Belletristik REZENSIONEN

Ein Buch, das viele Lücken schließt...

Steffi Chotiwari-Jünger (Hrsg.)
Die Literaturen der Völker Kaukasiens
Neue Übersetzungen und deutschsprachige Bibliographie
Kaukasienstudien - Caucasian Studies, Band 5
Hrsg. von Eva-Maria Auch, Raoul Motika, Jean Radvanyi und Jörg Stadelbauer
Reichert Verlag, Wiesbaden 2003, 256 S.
Literatur der Abasiner, Abchasen, Adygen, Agulen, Armenier, Aserbaidshaner, Awaren, Balkaren, Darginer,Georgier, Inguschen, Kabardiner, Karatschaier, Kumyken, Kurden, Lakier, Lesginer, Nogaier, Osseten, Rutulen, Tabasaraner, Taten, Tschetschenen, Ubychen, Uden, Zachuren, Zowatuschen (Bazben)

Am meisten an diesem außerordentlich arbeitsaufwendigen Buch beeindruckt die gelungene Mischung von Lesevergnügen und Wissenschaftlichkeit. Hier kommt sowohl der Literatur liebende Leser auf seine Kosten als auch der Kaukasusspezialist.

Steffi Chotiwari-Jünger stellt Literaturbeispiele von siebenundzwanzig Völkern kaukasischer Nationalität vor. Da ich zwölf Jahre lang, von 1978  bis 1990, in der Illustrierten FREIE WELT auf Hunderten von Seiten über die kleinen Völker der Sowjetunion berichtete, kenne ich alle von ihr genannten Völker, weiß die Namen - bis auf einen: Von Zowatuschen (Bazben) hatte ich bisher  weder in der einschlägigen Literatur etwas gelesen, noch sind mir Vertreter dieser Völker vor Ort begegnet... Und auch auf der Karte des Buches Die Literaturen der Völker Kaukasiens kann man (S. 249) nur mit der Lupe das winzige Pünktchen ausmachen, das doch wohl den angestammten zowatuschischen Wohnsitz anzeigen soll...

Steffi Chotiwari-Jünger stellt jede der Literaturen grundsätzlich mit neuen Übersetzungen vor, fast ausschließlich (bis auf ganz wenige Ausnahmen) aus der Originalsprache - wobei die Formulierung, dass die Übersetzung außer von unterschiedlichen Muttersprachlern auch meist von ihr, der Herausgeberin, stammt, doch wohl nicht ganz wörtlich gemeint ist. Gemeint ist sicherlich, dass Steffi Chotiwari-Jünger (von ihr wird in dieser Homepage schon das Sachbuch "Georgier in Berlin" vorgestellt) die Roh- bzw. Interlinearübersetzungen der Muttersprachler korrigierte bzw. nachdichtete. Allerdings hat Frau Dr. Chotiwari-Jünger, die russisch und georgisch beherrscht,  für die armenischen Übersetzungen extra ein Jahr lang armenisch gelernt und für einige andere kaukasische Sprachen Wörterbücher erworben, um die Übersetzungen der Muttersprachler einschätzen und beeinflussen zu können. Sowohl in ihrer Einleitung als auch in ihrem Vorwort berichtet Frau Chotiwari-Jünger von den enormen Schwierigkeiten, um die neuen Texte aufzutreiben: "In vielen Fällen mußten in Kaukasien Vertreter der verschiedenen Ethnien oder Wissenschaftler gefunden werden, die selbstlos Texte und Übersetzungen `ihrer´ Literatur zur Verfügung stellten oder mit mir zusammen erarbeiteten, und das in einer Zeit, da die Menschen unter schwierigen materiellen Bedingungen leben. (...) Man könnte an dieser Stelle wohl fast zu jeder Übersetzung eine interessante und unwiederholbare Geschichte erzählen, wie das Werk entstand (Suche, Bekanntschaft, Ort, Auswahl, Übersetzung, Nachdichtung, Umstände, Sprache...). In einem Fall ging es sogar so weit, daß ein Grenzpolizist einer kaukasischen Republik, auf meine verschiedenen kaukasischen Visa starrend (nach dem 11. September 2001), mich seinen Kollegen gegenüber als mögliche `Agentin 007´ betitelte und für alle Fälle erst einmal alle Bücher und Materialien konfiszieren wollte."

Einerseits sind die zusammengetragenen Literaturbeispiele mündlich weitergegebene Texte, dann ist der Erzähler genannt; da das Geschlecht der Verfasser und Übersetzer  im Georgischen an Vor- und Nachnamen selten ablesbar ist, hat Steffi Chotiwari-Jünger die zahlenmäßig geringen Autorinnen extra gekennzeichnet, das freut die Rezensentin. Andererseits liegen die Literaturen in der jeweiligen Muttersprache gedruckt vor. Doch für diese übersetzten Texte konnte ich, obwohl ich das Buch immer wieder danach absuchte, keine Quellenangaben finden. In ihrem Vorwort schreibt die Herausgeberin, dass ein Computerbrand viele ihrer Daten löschte. Vielleicht auch diese?

