Belletristik REZENSIONEN | |
Knobelt an drei Serien gleichzeitig | |
Boris Akunin | Russe |
Der Magier von Moskau Fandorin ermittelt | |
Aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2005, 304 S. | |
Boris Akunin | Russe |
Pelagia und der schwarze Mönch | |
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg Wilhelm Goldmann Verlag, München 2004, 416 S. | |
Der amerikanische Autor John Steinbeck ("Früchte des Zorns") hat
einmal gesagt: "Wenn einem Autor der Atem ausgeht, werden seine Sätze
nicht kürzer, sondern länger." Kürzlich hat
Boris Akunin den elften
Band seiner Fandorin-Serie
beendet, sie handelt von dessen Abenteuern in Japan. (Der Autor ist
Japanisch-Übersetzer.) Dieser elfte Fandorin-Krimi ist Akunins
dickstes Buch - es wird in zwei Bänden erscheinen. Geht dem berühmten
Autor (in 17 Sprachen übersetzt, Weltauflage: sechs Millionen
Exemplare) der Atem aus?
Gegenwärtig arbeitet Boris Akunin an drei Serien gleichzeitig: an seiner Erast Fandorin-Serie, an seiner Pelagia-Trilogie und an seiner Nicholas Fandorin-Serie, beginnend mit "Die Bibliothek des Zaren". Nicholas ist Erast Fandorins Enkel (Wo kommt er her? Von eigenen Kindern war bei Fandorin nie die Rede...) und gibt Akunin die Möglichkeit, über das heutige Russland zu schreiben. Die beiden anderen Serien sind historische Krimis, sie spielen im 18. und 19. Jahrhundert. So auch Der Magier von Moskau, der vom dekadenten Russland um 1900 erzählt. Erast Fandorin, der längst nicht mehr im Staatsdienst ist und sich meist im Ausland aufhält, liest in der Zeitung von gehäuft auftretenden unverständlichen Selbstmorden in Moskau. Seiner Heimat verbunden, eilt der smarte Ermittler ins Sündenbabel, um die mystischen Tode aufzuklären. Als gut aussehender Herr Gendsi mit weißen Schläfen (die kriegte er im ersten Band, als seine Frau getötet wurde.) und einem kleinen Sprachfehler wird er Mitglied des "Clubs der Selbstmörder" (der sich als "Club der Dichter" tarnt). In dieser Geheimgesellschaft von Todesanbetern ist auch Marja (Mascha) Iwanowna Mironowa, die sich Colombina nennt; alle im Club haben so wohlklingende Decknamen. Die schöne Colombina stammt aus der Provinz nahe dem Ural und büchste von ihren Eltern nach Moskau, in die Stadt ihrer Träume, aus, als sie volljährig geworden war; das war man in Russland um 1900 mit einundzwanzig Jahren. Ein Moskauer Bekannter führte sie in den Selbstmörder-Club ein, der immer aus zwölf Personen besteht. Gerade war eine Stelle frei geworden, weil sich wieder mal einer selbst gemordet hatte. Colombina wurde, nachdem sie eine Strophe eines selbstverfassten Gedichts aufgesagt hatte, aufgenommen und noch am selben Abend die Geliebte des Doges, des Oberpriesters der Selbstmörder-Sekte. Vom Club der "Liebhaber des Todes" ist sie begeistert, denn man trägt hier (gute und weniger gute) düstere Gedichte vor und beschwört die Geister der Verstorbenen. Wie alle Fandorin-Bände ist auch Der Magier von Moskau spannend von der ersten bis zu letzten Seite, allerdings stört der häufige Wechsel der Erzählperspektive. Der Buchtext ist diesmal kein Fließtext, sondern je Kapitel in jeweils drei Kategorien unterteilt: Beiträge aus der Presse (von Lawr Shemailo, der auf eigene Faust ermittelt und dies mit seinem Leben bezahlt), Tagebucheintragungen von Colombina (die, um der Nachwelt literarisch erhalten zu bleiben, es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt) und der Autorentext. Eine sehr reizvolle Machart. Allerdings ist auch ein großer Fauxpas zu beklagen: Wer das erste Mal einen Fandorin-Krimi liest, versteht die Bücherwelt nicht mehr: Obwohl der Untertitel "Fandorin ermittelt" heißt, kommt der Name Fandorin im Buch kein einziges Mal vor. Fandorin - das ist Herr Gendsi, auch japanischer Prinz genannt, aber sein Inkognito wird im Buch nie und