BELLETRISTIKREZENSIONEN | |
"Benzin ist das Blut des Krieges..." | |
Wladimir Makanin | Russe |
Benzinkönig | |
Aus dem Russischen von Annelore Nitschke Luchterhand Literaturverlag, München 2011, 479 S. "Wann habe ich jemals unredlich gehandelt?", fragt auf Seite 375 der Hauptheld des Romans Benzinkönig, Major Schilin, die alten Tschetschenen, die ihn bitten, den toten Berg-Achmet, alias Achmet Udygow, ("[...] der kein Gesicht mehr hatte. Es war vom Feuerstoß weggefegt worden. Zermatscht.") aus dem Leichenhaus freizukaufen; denn die Greise wollen ihren gefallenen Verwandten - ihrer tschetschenischen Tradition gemäß - schnell der Erde übergeben. Und Major Schilin meint, was er sagt. Immer. Jedenfalls im Krieg. Und die alten Männer, die um die Redlichkeit des "Benzinkönigs" entweder vom Hörensagen wissen oder sie schon am eigenen Leibe erfahren haben, nicken Zustimmung. Und so bezahlt der russische Versorgungsoffizier Schilin die Beamten des russisch geleiteten Kühlhauses mit der vereinbarten Menge Heiz- und Dieselöl, und die tschetschenischen alten Bittsteller bekommen im Gegenzug ihren tschetschenischen Leichnam. Auf Saaschik, wie Alexander Schilin bei den Tschetschenen heißt, ist eben Verlass - egal, ob es sich darum handelt, tschetschenischen (im Prinzip) prorussischen Bauern Treibstoff zu verkaufen, damit ihre Erntemaschinen laufen oder den berüchtigten tschetschenischen Feldkommandeuren mit Benzin unter die bewaffneten Arme zu greifen oder um russische "grüne Jungs" vor dem Erschießen zu bewahren oder russischen Soldatenmüttern* zu helfen, ihre in tschetschenische Gefangenschaft geratenen Söhne ([...] "die zum Teil keine Ohren mehr hatten oder vergewaltigt worden waren") freizukaufen oder an die russische Hubschrauberstaffel eine Benzin-Sonderzuteilung auszugeben, damit sie tschetschenische Kämpfer bombardieren, die eine russische Panzer- und Fahrzeugkolonne eingekesselt haben oder... oder ...oder... "Gäbe es Major Schilin nicht, dann stünden irgendwo Berge von Benzin- und Masutfässern und irgendwo anders gar keine. Wie bei den Kommunisten. Stagnation." Wer will es da unredlich finden, dass der Versorgungsoffizier Schilin - um die Vierzig, verheiratet, eine fast erwachsene Tochter, im Zivilleben Bauingenieur - jedes zehnte Fass Benzin oder Diesel für sich selbst abzweigt - als Gegenleistung sozusagen für seine oft lebensgefährlichen Bemühungen? Irgendwoher müssen die Rubelchen / Dollarchen ja kommen für das im Bau befindliche Haus "mittlerer Erschwinglichkeit", an einem russischen Fluss, für das die Frau daheim als Bauherrin durchaus ihren Mann steht - wie ihr Gatte aus den nächtlichen Telefonaten mit ihr weiß. Übrigens hat die famose Idee des Datschen-Häuserbaus dem Major Schilin Dschochar Dudajew eingegeben, der erste tschetschenische Präsident, der dann im Oktober 1991 durch einen gezielten russischen Raketenschlag getötet worden war. "Eine Datscha", hatte er gesagt, ist sehr gut für einen Major a. D." Das war, nachdem Dudajew ("Intelligente Tschetschenen nannten Dudajew schon ganz zu Anfang Duda, das klang seriös und bedeutungsvoll. Nicht Dudka, Pfeife, sondern DUDA. Trompete. Horn!") mit Major Schilin über Freundschaft palavert hatte: "Freunde verraten einen, Major. Die besten! Gerade die Freunde verraten einen... [...] Warum? Weil alle anderen uns ausliefern. Bekannte liefern aus. Kameraden liefern aus. Mitarbeiter liefern aus. [...] Im Kaukasus gibt es ein Gleichnis der Bergbewohner: "Ein Wolf zog ein verletztes Wolfjunges auf, in der Annahme, es würde sein Hund werden. Das Wölflein wurde natürlich ein