Belletristik REZENSIONEN

"Ich bin beide."

Russe; über die Tschetschenen
Schlief ein goldnes Wölkchen
Aus dem Russischen von Thomas Reschke
Luchterhand Literaturverlag, München 2003, 376 S.
 
Anatoli Pristawkin* lebt bis zu seinem 10. Lebensjahr zusammen mit sechs Personen in einer siebeneinhalb Quadratmeter großen Wohnung. "Ich wohnte unter dem Tisch. Trotz der Enge war ich glücklich." Zwei Monate nach Kriegsausbruch stirbt die Mutter an Tuberkulose, der Vater wird eingezogen, Anatoli kommt in die Obhut des Staates: ins Waisenhaus, "in eine Welt voller Härte und Grausamkeit". Am schlimmsten ist der quälende Hunger, denn die sowieso schon mageren Rationen kürzt der Waisenhausdirektor, um sie seiner Familie und seinen fetten Hunden, die "so groß wie Kälber waren", zukommen zu lassen. In kleinen Banden klauen sich die Kinder die notwendigste Nahrung zusammen. Einige verhungern. (In "Republik der Strolche" schreiben Grigori Bjelych und Leonid Pantelejew über ein Kinderheim, mit schwererziehbaren kleinen Banditen, dem ein gestrenger, aber gerechter Direktor vorsteht.)

In dem Roman Schlief ein goldnes Wölkchen** hat Pristawkin, 1931 bei Moskau geboren, die Erlebnisse seiner eigenen Kindheit verarbeitet. 1981 geschrieben, konnte der Roman erst 1987 beim Ostberliner Verlag Volk und Welt in einer gekürzten Fassung erscheinen. Damals las ich dieses erschütternde Buch zum ersten Mal.

1992 - da war Pristawkin Vorsitzender der Begnadigungskommission beim russischen Präsidenten - erschien die erste vollständige deutsche Ausgabe beim selben Verlag, dem diese Taschenbuchausgabe von 2003 folgt. Doch nicht die unwürdigen Zustände im Waisenhaus waren das Tabuthema des Buches, sondern der Teil, der sich mit der Umsiedlung von Waisenhauskindern in den Kaukasus befasst; man schreibt das Jahr 1944. Der aktuellen Ausgabe sind diese Worte vorangestellt: "Diese Erzählung widme ich allen ihren Freunden, die dieses unbehauste Kind der Literatur als ihr eigenes annahmen und ihren Autor nicht in Verzweiflung geraten ließen."

Vage Vorstellungen von den majestätischen kaukasischen Bergen veranlassen die beiden unzertrennlichen Kusmin-Zwillinge Saschka ("...ein beschaulicher, ruhiger stiller Mensch, holte die Ideen aus sich heraus.") und Kolka (...gerissen, zupackend, praktisch, erwog blitzschnell, wie diese Ideen ins Leben umzusetzen waren. Denn das bedeutete Einkunft. Genauer gesagt: was Freßbares beschaffen.") Beide haben das Glück, die tagelange Zugfahrt (ohne Verpflegung vom Herrn Direktor) zu überleben. Außerdem freunden sich die beiden Jungen mit einer Erzieherin an, die selbst zwei kleine Kinder hat.

Um die fünfhundert Kinder aus diversen Waisenhäusern rund um Moskau finden sich in dem Zug zusammen, ihr Ziel ist die Staniza Berjosowskaja, das neue Waisenhaus wird das heruntergekommene Landwirtschaftstechnikum. Langsam begreifen das Personal und der Leser, dass sich das neue Kinderheim in einem Gebiet befindet, in dem die ehemalige Bevölkerung ausgesiedelt wurde. Die tschetschenische Bevölkerung war von Stalin nach Mittelasien verbannt worden, man warf ihr Kollaboration mit der deutschen Besatzung vor. Einem ganzen Volk!