nirgends gelüftet, nicht einmal im inhaltlichen Text des Verlages. So kann es einem ergehen, wenn man nicht schön brav alle Titel dieser Serie gelesen hat: "Fandorin" (2001), "Türkisches Gambit" (2001), "Mord auf der Leviathan" (2002), "Der Tod des Achilles" (2002), "Russisches Poker" (2003), "Die Schönheit der toten Mädchen" (2003), "Der Tote im Salonwagen" (2004), "Die Entführung des Großfürsten" (2004), Der Magier von Moskau (2005). Eigentlich hatte Akunin noch zwei Fandorin-Bände geplant, "aber ich weiß nicht, ob ich sie noch schreiben werde. Um zu sehen, ob ich noch den Drang und die Energie" verspüre, sie zu schreiben, "werde ich eine Weltreise auf einem Kreuzfahrtschiff machen". So, so... Übrigens: Inzwischen sind in Russland die ersten Fandorin-Comics erschienen. Den Künstler - einen jungen Ukrainer - hat Akunin selbst ausgewählt. "Er hat wirklich tolle Arbeit geleistet. Sie [die Comics] sind wirklich sehr lustig." Lustig? Da die Fandorin-Serie dem Autor nicht mehr den richtigen Spaß machte ("... das Schreiben ist wie ein Spiel und selbst das faszinierendste Spiel langweilt einen irgendwann.") erfand Akunin eine neue (nur dreiteilige) Serie. Diese Pelagia-Trilogie hat eine schlichte Idee, die Farben schwarz, weiß und rot: "Pelagia und die weißen Hunde", "Pelagia und der schwarze Mönch" und "Pelagia und der rote Hahn". Die Pelagia-Trilogie unterscheidet sich von der Fandorin-Serie vor allem dadurch, dass sie in der Provinz spielt und dass sie eine weibliche Heldin hat. "Außerdem", meint Akunin in einem Internet-Interview, "ist sie nicht so actionreich wie die Fandorin-Serie, sie fließt eher wie ein Fluss in einem Tal dahin." Pelagia und der schwarze Mönch - nicht actionreich? Ein geheimnisvoller schwarzer Mönch versetzt ein russisches Provinzstädtchen in Angst und Schrecken, wenn er in mondhellen Nächten - zusätzlich angestrahlt von einem gleißenden Licht - über das Wasser des Blauen Sees wandelt. Die Bewohner dieser Gegend - alles geschieht ganz in der Nähe des Klosterkomplexes Neu-Ararat - halten die Erscheinung für die Reinkarnation des heiligen Mönchs Wassilisk, der vor achthundert Jahren hier eine Einsiedelei begründete. Die Einsiedelei - in der sich die Mönche des Klosters auf ihren Tod und ihre Abberufung durch Gott vorbereiten - zählt zu den Hauptattraktionen des Klosters. Deshalb bittet der Abt Witali den Erzbischof Mitrofan um Hilfe. Mitrofan schickt seine besten Leute: Als erstes den draufgängerischen, charismatischen Alexej (Aljoscha) Lentotschkin, den der Erzbischof wie einen eigenen Sohn liebt. An Ort und Stelle jedoch wird Aljoscha vor Angst wahnsinnig. Es folgt der Bezirksstaatsanwalt Berditschewski, ein besonnener Beamter, der wegen der mystischen Ereignisse ebenfalls dem Wahnsinn verfällt. Zwölf Kinder nennt er sein eigen, das dreizehnte ist unterwegs. Arme Gattin Maschenka... Nun schickt der Erzbischof den Polizeimeister Felix Lagrange, einen stattlichen, wohl gebauten Oberst an den Schauplatz. Doch dieser tötet sich mit einem Schuss in die Brust. "Welcher Leidenschaft, welcher Alpträume hatte es bedurft, damit ein höhnischer Nihilist den Verstand verlor und ein rauer, unerschrockener Polizeioffizier sein Herz in Stücke schoss?" Erzbischof Mitrofan jedenfalls bekommt einen Herzanfall... Das ist der Augenblick für Natalja Henrichowna, so heißt die Nonne Pelagia mit bürgerlichem Namen. Um selbst an Ort und Stelle ermitteln zu können, plündert sie die Kirchenkasse (Der Erzbischof wird seiner geistigen Tochter später verzeihen...), verkleidet sich als eine Moskauer Adlige und ermittelt als Polina Andrejewna Lissizyna raffinierter und klüger als ihre männlichen Vorläufer. Und so lässt uns Akunin - ein Frauenrechtler? - dann auf vielen Seiten wissen, dass Mann und Frau gleichwertig, ja, dass die Frauen den Männern