Wolf und lief in den Wald davon. Als der Mann ihn eines Tage im Wald traf, sagte er vorwurfsvoll: `Du Verräter´, worauf der erwachsene Wolf erwiderte: "Belaste mich nicht mit einem fremden Namen. Ich bin einfach ein Wolf. Ich war nicht dein Freund. - ´Ich war nicht dein Freund´, fuhr der Wolf fort. `Aber dein falbes Pferd, das dein Freund war, und das du so geliebt hast. Das du besser gefüttert und getränkt hast als dich selbst. Das du aus Mitleid nicht kastriert hast. Das dich jeden Morgen mit seinem Wiehern geweckt hat. Und das dich gestern vergessen und sich einer jungen Stute angehängt hat, das auf dem Pfad in die Berge weggegangen ist... wo unsere Wälder sind... und wo ich ihm gestern die Gurgel durchgebissen habe, das ist ein Verräter." Oft genug investiert Major Alexander Sergejitsch Schilin auch noch seinen eigentlich für sich abgezweigten Treibstoff als Verhandlungsbasis - mit dem und jenem, mit Freund und Feind. Nehmen wir als Beispiel gleich die ersten beiden Kapitel des Romans: In Tschetschenien ist aus Russland Nachschub eingetroffen - grün hinter den Ohren, Kriegs unerfahren, stockbesoffen. Auf der Zugfahrt zu Major Schilins Vorratslager geraten die blutjungen Soldaten ("Die Visagen glühen rot. An den Backen, ha-ha, könnte man sich die Zigarette anzünden.") in einen tschetschenischen Hinterhalt. Der tschetschenische Feldkommandant verlangt von Schilin fünftausend Dollar, ja Dollar, die "ihm schon in den Eingeweiden brannten. Das stärkste Sodbrennen unserer Tage." ("Das Lösegeld für einen Soldaten [...] war in jenen Tagen nicht hoch - einhundertfünfzig bis zweihundert Dollar. [...] Ich hatte die Überschlagsrechnung des Kommandeurs durchaus erfasst. Einhundertfünfzig Greenbacks mal dreißig oder vierzig - Besoffene und Verschlafene - sind etwa diese Summe.) Die Verhandlungen ziehen sich lange hin, das Blutbad scheint unausweichlich. Da bemerkt Schilin so nebenbei, dass er in einiger Entfernung einige alte Tschetschenen auf der Straße gesehen habe, denen der Sprit ausgegangen sei. Wenn also der Feldkommandeur diese besoffenen, grünschnäbeligen Einfaltspinsel erschießen lasse, werde er, Schilin, einen Kampfhubschrauber anfordern, um "aus den Greisen Qualm zu machen". So als wäre das alles nicht schon gefährlich genug, beginnen die besoffenen, übermütigen russischen Soldaten die Tschetschenen zu provozieren, indem sie den "Tschitschen" ihre nackten Hintern präsentieren und sich über ihre Heldentat auch noch krumm lachen. Eine furiose Szene! Man kann sich gut vorstellen, das es Major Schilin eine schöne Stange Benzin kostet, die "Auffüllsoldaten" vor dem Abschlachten zu bewahren... Wer will da noch behaupten, der Benzinkönig und Ich-Erzähler Major Schilin sei korrupt? Oder charakterlos? Oder gar unmoralisch? Zumal Major Schilin zwar sein Treibstoff-Business mit Freund und Feind betreibt, aber niemals auch nur eine einzige Knarre verhökern würde... Die Benzinhändler sind ein Trio, ein "gut aufeinander eingespieltes": der Tschetschene Ruslan, der Stabsmajor Kolja Gussarzew und eben Major Schilin. "Die Armee ist derzeit nur halb zu führen. [...] Es gibt keine Disziplin. Und wenn es keine Disziplin gibt, dann soll wenigstens der Markt die Versorgung mit Treibstoff lenken. Sonst herrscht Chaos." Nach außen sind die drei Geschäftspartner einfach Freunde - die sich nie wegen der Aufteilung des Geldes streiten. Major Schilin "zahlt großzügig, manchmal einfach zu gleichen Teilen." Redlich eben! Dem kaukasischen Thema, "Russlands offener Wunde", entgeht kaum ein russischer Schriftsteller von Rang: