die Grasbüschel." - "Ein Panzerabwehblitz. Der Feuerball drang ins Innere des Wagens und verbrannte im Nu Abusalim, seinen Leibwächter und seinen Sohn - einen kleinen Jungen, den Abusalim zur Anmeldung in die Schule fahren wollte (übrigens in die russische Schule von Grosny)." Aber das Kriegsgrauen steht nicht im Mittelpunkt. Im Mittelpunkt steht ein (keineswegs unsympathischer) Mann, der abgebrüht und überzeugt an seinen Geschäftspraktiken festhält. Als er einmal wirklich selbstlos und aus Mitleid handelt ("Jeder weiß, dass Mitleid ein verletzliches Gefühl ist. Eine kleine Gefühlsregung. Doch ab und zu meldet es sich. Mal hier, mal dort. Sei´s drum! meiner Meinung nach [...] ist dieses kleine Mitleid das einzig Große, was hier, in diesem Krieg, geblieben ist.") - nimmt die Katastrophe ihren unvermeidlichen Lauf...

Ich wüsste gern, wie sich Wladimir Makanin seine vielen beeindruckenden Detailkenntnisse über das Geschehen im russisch-tschetschenischen Konflikt - vor und hinter der Front - erarbeitet hat... Basanow zum Beispiel, den "großen schwammigen General", der auf den Stabskorridoren General Nix genannt wird, scheint Makanin eigens zu dem Zweck "erfunden" zu haben, um dem Leser viele unbekannte Details über die Tschetschenen zu vermitteln. Basanow nämlich ist im Stab zuständig "für den Kontakt mit der örtlichen Bevölkerung. [...] Für die Stärkung der Freundschaft unter den zahlreichen Kaukasusvölkern." Und so liest "der betagte Kämpe" was das Zeug hält "in alten und neuen Büchern" und vertieft sich in die Geschichte der Bergbewohner. Was Basanow nicht alles zu erzählen weiß, davon zum Beispiel, dass die Tschetschenen früher, im 15. Jahrhundert, Christen waren, dass der Islam - nanu? - die Blutrache verbietet, dass es bei den Tschetschenen eine Vogelgottheit gibt und... und... und...

Dadurch, dass Makanin oft ganz kurze - oft viele unvollständige - Sätze hintereinander bildet, liest man Benzinkönig über viele Seiten in geradezu atemberaubendem Tempo. Und indem der Ich-Erzähler Major Schilin oft ganz unvermittelt von sich in der dritten Person wechselt, wirken viele Szenen grotesk-ironisch - ein Stil, der mir auch schon in Makanins "Underground" aufgefallen ist.

Ich denke, Wladimir Makanin wollte eine Art Gesamtbild des Tschetschenienkonflikts schaffen. "Es ist" - schreibt www.sandammeer.at - "ein großes, wildes und hartes Buch geworden." Ein stilistisch wunderbares Buch, möchte ich hinzufügen - ohne jegliche Effekthascherei. "Was Makanins Schreibweise anbelangt", schrieb ich in meiner Rezension zur  Erzählung "Der kaukasische Gefangene", so erinnere ich mich sogleich an seine vielen Klammerbemerkungen (die von Buch zu Buch mehr werden). Auch in seinem neuen Roman wimmelt es von Klammern: Sie ergänzen entweder ein Wort oder nennen ein Synonym oder nennen eine neue jeweils gleich geartete Tatsache..