in vielerlei Hinsicht überlegen seien. Und tatsächlich: Die Nonne Pelagia, ab und an auch als Novize verkleidet, bereitet dem Spuk endlich ein Ende. "Man liest ein paar Seiten, (...), trinkt eine Tasse Tee und liest dann weiter." Die Pelagia-Trilogie "bringt einen nicht dazu, Seite um Seite zu verschlingen, um zu wissen, wie es weitergeht", äußerte Akunin in besagtem Interview. Was die Krimi-Handlung angeht, geht es tatsächlich recht weitschweifig zu. Aber auch die vielen Abschweifungen sind äußerst interessant. So gibt es in dem Klosterstädtchen eine psychiatrische Klinik mit dem durchgeknallten Doktor Donat Sawwitsch. Der ist reich genug, um in seiner Klinik nur Verrückte mit einer ungewöhnlichen Erkrankung aufzunehmen. Natürlich schmachten auch unsere beiden von Erzbischof Mitrofan entsandten verrückt gewordenen Helden hier - Berditschewski z. B. ein "klassischer Fall von Überlagerung einer thanatophoben Depression durch eine präpubertäre mystische Psychose". Berditschewski befindet sich bei Doktor Sawwitsch in "guter Gesellschaft" - z. B. mit einem, der vor aller Augen mit schnell fortschreitender traumatischen Idiotie dahin siecht, mit einem, der unter Entropose leidet, "eine sehr seltene Erkrankung, die dem Autismus nahekommt, aber nicht angeboren, sondern erworben ist", mit einer, deren Diagnose "pathologische Quasi-Nymphomanie mit obsessiver Aufdringlichkeit und defizitärer Libido" lautet... Und auch der Klinikchef hat sich eine seltene Krankheit ausgesucht, er leidet an einer idiosynkratischen Allergie - ein Mechanismus der Physiologischen Ablehnung eines Organismus durch einen anderen. Was für den Psychiater bedeutet, dass er seiner großen Liebe nicht zu nahe kommen darf... Stammleser wissen schon, dass Akunin ein belesener Mann ist, der sich kenntnisreich durch die Weltliteratur schlägt. So begegnen uns in Pelagia und der schwarze Mönch Edgar Wallace, Dostojewskij, Lew Tolstoj Swift, Gogol, Balzac, Agatha Christie... Ich wüsste gern, wie viele literarische und andere Anspielungen mir allein in diesem Buch durch die Lappen gegangen sind. Dennoch: Boris Akunin lässt seine Krimihandlung nie aus den Augen, und am Schluss ist man - wie immer - mehr als verblüfft. Und warum ausgerechnet eine Nonne ermittelt? "Ich mag es, mir selbst schwierige Aufgaben zu stellen. Und die schwierigste Aufgabe, die es gibt, ist einen Roman zu schreiben, der eine junge [äußerst attraktive] Frau als Heldin hat und in der keine Liebesgeschichten vorkommen dürfen." Doch fast hätte sich die Braut Christi doch verliebt - in einen "bildschönen Mann", der sie "behutsam auf eine Bettstatt legt, die mit einem Bärenfell bedeckt" ist. Der blonde Schönling ist Schauspieler und ebenfalls Patient beim psychiatrischen Doktor, weil er an einer pathologisch unterentwickelten Persönlichkeit leidet. Mit B. Akunin [Bakunin] hat der Literaturwissenschaftler und Japanologe Grigori Tschchartischwili sich eines der intelligentsten, originellsten und irreührendsten Pseudonyme der russischen Literaturgeschichte zugelegt. "Der Tagesspiegel" (vom 8.10.03) findet das Pseunonym, das "auf den Apostel anarchistischer Zerstörung und Marx-Gegner Bakunin anspielt, politisch obszön". 1998 schrieb Boris Akunin seinen ersten Kriminalroman. Innerhalb von sieben Jahren verfasste er mindestens dreizehn weitere Bücher. Wann, so frage ich mich, hat er Zeit für seine Recherchen, diesmal die aufwendigen psychiatrischen? | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de | |
Weitere Rezensionen zu "Kriminalliteratur": | |
Am 08.06.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 19.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Auch unter einem kleinen Blümchen kann sich eine Schlange verstecken. | |
Sprichwort der Russen |
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