Die Texte im Buch sind Volksgedichte, Volkslieder, Märchen, Sagen, Parabeln, Rätsel, Sprichwörter, Legenden, Weisheiten, Balladen, Anekdoten; Gedichte und Erzählungen sowie ein Drama. Diese Kostproben sprechen zum Beispiel von der Schönheit der kaukasischen Landschaft, vom Verständnis und von der Toleranz gegenüber den Nachbarn, von der Achtung des Gastes und der Alten und der anrührenden Sorge um die Kinder oder aber von der grenzenlosen Liebe zu den Tieren... Diese literarische Sammlung solle, so Steffi Chotiwari-Jünger, vielen Menschen mit verschiedenem Geschmack, verschiedener Vorbildung und verschiedenen Vorlieben einen kleinen Einblick in die vielfältige Literatur Kaukasiens bieten. "Der älteste Autor längst vergangener Zeiten ist nicht mehr auszumachen, der jüngste Autor wurde im Jahr 1966 geboren, das älteste Werk entstand zu Urzeiten, das jüngste Werk wurde 1999 gedruckt."

Auch dieses Buch hat der Druckfehlerteufel nicht verschont. Am unangenehmsten der Fehler gleich im allerersten Text auf Seite 22, wo innerhalb der beiden ersten Zeilen statt des Bären mit einem Mal der Wolf krank daniederliegt... - Sprichwörter sind in Die Literaturen der Völker Kaukasiens leider rar, obwohl es durchaus zahlreiche Ausgaben mit Sprichwörtern gibt - allerdings liegen sie meist in russischer Sprache vor (Ich habe Hunderte davon gesammelt und aus dem Russischen übersetzt bzw. übersetzen lassen. Die Früchte dieser Ausbeute finden sich bei vielen Rezensionen dieser Homepage.) Abgesehen von den Sprichwörtern fällt überhaupt auf - dem Anliegen geschuldet, aus den jeweiligen Muttersprachen zu übersetzen -, dass die "kleinen Literaturen" Kaukasiens nun ganz aus dem Blickfeld gefallen sind; denn gerade sie waren auf Grund eines Mangels an spezialisierten Übersetzern meist über das Russische übertragen worden. "So werden weniger nationale Literaturen berücksichtigt, als in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg", führt Steffi Chotiwari-Jünger aus. "Hier gilt es für die wenigen spezialisierten Sprachwissenschaftler, sich neben der Sprache auch wieder der Literatur zuzuwenden." Aber es existieren bis heute in Europa keine  speziellen Kaukasien-Forschungsstätten, die sich mit immerhin fünfzig Sprachen und zwei Dutzend Literaturen beschäftigen müssten. "An der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität", weiß Steffi Chotiwari-Jünger, "gab es Anfänge eines solchen Forschungszentrums. In den Jahren 1935/1938 erforschten und vermittelten die Sprachwissenschaftler Abeghian, Meckelein, Tseretheli, Baiew, Schaeder, Bouda laut Vorlesungsverzeichnis z. B. die Sprachen Armenisch, Georgisch, Ossetisch, Tscherkessisch und Inguschisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Tradition abgebrochen." Leider - sei hinzugefügt...

Bei den Erzählungen fällt auf, dass die eine oder andere Formulierung holpert (z. B. auf S. 35 "die ersten Bartsprossen, die gerade am Wachsen waren"...), bei den Gedichten wirkt mancher Reim gar zu bemüht, z. B. ( S. 42 "In abendliche Dämmerung gerahmt,/Im blauen flackernden Lichterglanz,/Erschien er mir, hat mich sanft umarmt,/Stumm, blaß und atemlos ganz".)  - Erfreulich, dass dem Buch Worterklärungen nachgestellt sind. Doch zu einer Tscherkesska nur zu sagen, dass dies die Tracht eines Tscherkessen ist, scheint mir ein bisschen mager. Und ein Dshigit ist nicht nur ein kaukasischer Mann/Reiter, wie angegeben, sondern ein verwegener kaukasischer Mann/Reiter, sonst ist  der Ausdruck "Dshigit" in vielen Märchen und Sprichwörtern nicht zu verstehen, z. B. (S. 98) bei dem nogaiischen Sprichwort "Ein Dshigit stirbt, sein Ruhm bleibt."