Gribojedow, Puschkin, Lermontow, Tolstoj. Von Makanin erschien 2005 schon "Der kaukasische Gefangene", eine zutiefst anrührende Erzählung über den Tschetschenien-Krieg. Nun liegt der umfangreiche Roman Benzinkönig über den ersten und zweiten Tschetschenienkrieg vor. Da die historischen Hintergründe nicht jedem Leser geläufig sein werden, seien sie hier noch einmal in Erinnerung gerufen: Der Krieg in Tschetschenien ist ein dunkles und blutiges Kapitel der russischen Geschichte, aber beileibe kein neues. [...] Die grausamen Kämpfe im nördlichen Kaukasus [...] reichen mit ihren Ursachen weit in die Geschichte des russischen Imperiums zurück. Jahrhundertelang haben sich die Tschetschenen allen Unterwerfungsversuchen widersetzt. Seit dem 18. Jahrhundert expandierte das zaristische Russland nach Süden. Die Tschetschenen lebten damals noch vorwiegend im gebirgigen Süden und machten sich durch Überfälle und Plünderungszüge in den Gouvernements Stawropol und Krasnodar bemerkbar. Grausame russische Strafexpeditionen waren die Folge, die oft in lange Kriege ausarteten. Lew Tolstoi beschreibt in seinem Roman `Hadschi Murat´ diesen Widerstandskampf und lässt Zar Nikolaus I. folgende Weisung erteilen: `Er (der Befehlshaber der russischen Truppen) soll sich streng an mein System halten, die Wohnsiedlungen der Tschetschenen zu zerstören, ihre Nahungsmittel zu vernichten, und sie durch fortgesetzte Überfälle beunruhigen.´ Nachdem Russland 1864 das Land unter seine Verwaltung gebracht hatte, war die militärische Lage ähnlich wie um 1994: Die Stützpunkte entlang der Heerstraße waren unter Kontrolle, doch in den Bergen leistete ein Teil der Bevölkerung weiterhin Widerstand. Während des türkisch-russischen Krieges 1877/1878 erhoben sich die Kaukasier erneut gegen Russland. Ihr Aufstand wurde niedergeschlagen. Die russische Besatzung löste bis Ende des 19. Jahrhunderts eine Emigrationswelle aus. In den eroberten Städten und Dörfern wurden Kosaken und Armenier angesiedelt. Niemand entsprach dem Charakterideal des gefügigen, autoritätshörigen Sowjetmenschen und Bürokraten weniger als die Tschetschenen. Folgerichtig widersetzten sie sich auch bis in die dreißiger Jahre hinein der Kollektivierung der Landwirtschaft. 1921 war Tschetschenien Teil der Autonomen Sowjetischen Sozialistischen Gebirgsrepublik (GASSR) und im Jahr darauf autonomes Gebiet geworden. Mitte der dreißiger Jahre wurde es zur Tschetscheno-Inguschischen ASSR zusammengelegt. Im Februar 1944 ließ Stalins Geheimdienstchef Berija mehr als 400 000 Tschetschenen und 100 000 Inguschen in Viehwaggons nach Kasachstan und Mittelasien transportieren - ihnen wurde vorgeworfen, mit dem deutschen Militär kollaboriert zu haben. Ein Viertel der Deportierten starb. Die sowjetische Republik Tschetschenien-Inguschetien wurde aufgelöst und den angrenzenden Republiken zugeschlagen. Erst Nikita Chruschtschow erlaubte 1957 die Rückkehr.
In den über siebzig Jahren der
Sowjetunion lernten die Tschetschenen Russisch, wuchsen in der
sowjetisch geprägten Zivilisation auf. Doch kamen nur wenige von ihnen
in wirklich hohe Führungspositionen von Partei und Armee. Dazu gehört
Aslan Alijewitsch Maschadow, zuletzt Befehlshaber der Artillerie- und Raketentruppen in
Vilnius [Litauen]. Trotz dieser langen Assimilierungsphase
brachen die alten Konflikte nach dem
Zerfall der UdSSR [Union der
Sozialistischen Sowjetrepubliken] mit Wucht wieder aus. Auch
hochrangige, sowjetisch sozialisierte Offiziere wie Dudajew und Maschadow wandten sich erstaunlich rasch gegen Russland und engagierten
sich im Freiheitskampf Tschetscheniens.
