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Ein Mexikaner und die russische Literatur | |
Sergio Pitol | Über Moskau, Leningrad und Georgien |
Die Reise | |
Ein Besuch Rußlands und seiner Literatur Aus dem Spanischen von Christian Hansen Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2003, 154 S. | |
Sergio Pitol ist Mexikaner. Als
Diplomat (Kulturattaché) und Schriftsteller weilte er einige Male in der
UdSSR (im Buch neunmal falsch UDSSR = Union der
Sozialistischen Sowjetrepubliken).
Das vorliegende Buch (ein Essay?) schildert Pitols Besuch von 1986, besonders interessant wegen der herrschenden Aufbruchstimmung durch Perestroika und Glasnost. Eigentlich war Pitol vom Georgischen Schriftstellerverband nach Georgien eingeladen. Da man um jene Zeit immer erst in Moskau vorstellig werden musste, landete er zuerst statt bei den Georgiern bei den Russen, sieht Moskau und Leningrad. In seinem Gepäck hat er wichtige Bücher russischer Autoren: Dostojewski, Tolstoj, Puschkin, Pasternak, Bulgakow, Nabokov, Gogol, Tschechow. (Ich hielt es ähnlich, wenn ich als Journalistin der DDR-Illustrierten FREIE WELT in die UdSSR reiste, obwohl ich nicht unbedingt die russischen Klassiker mit mir führte. So habe ich z. B. doppelt erschüttert von Granin/Fischer das Leningrader Blockadebuch an Ort und Stelle gelesen.) Pitol trifft 1986 in Moskau und Petersburg die alte und die neue Garde: alte Betonköpfe und begeisterte Jugendliche, die mit einem Mal die russische Emigrantenliteratur (Nabokov, Bunin, Solschenizyn...) lesen und ausländische Filme ansehen können. Der Besuch beim Schriftstellerverband in Moskau allerdings wird ein Fiasko und Georgij Markow, dessen Bücher ich einst ganz gern gelesen hatte, kanzelt Pitol wegen seiner Perestroika-Begeisterung ziemlich ab. Sehr aufschlussreich und amüsant, wenn Sergio Pitol Erlebnisse aus seiner Zeit als Kulturattaché in Moskau (1968) einstreut. (Das erste Mal besuchte der Mexikaner Moskau 1962, während der Ära Chruschtschow - als auch Aufbruchstimmung herrschte...) Pitol versteht viel von russischer Literatur, Malerei, Musik und vom Theater. Interessant seine Begegnung mit dem damals achtzigjährigen Viktor Schklowskij in dessen Wohnung. Beeindruckend, wie er über die Ereignisse um den Tod Lew Tolstojs erzählt. Einiges Neue erfahre ich aus Pitols Kapiteln über Marina Zwetajewa. Er spricht hier von der Biographie ihrer Schwester Anastasija, die ich selbst gerade gelesen habe, und über Ilja Ehrenburg, der in seinen Memoiren ihre Bedeutung für die russische Dichtung betont. Von ihrer Begegnung mit Anna Achmatowa ist in vielen Varianten die Rede, außerdem von ihrem undurchsichtigen Ehemann Sergej Efron, der ein wichtiger Agent des sowjetischen Geheimdienstes gewesen sein soll, ihrer Tochter Ariadna, die viele Jahre im GULAG zubrachte und von dem Sohn Murr, der an der Front fiel. Von der Weiterreise nach Georgien wollte man Pitol unbedingt abhalten; denn "Die Georgier sind die schlimmsten, die unzuverlässigsten. Sie haben [nach dem Zerfall der Sowjetunion] eine Wende um hundertachtzig Grad vollzogen." Und so schickte man Pitol erst einmal nach Leningrad, wo er "ein wenig von Tschingis Aitmatow liest" und uns wissen lässt, dass es ihm zu einem dringenden Bedürfnis geworden [ist] noch einmal "Petersburg" von Andrej Belyj zu lesen, "den vielleicht bedeutendsten russischen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts. Thomas Mann las ihn in seiner Jugend, und diese Lektüre hat ihn für immer geprägt." Wir sind (von 154 Seiten) auf Seite 111, als Sergio Pitol endlich in Georgiens Hauptstadt Tbilissi gelandet ist: "Ins nächtliche Licht getaucht, wirkt Tbilissi wie eine in den Kaukasus verpflanzte andalusische Stadt. (...) Das Klima ist perfekt wie in Cuernavaca." Pitol ist das erste Mal in Georgien und sehr begeistert: Schon der "erste Tag in Georgien entsprach an Intensität einem Vierteljahr meines gewöhnlichen Lebens". Pitol trinkt viel Rotwein, genießt das georgische Essen, ist schockiert über die Toiletten, ist begeistert von den georgischen Menschen, macht Abstecher ins Land (mit Sujumi ist wohl Suchumi gemeint...), lässt sich über Schewardnadse und Pasternak aus ("Pasternak war ein großer Verehrer unserer [der georgischen] Dichter, er schrieb über sie und übersetzte die besten."), denkt im Zusammenhang mit dem Kaukasus über Tschechows "Schlucht" nach, über Tolstois "Hadschi Murat", über Puschkin, Gribojedow und natürlich über das georgische Nationalepos aus dem 12. Jahrhundert, über "Der Recke im Tigerfell", von Schota Rustaweli. Pitol besucht Museen, einige Kirchen und Kunstschätze des Landes, georgische Malerei des Mittelalters und der Renaissance. Interessant das alles, weil es sich bei Pitols Äußerungen und Einschätzungen um einen namhaften mexikanischen Autor handelt, ansonsten: Über Moskau, Leningrad (heute: St. Petersburg), Georgien : wenig Neues! Ich wundere mich, dass Sergio Pitols Die Reise einen Verlag gefunden hat. Beim Erscheinungsjahr des Buches 2003 ist die vorrangig beschriebene Reise siebzehn Jahre her. Und bei weitem nicht alle Leseerlebnisse des Autors fügen sich in 1986 Erlebtes ein. Die meisten Bücher hätte Pitol ebenso gut zu Hause in Mexiko lesen können. Dennoch: "Ein Besuch Rußlands und seiner Literatur" ist für denjenigen, der sich für russische Literatur interessiert, durchaus ein Gewinn. Über Russland selbst lässt sich in vielen anderen Reisebüchern mehr erfahren. Und überhaupt: Georgien ist nicht Russland, wie der Untertitel suggeriert, und war es auch 1986 nicht, sondern Georgien ist seit 1936 eine selbständige Republik gewesen innerhalb der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR). Schon bei Pitols Leningrad-Lektüre darf man sich wundern; denn Tschingis Aitmatow ist kein Russe, sondern ein Kyrgyse! Das hätte der sonst so akribische Verleger nicht durchgehen lassen dürfen. Im letzten Kapitel des Buches "Iwan Russenjunge" erklärt der
mexikanische Autor, wie seine innige Beziehung zu Russland zu erklären ist.
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Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 03.02.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 28.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Eheleute, die sich lieben, können sich sogar auf einer Axt ausruhen. | |
Sprichwort der Georgier |
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