Der Krimi-Markt in
Russland ist schwer umkämpft. Allein sechs Krimis
schreibende Frauen stehen ganz oben in der Käufergunst, sie heißen:
Dankowtsewa,
Daschkowa,
Donzowa,
Marinina,
Platowa,
Stepanowa. Lange Zeit war
Alexandra Marinina die unbestrittene Krimi-Zarin,
seit zwei Jahren ist es mit 40 Millionen verkauften Exemplaren
Polina Daschkowa. Ihr erster in Deutsch erschienener Krimi
"Die leichten Schritte des Wahnsinns"
begeisterte mich. Doch als dann ihr nächstes Buch
"Club Kalaschnikow"
folgte, fragte ich mich, ob es sich bei "Die leichten Schritte des
Wahnsinns" um eine kriminalistische Eintagsfliege gehandelt habe...
Auch die folgenden Titel reichten an das erste Buch nicht heran. Und
überhaupt: Humor geht ihr leider - wie übrigens allen russischen
Krimi-Schriftstellerinnen - völlig ab. Ich verstehe schon, um
sich an der Spitze zu halten, muss die kriminalistische Phantasie
grenzenlos, müssen die Kriminalfälle möglichst abartig sein. In
"Lenas Flucht" hat sich die
Daschkowa etwas besonders Abartiges ausgedacht: Gewissenlose Ärzte überweisen schwangere Frauen in ein
Krankenhaus in Lesnogorsk, wo weitere gewissenlose Ärzte für künstliche
Wehen sorgen, um Kinder der 22.-26. Schwangerschaftswoche auf die Welt
zu bringen. Diese lebenden Winzlinge werden - für viel Geld - zu
gefragten medizinischen Präparaten "verarbeitet". Den Müttern wird
weisgemacht, ihre Kinder seien tot geboren worden oder schon im Mutterleib tot gewesen; Daschkowas
"Für Nikita" handelt von den Machenschaften einer Sekte in
Sibirien, deren Guro ein Koreaner ist,
der die Sektenmitglieder mit Infraschall, Ultraschall und Ultrahochfrequenzstrahlung zu hündischer Ergebenheit manipuliert.
Ihr neues Buch nun Der falsche Engel spielt wieder in postsowjetischer
Zeit, als anstelle des Dzierzynski-Porträts eine Kopie von Rembrandts
"Nachtwache" an der Wand hängt und die Jahrzehnte alte Leninbüste
durch ein Aquarium mit Goldfischen ersetzt ist. Die Daschkowa
beschreibt diese Welt als die "Welt des perfekten, falschen Lächelns,
der Silikonbrüste, der entblößten Rücken, der endlos neu gefärbten
Haare, des alles zerfressenden Zynismus". Alles oder fast alles dreht
sich im Krimi um die Festnahme des schon lange gesuchten, gefährlichen
tschetschenischen Terroristen Schamil Ismailow, den Anführer einer Bande. Er hat in
Moskau
an der Hochschule des KGB studiert, hat ausgezeichnete Manieren, spricht
russisch ohne Akzent, seine Mutter ist Russin; er wirkt nicht wie ein Kaukasier, hat helle Locken und blaue Augen,
ist von Geblüt ein tschetschenischer Prinz. Sein Vater war Träger des
Leninordens und des Ordens für Völkerfreundschaft, seine Büsten
standen nicht nur in seinem tschetschenischen Heimatdorf, sondern in ganz
Tschetschenien, man sah in ihm den künftigen Führungskader
der Republik. Um den bösen
Tschetschenen zu fangen, sind allen Instanzen alle
Mittel recht. Warum gerade ein
Tschetschene der Bösewicht des Romans
sein muss? Polina Daschkowa fühlt sich immerhin bemüßigt, in Form
eines Dialogs zwischen Mutter Julia und der vierzehnjährigen Tochter
Schura darauf einzugehen. Die Mutter: "Hör mal, Schura, wieso meinst
du, ein Tschetschene müsse unbedingt brutal und ein Bandit sein?" -
Die Tochter: "Nicht doch, Mama!" Schura riss die klaren braunen Augen
auf. "Das meine ich überhaupt nicht." - Die Mutter: "Schon gut. Hast
du gegessen?"
Weitere Hauptfiguren des Krimis, der vom Verlag als
Roman ausgewiesen ist, sind diese beiden Männer, die sich weder vom
Äußeren noch vom Charakter ähnlich sind. Der eine ist ein ziemlich mieser Kerl mit Namen
Stanislaw (Stas) Gerassimow, ein erfolgreicher Unternehmer, der nichts
wäre ohne seinen Vater, einem ehemaligen KGB-General, der andere ist Sergej (Serjosha) Loginow, Major der russischen Armee,
der schlimm zugerichtet aus tschetschenischer Gefangenschaft ins
Rehabilitations- und Ausbildungszentrum des Föderalen
Sicherheitsdienstes kommt und dessen Gesundheit durch "Intrakortikale
Transplantation nach der Methode von Doktor Awanessow" wieder hergestellt wird.