Der unbewältigte Konflikt in
Tschetschenien dient als Vorwand für den Abbau demokratischer Rechte im
Inneren Russlands. Das reicht von der Entmachtung der föderalen Subjekte
(Regionen) über die zunehmende Gleichschaltung der Fernsehsender und
Zeitungen bis zur staatlichen Gängelung der NGOs. Politische Gegner
werden unter dem Vorwand des Steuerstrafrechts mundtot gemacht -
Michail Chodorkowskij sitzt im Straflager in
Sibirien, weil er die liberale
Opposition unterstützt hat; andere
Oligarchen, die sich ebenso
bereichert haben wie er, sind auf freiem Fuß. Die zarten Pflänzchen
einer Zivilgesellschaft drohen einzugehen.
Wladimir Semjonowitsch Makanin, geboren am
13. März 1937 in Orsk im Uralgebirge, ist der Sohn eines Bauingenieurs
und einer Mittelschullehrerin für russische Sprache und Literatur. Nach
der Schule studierte er von 1954 bis 1960 Mathematik an der Moskauer
Staatsuniversität und arbeitete als Mathematiklehrer an einer
Hochschule. Fünf Jahre später wandte er sich von den toten Zahlen ab und
dem lebendigen Film zu, indem er von 1965 bis 1967 am Moskauer
Allunions-Institut für Kinematographie Drehbuch und Regie studierte. Als
Diplomarbeit reichte er seine bereits 1965 geschriebene Erzählung "Die
gerade Linie" ein, die dann auch als seine erste schriftstellerische
Arbeit (übrigens noch klammerfrei!) in der Literaturzeitschrift "Moskwa"
erschien und 1968 verfilmt wurde. Ich las seine schon von großer
Begabung des Autors zeugende erste Geschichte 1967, als sie
deutschsprachig in der Zeitschrift "Sowjetliteratur" Nr. 2/67
gedruckt wurde.
Nach dem zweiten Studium und einem Autounfall, der ihn zwei Jahre lang
ans Bett fesselte, arbeitete er als Lektor im Verlag "Sowjetski pissatel"
(Der Sowjetschriftsteller). 1969 ließ sich Makanin als freier Schriftsteller
in Moskau nieder. Er wurde mit Romanen, Erzählungen und Gedichten
bekannt, in denen er sich kritisch-analysierend, aber auch
ironisch-witzig mit dem Leben in der
Metropole Moskau auseinandersetzte.
Er gehört zur so genannten Moskauer Schule, die sich durch oft groteske
Darstellung des alltäglichen Lebens von der offiziellen
Kunstdoktrin des Sozialistischen Realismus abgrenzte. Wladimir Makanin
gilt heute als Klassiker unter den russischen Schriftstellern. Er
erhielt 1993 den Booker-Preis, 1998 den Puschkin-Preis für sein
Gesamtwerk, 1999 den russischen Staatspreis, 2001 den italienischen
Penne-Preis. Bei Luchterhand erschien 2003 sein monumentaler Roman
"Underground oder Ein Held unserer Zeit", 2005 die Erzählung "Der
kaukasische Gefangene", 2008 der Roman "Der Schreck des Satyr beim
Anblick der Nymphe". Von Makanin - Autor von mehr als dreißig Prosawerken, nicht nur
ins Deutsche, sondern u. a. auch ins Englische, Französische,
Italienische, Japanische, Polnische, Schwedische und Spanische übersetzt - kenne ich
"Der
Mann mit den zwei Gesichtern" (Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1986),
"Die Verfolgungsjagd" (Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1987) und "Der
Ausreißer" (Verlag Volk und Welt,
Berlin 1988). Im Internet finde ich noch "Zwei Einsamkeiten" (1995),
"Der Weg" (1993), "Der Nachzügler" (1992), "Moskau" (1985/1991);
"Menschenbilder" (1991), "Schönes Mädchen mit den grauen Augen (1989).
Ich halte für möglich, dass sich hinter den West-Veröffentlichungen
ab 1989 Titel verbergen, die in der DDR bereits unter anderem Titel
übersetzt und herausgegeben wurden.
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Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.de * "Komitee der Soldatenmütter" - einflussreiche zivilgesellschaftliche Organisation, die sich um das Schicksal von Rekruten kümmert und Menschen- Rechtsverletzungen in Tschetschenien anprangert. Der berühmte Mitleids-Marsch der Mütter von Moskau in die tschetschenische Hauptstadt Grosny wurde von russischem Militär gestoppt. ** Alexander Lebedew war der angesehenste General in der russischen Bevölkerung, er starb 2002 mit 52 Jahren bei einem Hubschrauberabsturz. | |
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Am 30.07.2011 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 23.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.
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Es gibt keine schlechte Mutter und keinen guten Tod. | |
Sprichwort der Russen |
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