Eines Tages wird Regina Petrowna, die Lieblingserzieherin der Kusmin-Zwillinge, krank. Sie soll sich in einer ruhigen Gegend erholen, fernab vom Waisenhaus,  die beiden Kusmins nimmt sie mit. "Was die Kusmin-Zwillinge betrifft, so hatten sie in der ganzen weiten Welt keinen einzigen verwandten Blutstropfen... Nicht hier und überhaupt nirgends." Bald schon geschieht Schreckliches: Auf dem Weg zu einem Abstecher ins Waisenhaus werden die beiden Jungen durch illegal im Land gebliebene berittene Tschetschenen getrennt und Saschka wird grausam ermordet. Kolka findet ihn: "Plötzlich erkaltete er, Schmerz packte ihn, die Luft wurde ihm knapp. Alles an ihm erstarrte bis hin zu den Spitzen der Finger und der Zehen. Er konnte nicht mehr stehen, sondern sank ins Gras, ohne den Blick der vor Entsetzen geweiteten Augen von Saschka zu lassen. Saschka stand nicht, er hing, mit den Achselhöhlen auf spitze Zaunpfähle gespießt, und in seinem Bauch steckte ein Bündel gelber Maiskolben mit im Wind flatternden Fäden." Kolka flüchtet sich ins verlassene, zerstörte Waisenhaus. Irgendjemand fragt ihn, wo denn sein Zwillingsbruder sei. Da antwortet Kolka verwirrt: "Ich bin beide." Im zerschossenen Waisenhaus findet er einen gleichaltrigen Jungen, er heißt Alchusur und ist Tschetschene. Indem er Kolka nicht an die Tschetschenen verrät, rettet er ihm das Leben. Sie werden Nennbrüder, dann Blutsbrüder ("Sie fanden eine Glasscherbe, und erst Kolka, dann Alchusur machten einen Schnitt in die linke Hand, dann rieben sie die Wunden aneinander."). Für alle sind nun diese beiden Jungen die Kusmin-Zwillinge, obwohl sie sich überhaupt nicht ähnlich sehen, "im Gegenteil, der eine war ein hellblonder, stupsnasiger kleiner Russe, der andere dunkelhäutig, kurzgeschoren und schwarzäugig."
*
Jahrzehnte nach diesen schrecklichen Ereignissen wird der Autor von seinem Freund Viktor Iwanowitsch, ein Oberst bei den Panzertruppen, in die Banja geführt, "in Moskau, in Lefortowo, hinter den Studentenheimen des Energetischen Instituts, steht der viergeschossige Ziegelbau eines Dampfbads". Ein Saunagast erzählt, dass ihn die Spondylose quält: "Ich habe sie, seit ich einmal als Kind auf einem Feld inmitten dürrer Maisstengel in einer Grube lag. Reiter verfolgten uns. Ein Pferd kam zentimeterweit an mir vorbei. Ich spürte mit dem Hinterkopf, wie es von einem Huf auf den anderen trat und geräuschvoll atmete, so daß sich meine Haare bewegten. Aber es ging schon auf den Abend, und der Reiter kam nicht mehr dahinter, weshalb sein Pferd auf der Stelle trat. Aus der Ferne wurde er lang gedehnt, in einer fremden kehligen Sprache zu Hilfe gerufen. Sie hatten jemand gefangen! Da sprengte er davon, gab seinem widerspenstigen Gaul die Peitsche. Seit damals quälte und quälte mich der unerbittliche Schmerz im Rücken." Das Kind im Maisfeld ist natürlich Kolka, und der Gefangengenommene wird Saschka sein... Des Autors Freund Viktor Iwanowitsch, stolz, dass er den Krieg vom ersten bis zum letzten Tag mitgemacht hat, erinnert sich an die Vertreibung der Tschetschenen: "Ich war Maschinenpistolenschütze... Im Kaukasus... Da haben wir diese Schwarzen rausgeholt. Die hatten sich an Hitler verkauft! (...) Im Februar, ich weiß noch, das war nach dem Zwanzigsten, da haben sie uns zu einem Feiertag in eine Siedlung gebracht, angeblich auf Urlaub. Dem Vorsitzenden des Dorfsowjets wurde gesagt, um sechs Uhr früh ist ein Meeting, alle Männer sollen sich vor dem Dorfsowjet einfinden. Wir haben euch was mitzuteilen, dann könnt ihr wieder gehen. Na, die haben sich auf dem Platz versammelt. Wir hatten vorher schon bei Dunkelheit alles umzingelt. Die konnten sich gar nicht so schnell besinnen, da saßen sie schon unter Bewachung in den Lastern! Und dann von Haus zu Haus... Zehn Minuten zum Packen, und Abtransport! Die ganze Operation dauerte drei Stunden. Na, und die, die abgehauen sind... (...) Wir haben sie in den Bergen abgeschossen..." (Montefiore schreibt in seinem Buch "Stalin. Am Hof des roten Zaren": "Im Februar 1944 schlug Beria die Deportation der islamischen Tschetschenen und Inguschen vor. Unter ihnen hatte es Fälle von Verrat gegeben, aber die meisten standen fest zu Moskau. Gleichwohl stimmten Stalin und das Staatliche Verteidigungskomitee seinem Plan zu - auch wenn Mikojan dagegen votiert haben will. Bereits am 20. Februar trafen Beria, Kobulow und der Deportationsfachmann Serow mit einer Truppe von 19 000 Tschekisten und 100 000 NKWD-Soldaten in Grosni [Grosny] ein. Am 23. mussten die Einheimischen sich auf öffentlichen Plätzen versammeln, wo man sie ohne Vorwarnung festnahm und auf Güterzüge in Richtung Osten verfrachtete. Am 7. März konnte Beria Stalin berichten, dass sich 500 000 Muslime in dem Zwangstreck befanden.")
*
Oh, Tschetschenen, für dieses Euch angetane  Leid nahmt Ihr Rache an Saschka, einem unschuldigen russischen Kind? Im Buch ist von einer erschütternden Szene die Rede: In einem dunkelroten Güterwagen auf der Station Kuban recken sich aus dessen vergitterten Fenstern dünne Ärmchen und flehende Augen und Münder rufen Hi! Hi! Hi! Das waren unschuldige  deportierte Tschetschenenkinder, die Wasser! Wasser! Wasser! riefen...

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

    * Alexander Pristawkin starb am 11. Juli 2008.

 ** Im Roman "Venushaar" von Michail Schischkin entdecke ich 2011 in den Anmerkungen (S. 550), dass "Schlief ein goldnes Wölkchen" von Anatoli Pristawkin einer Gedichtzeile von Michail Lermontow entlehnt ist: Schlief ein goldnes Wölkchen unter Sternen / An das Felsenriesen Brust geborgen.

 

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Am 13.09.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 25.11.2019.

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