Wladimir Semjonowitsch Makanin, geboren am 13. März 1937 in Orsk im Uralgebirge, ist der Sohn eines Bauingenieurs und einer Mittelschullehrerin für russische Sprache und Literatur. Nach der Schule studierte er von 1954 bis 1960 Mathematik an der Moskauer Staatsuniversität und arbeitete als Mathematiklehrer an einer Hochschule. Fünf Jahre später wandte er sich von den toten Zahlen ab und dem lebendigen Film zu, indem er von 1965 bis 1967 am Moskauer Allunions-Institut für Kinematographie Drehbuch und Regie studierte. Als Diplomarbeit reichte er seine bereits 1965 geschriebene Erzählung "Die gerade Linie" ein, die dann auch als seine erste schriftstellerische Arbeit (übrigens noch klammerfrei!) in der Literaturzeitschrift "Moskwa" erschien und 1968 verfilmt wurde. Ich las seine schon von großer Begabung des Autors zeugende erste Geschichte 1967, als sie deutschsprachig in der Zeitschrift "Sowjetliteratur" Nr. 2/67 gedruckt wurde. Nach dem zweiten Studium und einem Autounfall, der ihn zwei Jahre lang ans Bett fesselte, arbeitete er als Lektor im Verlag "Sowjetski pissatel" (Der Sowjetschriftsteller). 1969 ließ sich Makanin als freier Schriftsteller in Moskau nieder. Er wurde mit Romanen, Erzählungen und Gedichten bekannt, in denen er sich kritisch-analysierend, aber auch ironisch-witzig mit dem Leben in der Metropole Moskau auseinandersetzte. Er gehört zur so genannten Moskauer Schule, die sich durch oft groteske Darstellung des alltäglichen Lebens von der offiziellen Kunstdoktrin des Sozialistischen Realismus abgrenzte. Wladimir Makanin gilt heute als Klassiker unter den russischen Schriftstellern. Er erhielt 1993 den Booker-Preis, 1998 den Puschkin-Preis für sein Gesamtwerk, 1999 den russischen Staatspreis, 2001 den italienischen Penne-Preis. Bei Luchterhand erschien 2003 sein monumentaler Roman "Underground oder Ein Held unserer Zeit", 2005 die Erzählung "Der kaukasische Gefangene", 2008 der Roman "Der Schreck des Satyr beim Anblick der Nymphe". Von Makanin - Autor von mehr als dreißig Prosawerken,  nicht nur ins Deutsche, sondern u. a. auch ins Englische, Französische, Italienische, Japanische, Polnische, Schwedische und Spanische übersetzt - kenne ich "Der Mann mit den zwei Gesichtern" (Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1986), "Die Verfolgungsjagd" (Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1987) und "Der Ausreißer" (Verlag Volk und Welt, Berlin 1988). Im Internet finde ich noch "Zwei Einsamkeiten" (1995), "Der Weg" (1993), "Der Nachzügler" (1992), "Moskau" (1985/1991); "Menschenbilder" (1991), "Schönes Mädchen mit den grauen Augen (1989). Ich halte für möglich, dass sich hinter den West-Veröffentlichungen  ab 1989 Titel verbergen, die in der DDR bereits unter anderem Titel übersetzt und herausgegeben wurden.

Annelore Nitschke, die das Buch hervorragend übersetzt hat, lebt in Feldafing bei München. Sie übersetzte außerdem so anspruchvolle russische Autoren wie Boris Chasanow, Warlam Schalamow, Alexej Remisow, Nina Berberova, Valeria Narbikova, Alan Tschertschessow, Alexander Ikonnikow...
 

  Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

* "Komitee der Soldatenmütter" - einflussreiche zivilgesellschaftliche Organisation, die sich um das Schicksal von Rekruten kümmert und Menschen- Rechtsverletzungen in Tschetschenien anprangert. Der berühmte Mitleids-Marsch der Mütter von Moskau in die tschetschenische Hauptstadt Grosny wurde von russischem Militär gestoppt.

** Alexander Lebedew war der angesehenste General in der russischen Bevölkerung, er starb 2002 mit 52 Jahren bei einem Hubschrauberabsturz.

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  • Andrej Wolos, Der Animator.

Am 30.07.2011 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 23.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.
 

 Es gibt keine schlechte Mutter und keinen guten Tod.
Sprichwort der Russen

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