Belletristik REZENSIONEN

Mord in der Millionnaja

Russe
Im Namen des Zaren
Iwan Putilin ermittelt
Aus dem Russischen von Alfred Frank
Wilhelm Goldmann Verlag, München 2003, 319 S.
 
Bisher kannten wir in Deutschland nur Boris Akunin als Schreiber historischer russischer Kriminalromane. Nun ist Leonid Jusefowitsch hinzugekommen. Der Autor, 1947 in Moskau geboren, wuchs am Ural auf, studierte Geschichte an der Universität Perm, danach war er Offizier der Sowjetarmee. Als Geschichtsprofessor in Moskau verfasste er zahlreiche Sachbücher und wissenschaftliche Artikel. Bekannt wurde er jedoch erst mit seiner Krimi-Trilogie, deren Ermittler Iwan Putilin ist, Chef der St. Petersburger Kriminalpolizei. Der erste Band dieser Trilogie Im Namen des Zaren spielt 1871 in St. Petersburg. Fürst Ludwig von Arensberg, ein österreichischer Diplomat, genauer gesagt: ein Militäragent, wird in seinem Bett ermordet aufgefunden - erstickt mit einem Kopfkissen; seltsamerweise liegt der Tote mit den Füßen zum Kopfende... Der Fürst, ein Frauenheld, Raufbold und leidenschaftlicher Kartenspieler hat viele Feinde. Da ist zum Beispiel der Vermessungsbeamte Strekalow, mit dessen Gattin der ermordete Diplomat ein Verhältnis hatte. Ist das Motiv für den Mord die Rache eines eifersüchtigen Ehemannes? Oder ist Graf Chotek, der österreichische Botschafter der Mörder, der ahnt, dass Arensberg statt seiner als Botschafter vorgesehen ist? Um eine diplomatische Krise zwischen Russland und Österreich-Ungarn zu verhindern, muss der Mord schnellstens aufgeklärt werden.

Dieser Krimi ist wegen seiner verzwickten Handlung, der vielen handelnden Personen und  wegen seiner komplizierten Machart schwer zu lesen. Wohl an Dostojewskij geschult, erzählt Putilin die Geschichte vom Mord in der Millionnaja Straße dem Schriftsteller Safronow, der soll sie verkaufsträchtig niederschreiben. Dieser Safronow meldet sich im Krimi dann gelegentlich zu Wort, ausgerechnet immer dann, wenn es für den Verlauf der Handlung gar nicht vonnöten ist. Um die vielen handelnden Personen mit Vor-, Vaters- und Familiennamen auseinander halten zu können, hätte es unbedingt eines Personenverzeichnisses bedurft.

Eine ganze Menge Begriffe werden im Buch mit Fußnoten erklärt: alte russische Längenmaße, mit Quark und Beeren gefüllte Pasteten, der Liebesgott in der alten russischen Mythologie... Aber, dass mit dem immer wiederkehrenden "Gossudar" (Herr) der Zar höchstpersönlich gemeint ist, erfährt der Leser nicht. (Eigentlich müsste der Krimi nicht "Im Namen des Zaren" heißen, sondern "Im Namen des Gossudar".) Und Iwan Dmitrijewitsch Putilin (auf dem Einband nur Iwan Putilin, im Buch dagegen fast immer nur Iwan Dmitrijewitsch genannt) ist für den in russischer Literatur ungeübten Leser auch nicht gleich als der Ermittler des Geschehens in der Millionnaja auszumachen. Überhaupt Putilin, dessen erste Dienststellung Aufseher eines Trödelmarktes war, ist um die vierzig in den besten Jahren, "in Maßen rechtschaffen, in Maßen schlau, in Maßen gebildet", mit einem üppigen roten Backenbart, den er bei Anspannung schon mal zu Zöpfchen flicht. Er kann neidisch sein, weint manchmal fast, kurz: Er "ist die Mittelmäßigkeit in Person", sagt im Buch ein gewisser Kungurzew, und ich stimme ihm aus vollem Herzen zu. Was für ein sympathischer Tausendsassa ist dagegen Boris Akunins Ermittler Fandorin!

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht? Ich jedenfalls hasse Krimis, in denen der Täter jemand ist, der im ganzen vorangegangenen Geschehen kein einziges Mal vorkommt.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 26.05.2005  ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 22.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Wer an der Hölle Gefallen fand, wird im Paradies nicht heimisch.
Sprichwort der Russen

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