Belletristik REZENSIONEN | |
Bomben und Kugeln gegen das Böse | |
Polina Daschkowa | Russin |
Keiner wird weinen Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt Aufbau - Verlag, Berlin 2006, 405 S. (Rezensiert, entsprechend dem Gästebuch-Eintrag von Christa.) | |
Das ist ein echter Daschkowa: toll durchkonstruiert, voller
tiefenpsychologischer Porträts, spannend von der ersten bis zur 405. Seite.
Als in Prag ein junger Russe erschossen wird, waren wir Leser schon in der Türkei, hatten es schon mit Drogendealern im großen Stil zu tun, war schon Schutzgelderpressung im Spiele und waren schon Auftragskiller ihrer gar nicht ungefährlichen Arbeit nachgegangen. Zwei Männer bestimmen in diesem Buch die Handlung: Der kleine, ganze eins sechzig Meter große Woldodja, der seine Eltern und seine Großmutter ermordet vorfindet, als er aus der Armee entlassen, zurück nach Moskau kommt. Er will fortan den Mörder seiner Angehörigen zur Strecke bringen und überhaupt gegen das Böse in der Welt kämpfen. Wo immer es ihm in Zukunft begegnen wird, setzt er - nach einem eigenen Regelwerk der Selbstjustiz - Kugeln und Bomben ein. Er jagt das Böse und wird selbst gejagt. Der zweite Mann ist Kolja, genannt Skwosnjak (Lufthauch, Zugwind), der grausamste Bandit der Moskauer Unterwelt, bei dem kein Zeuge überlebt, die Miliz sucht ihn jahrelang. Mit Kolja Koslow ist der Daschkowa ein besonders einprägsamer "Held" gelungen. Kolja wurde vierzehn Tage nach seiner Geburt von der Mutter weggegeben, landete im Säuglingsheim. Seine Diagnose, als er vier Jahre alt ist: "Oligophrenie im Stadium der Debilität", obwohl er ein ganz normaler Junge ist. Aber geistig behinderte Kinder kann man mit Tabletten und Spritzen ruhig stellen, da muss sich das medizinische Personal weniger kümmern... Was Kolja und seine Leidensgenossen im Säuglingsheim, im Krankenhaus, in der Psychiatrie durchmachen, nimmt uns für den bedauernswerten Kolja Koslow ein, geht zu Herzen. Und das soll es ja auch, denn so eingestimmt, fiebern wir mit seinem ungewöhnlichen, leider schon bald kriminellen Lebensweg so richtig mit. Aber auch Wolodja geht uns unter die Haut. Er agiert als Racheengel und fühlt sich als einer von den Guten. Es sind Psychogramme zweier einsamer Männer. Beide sind Mörder. Der eine gut, der andere böse. Warum Menschen morden, fragt sich die Autorin Polina Daschkowa: "Die Frage nach dem Warum des Tötens, also warum ein Mensch diese wichtige Grenze in seinem Inneren überschreitet und zu töten anfängt, ist wirklich einer der rätselhaftesten Momente in der Menschheitsgeschichte. Ganz egal, in welchem Land das geschieht. Diese Frage hat alle bewegt, die je zur Feder gegriffen haben, in der ganzen Weltliteratur." Inzwischen die Nummer Eins des russischen Kriminalromans, fordert Polina Daschkowa vom Leser, sich dem Thema "böser und guter Mörder" zu stellen. Keiner wird weinen ist Krimi, Thriller und Liebesroman; denn die dreißigjährige Vera - und das freut uns Leserinnen sehr - kommt glücklich unter die Haube, nachdem sie fünfzehn Jahre (!) als Geliebte bei einem Mann ausharrte, der sie ungezählte Male betrog und sie immer wieder im Stich ließ. Beim zweiten Mann entschied sie sich falsch; dafür zahlt sie fast mit dem Leben. Die Daschkowa versteht es meisterhaft, die meist ganz unterschiedlichen Stränge ihrer Geschichten kompliziert zu verweben - aber genau im Auge zu behalten. Ihr gelingt es auch, ständig das Tempo zu steigern. Und sie beschönigt nicht die heutigen Zustände in der Millionenmetropole Moskau: "Ein krankhaft dicker, etwa siebenjähriger Junge und eine ältere Frau an Krücken, kamen. An der Kreuzung stauten sich die Autos, es war Berufsverkehr. Der Junge stützte fürsorglich seine Mutter, die liefen sehr langsam. (...) Die Frau und der Junge erstarrten mitten auf der Fahrbahn. Ein schwarzer Jeep hielt direkt auf sie zu, (...) erfasste mit der Stoßstange eine Krücke, beide Krücken fielen der Frau aus der Hand. Sie sank auf die Knie. "Du Miststück, bleib zu Hause, wenn du nicht laufen kannst!", brüllte der Fahrer des Jeeps aus dem offenen Fenster. Der Titel
Keiner wird weinen (so heißt er auch im Russischen) ist allerdings ganz
unverständlich; denn im diesem Buch, in dem es viele Tote gibt, gibt es
auch viele, die um die Opfer bitterlich weinen. Oder ist mit dem Buchtitel nur
der grausame Kolja gemeint, um den niemand weinen wird? Auch das stimmt
so nicht, denn zwei seiner Bandenmitglieder, die einst seine
Leidensgefährten waren, sind ihm mit Kopf und Herz (sofern sie eines haben) ergeben...
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Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de | |
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Am 24.10.2006. ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 20.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Der Dieb hat einen Weg, der Verfolger zehn. | |
Sprichwort der Russen |
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