Stas ist "verwöhnt, launisch, infantil", leidet an Selbstüberschätzung
und hat ein "krankhaftes Bedürfnis nach Bestätigung, das er
befriedigt, indem er ständig die Frauen wechselt", er ist "nicht klug,
aber schlau. Feige. Gerät in Extremsituationen in Panik. Lügt gern und
gut." Serjosha ist "klug, zuverlässig", verfügt über eine "gewisse
Härte", er muss oft Entscheidungen treffen, nicht nur für sich,
sondern auch für andere. Er ist "belastbar, anspruchslos,
verschlossen"; er kämpfte außer in Tschetschenien in Afghanistan und
Tadshikistan.
Als Serjosha wieder zusammen geflickt ist, wird durch einen
chirurgischen Eingriff sein Gesicht (ohne sein Einverständnis) zu einem
Doppelgänger-Gesicht von Stas umgestaltet; denn Schamil Ismailow, der
- so glauben die zuständigen Behörden - Stas nach dem Leben trachtet,
weil dessen Vater, der KGB-General, Schamils Vater ins Gefängnis
gebracht hatte. Da Stas keiner zutraut, den
mit allen Wasser gewaschenen Tschetschenen dingfest zu machen, ist Serjosha dafür vorgesehen. Außerdem ist er der Einzige, der Ismailow
aus der Nähe kennt. Seine plastische Operation hat Julia Tichorezkaja
vorgenommen, eine Extrem-Chirurgin in einer großen Privatklinik
für plastische Chirurgie, "eine der besten Fachkräfte in ganz Moskau".
Zwischen Serjosha und Julia fängt es schon bald zu knistern an...
In einem zweiten Handlungsstrang von Der falsche Engel verliebt sich während der
Studentenzeit Juri Michejew unsterblich in das schönste Mädchen des
ganzen Instituts, in Maria (Mascha) Demidowa. Doch auch sein
Kommilitone Stas macht mit ihr rum... Als Mascha nach einer
Eifersuchtsszene verunglückt, wird als Mörder Michejew ausgemacht und
zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. In Wahrheit war Mascha in eine
Baugrube gefallen und von einem Moniereisen aufgespießt worden. Ein Unfall.
Nun kann der Leser auf über vierhundert Seiten mitfiebern, ob der böse
Tschetschene dem armen Stas aus Rache an den Kragen will oder ob der nach zehn Jahren aus
dem Lager Entlassene, um seine Jugend Gebrachte, Stas ans Leder will.
Ich finde Der falsche Engel ist nicht besonders spannend und verquast
konstruiert - mit inhaltlich vollkommen unnötigen Nebenhandlungen und allzu
harten Übergängen. Was zum Beispiel soll die Zwillingsgeburt im Jeep auf einsamer Bergstraße
- nur einer der Zwillingsjungen überlebt. - Wozu wird ohne
Erklärung ausführlich darüber lamentiert, dass beim ehemaligen
KGB-General alles schwarz wird? "Ihm fiel plötzlich ein, wie schwarz
sein geliebter silberner Teeglashalter geworden war. Zum ersten Mal
wurde ihm bewusst, dass alles Silber bei der Berührung mit seiner Haut
schwarz wurde und den Glanz einbüßte. Aber damit nicht genug: Das
goldene Kreuz, das er um den Hals trug, und sein Ehering hatten einen
matten rötlichen Schimmer bekommen. Unter dem Ring hatte sich ein
nicht mehr abzuwaschender schwarzer Streifen gebildet..." - Wozu muss der Leser wissen, dass der Hausmeister, der nur einmal
auftritt, Nikititsch heißt oder der dicke Opa Wederko oder die
verrückte des Viertels Dunja... - wo es im Buch vor Namen sowieso nur so
wimmelt... - Und wem gefallen so überkandidelte Sätze wie der über Julias Tochter Schura: " (...) in ihrer
Seele tobte eine dumme kleine Apokalypse, tosten Ozeane, hundert Meter
hohe Tsunamis verschlangen ganze Städte, Vulkane spukten feurige Lava,
ganze Länder verschwanden vom Antlitz der Erde; über den rauchenden
Trümmern stand eine feuerrote runde Wolke, und darin eingeschlossen,
wie eine Fliege in Bernstein, ruhte das Telefon." -
Was hat sich der Verlag dabei gedacht, das Buch der Daschkowa, das im
russischen Original "Cheruwim" heißt, Der falsche Engel
zu nennen? Ein kleiner Engel, nicht einmal ein falscher, taucht
buchstäblich in den drei letzen Zeilen des Buches ein einziges Mal
auf, bevor er in den reinen Mittagshimmel entschwebt. -
Wenn ich nicht schon gelesen hätte, dass Ganna-Maria Braungardt die
Übersetzerin von Der falsche Engel ist, hätte ich es ab Seite
38 ohnehin gewusst, denn wie in dem von ihr übersetzten Buch "
Die Liebhaber des Todes" blecken die handelnden Personen wieder
einmal allzu oft die Zähne.