Die Bibliographie von Übersetzungen der Literaturen der Völker Kaukasiens in die deutsche Sprache reicht von den Anfängen bis ins Jahr 2000. Allein daran hat die Herausgeberin viele Jahre gearbeitet: "(...) eine sehr mühsame Arbeit, denn zu diesem Thema stehen kaum Einzelforschungen zur Verfügung". Mein Journalistenherz erfreut, wie wacker Dr. Steffi Chotiwari-Jünger aus der von mir betreuten Völkerschaftsserie der Zeitschrift FREIE WELT zitiert. Es überrascht mich, Jahre später festzustellen, dass zum Beispiel die Abasiner  erst durch meine Auftragsvergabe (als Autorin und Redakteurin der in der DDR sehr geschätzten Illustrierten)  im Jahre 1986 und 1989 das erste Mal (und bis heute das letzte Mal) ins Deutsche übersetzt worden sind. Erstmalig ins Deutsche übertragen wurden durch Dr. Choriwari-Jüngers Initiative Literaturen der Rutulen, der ausgestorbenen Ubychen*, der Uden und Zachuren...

Sollte diesem verdienstvollen Buch eine Nachauflage beschieden sein, wäre es gut, etwas mehr über die einzelnen Völker zu erfahren, über ihre Geschichte, Religion (einen ersten Einblick vermittelt die Karte auf S. 236) und Lebensweise. Aus den bisherigen Angaben, die den mehr als bescheidenen Karten nachgestellt sind, geht nur etwas über die Sprache, Schrift, Bevölkerungszahl und Entstehung der Literatur der einzelnen Völker hervor. Da kann man viel Interessantes lesen, zum Beispiel, dass keine der Sprachen Kaukasiens mit dem Russischen verwandter ist als etwa das Deutsche mit dem Russischen und: das die kaukasischen Völker ihre Werke heute in verschiedenen Alphabeten schreiben: mit kyrillischen, lateinischen, georgischen und armenischen Buchstaben, früher schrieben sie teilweise mit arabischen, griechischen und aramäischen Buchstaben, noch eher benutzten sie in einzelnen Gebieten die Keilschrift.

Dr. Steffi Chotiwari-Jünger - Wissenschaftliche Oberassistentin für Georgisch an der Humboldt-Universität zu Berlin - hat sich die Aufgabe gestellt, "ein wenig Licht in das Labyrinth der kaukasischen Literaturen und Übersetzungen zu bringen, mit einer Bibliographie auf bereits vorliegende, weit verstreute deutsche Übersetzungen hinzuweisen und den Zugang zu ihnen zu ermöglichen". Zu Recht schreibt der Verlag, dass mit diesem Buch gleichzeitig mehrere Lücken geschlossen werden, weil es die erste deutschsprachige Anthologie kaukasischer Literatur ist, die erste Bibliographie der bisher ins Deutsche übersetzten Literatur aus Kaukasien und der erste Abriss der Rezeptionsgeschichte kaukasischer Literatur im deutschsprachigen Raum.

Hörproben der im ersten Teil des Buches übersetzten Werke werden im Internet im Original unter www.hu-berlin.de/slawistik/chotiw.htm vorbereitet und je nach Möglichkeit vervollständigt.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

  * Über die Ubychen erschien zu DDR-Zeiten von Bagrat Schinkuba der beeindruckende historische Roman "Im Zeichen des Halbmonds", Rütten & Loening, Berlin 1981. 2006 lese ich von Bernhard Zand in "Georgien", EUROPA ERLESEN, herausgegeben von Fried Nielsen im Wieser Verlag, Klagenfurt über die Ubychen: "Die nordwestkaukasischen Sprachen beispielsweise faszinieren Phonetiker durch ihren extremen Konsonantenreichtum: Während das Deutsche mit 20 Konsonanten auskommt, operiert das dem Abchasischen verwandte Ubychische mit 80 verschiedenen Reibe-, Knarr und Zischlauten. Um diese auszusprechen müssen von den Lippen bis zum Kehlkopf alle Artikulationspunkte des menschlichen Stimmtraktes aktiviert werden. - Ein türkischer Schwarzmeer-Reisender, so geht die Legende, wurde von seinem Sultan nach dem Klang des sagenhaften Ubychisch gefragt. Der Mann schüttelte einen Sack Kieselsteine auf dem Marmorboden aus: "Hör dir an, wie die Steine prasseln", riet er dem Pascha, "mehr kann ein Fremder von dieser Sprache nicht verstehen." - Inzwischen ist das phonetische Mirakel nur noch auf Tonband zu bewundern: Tevfik Esenç, der letzte Ubychisch-Sprecher, starb 1992 in der Türkei. Seine muslimischen Ahnen waren Ende des 19. Jahrhunderts vor den orthodoxen Russen nach Anatolien geflohen, assimilierten sich und übernahmen das Türkische."

 

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Am 18.12.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 20.11.2019.

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