Sehr beeindruckend sind die (wenigen) Textstellen, in denen Polina Daschkowa Szenen des
Tschetschenienkrieges beschreibt und schildert,
mit welchen grausamen Methoden russische Soldaten "umgedreht" werden.
"Die Daschkowa gilt", schreibt der Verlag, "als wichtigste Vertreterin
des neuen russischen Spannungsromans". Dabei schrieb sie - 1960 in
Moskau geboren, am
Gorki-Literaturinstitut studierend, Ende
der siebziger Jahre Gedichte. Später arbeitete sie für den Rundfunk, leitete die Kulturredaktion
einer Wochenzeitung und war Parlamentsberichterstatterin. Daneben
übersetzte sie Bücher aus dem Englischen und verfasste Tätergutachten
für die Kriminalpolizei. Seit Mitte der neunziger Jahre schreibt sie
Kriminalromane. Mit ihrem Mann, einem Dokumentarfilmer, und ihren zwei
Töchtern lebt Polina Daschkowa in
Moskau. "Um mit
Puschkin zu
sprechen", soll sie gesagt haben, "ich schreibe für mich und verkaufe
um des Geldes willen."
Man weiß von ihr, dass sie bis zu zwanzig Seiten am Tag schreibt.
Vielleicht wäre weniger mehr? |
- Boris Akunin, Fandorin.
- Boris Akunin, Türkisches Gambit.
- Boris Akunin, Mord auf der Leviathan.
- Boris Akunin, Der Tod des Achilles.
- Boris Akunin, Russisches Poker.
- Boris Akunin, Die Schönheit der toten Mädchen.
- Boris Akunin, Der Magier von Moskau.
- Boris Akunin, Die Entführung des Großfürsten.
- Boris Akunin, Der Tote im Salonwagen.
- Boris Akunin, Die Diamantene Kutsche.
- Boris Akunin, Die Liebhaber des Todes.
- Boris Akunin, Pelagia und die weißen Hunde.
- Boris Akunin, Pelagia und der schwarze Mönch.
- Boris Akunin, Pelagia und der rote Hahn.
- Boris Akunin, Die Bibliothek des Zaren.
- Boris Akunin, Der Favorit der Zarin.
- Kristina Carlson, Das Land am Ende der Welt.
- Sophia Creswell, Der Bauch von Petersburg.
- Anna Dankowtsewa, Ein Haus am Meer.
- Polina Daschkowa, Die leichten Schritte des Wahnsinns.
- Polina Daschkowa, Club Kalaschnikow.
- Polina Daschkowa, Russische Orchidee.
- Polina Daschkowa, Für Nikita.
- Polina Daschkowa, Nummer 5 hat keine Chance.
- Polina Daschkowa, Keiner wird weinen.
- Polina Daschkowa, Lenas Flucht.
- Darja Donzowa, Ein Hauch von Winter.
- Darja Donzowa, Spiele niemals mit dem Tod.
- Darja Donzowa, Perfekt bis in den Tod.
- Marek Halter, Die Geheimnisse von Jerusalem.
- Elfi Hartenstein, Moldawisches Roulette.
- Leonid Jusefowitsch, Im Namen des Zaren.
- Andrej Kurkow, Picknick auf dem Eis.
- Andrej Kurkow, Petrowitsch.
- Andrej Kurkow, Ein Freund des Verblichenen.
- Andrej Kurkow, Pinguine frieren nicht.
- Anna Malyschewa, Tod in der Datscha.
- Alexandra Marinina, Mit verdeckten Karten.
- Alexandra Marinina, Tod und ein bisschen Liebe.
- Alexandra Marinina, Auf fremdem Terrain.
- Alexandra Marinina, Der Rest war Schweigen.
- Alexandra Marinina, Die Stunde des Henkers.
- Alexandra Marinina, Der gestohlene Traum.
- Alexandra Marinina, Widrige Umstände.
- Alexandra Marinina, Mit tödlichen Folgen.
- Viktoria Platowa, Die Frau mit dem Engelsgesicht.
- Viktoria Platowa, Ein Püppchen für das Ungeheuer.
- Viktoria Platowa, Die Diva vom Gorki-Park.
- Tatjana Stepanowa, Der dunkle Hauch der Angst.
- Tatjana Stepanowa, Der süße Duft des Blutes.
- Bernhard Thieme, Russisch Roulette.
- Sergej Ustinow, 12 Uhr Majakowski Platz, Hörbuch.
- Tatjana Ustinowa, Blind ist die Nacht.
- Robin White, Sibirische Tiger.
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