Belletristik REZENSIONEN

Nicht Stas macht den bösen Tschetschenen dingfest...

Russin
Der falsche Engel
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Aufbau-Verlag, Berlin 2007, 427 S.

(Rezensiert, entsprechend dem Gästebuch-Eintrag von Felix Mainz.)

 

Der Krimi-Markt in Russland ist schwer umkämpft. Allein sechs Krimis schreibende Frauen stehen ganz oben in der Käufergunst, sie heißen: Dankowtsewa, Daschkowa, Donzowa, Marinina, Platowa, Stepanowa. Lange Zeit war Alexandra Marinina die unbestrittene Krimi-Zarin, seit zwei Jahren ist es mit 40 Millionen verkauften Exemplaren Polina Daschkowa. Ihr erster in Deutsch erschienener Krimi "Die leichten Schritte des Wahnsinns" begeisterte mich. Doch als dann ihr nächstes Buch "Club Kalaschnikow" folgte, fragte ich mich, ob es sich bei "Die leichten Schritte des Wahnsinns" um eine kriminalistische Eintagsfliege gehandelt habe... Auch die folgenden Titel reichten an das erste Buch nicht heran. Und überhaupt: Humor geht ihr leider - wie übrigens allen russischen Krimi-Schriftstellerinnen - völlig ab. Ich verstehe schon, um sich an der Spitze zu halten, muss die kriminalistische Phantasie grenzenlos, müssen die Kriminalfälle möglichst abartig sein. In "Lenas Flucht" hat sich die Daschkowa etwas besonders Abartiges ausgedacht: Gewissenlose Ärzte überweisen schwangere Frauen in ein Krankenhaus in Lesnogorsk, wo weitere gewissenlose Ärzte für künstliche Wehen sorgen, um Kinder der 22.-26. Schwangerschaftswoche auf die Welt  zu bringen. Diese lebenden Winzlinge werden - für viel Geld - zu gefragten medizinischen Präparaten "verarbeitet". Den Müttern wird weisgemacht, ihre Kinder seien tot geboren worden oder schon im Mutterleib tot gewesen; Daschkowas "Für Nikita" handelt von den Machenschaften einer Sekte in Sibirien, deren Guro ein Koreaner ist, der die Sektenmitglieder mit Infraschall, Ultraschall und Ultrahochfrequenzstrahlung zu hündischer Ergebenheit manipuliert.

Ihr neues Buch nun Der falsche Engel spielt wieder in postsowjetischer Zeit, als anstelle des Dzierzynski-Porträts eine Kopie von Rembrandts "Nachtwache" an der Wand hängt und die Jahrzehnte alte Leninbüste durch ein Aquarium mit Goldfischen ersetzt ist. Die Daschkowa beschreibt diese Welt als die "Welt des perfekten, falschen Lächelns, der Silikonbrüste, der entblößten Rücken, der endlos neu gefärbten Haare, des alles zerfressenden Zynismus". Alles oder fast alles dreht sich im Krimi um die Festnahme des schon lange gesuchten, gefährlichen tschetschenischen Terroristen Schamil Ismailow, den Anführer einer Bande. Er hat in Moskau an der Hochschule des KGB studiert, hat ausgezeichnete Manieren, spricht russisch ohne Akzent, seine Mutter ist Russin; er wirkt nicht wie ein Kaukasier, hat helle Locken und blaue Augen, ist von Geblüt ein tschetschenischer Prinz. Sein Vater war Träger des Leninordens und des Ordens für Völkerfreundschaft, seine Büsten standen nicht nur in seinem tschetschenischen Heimatdorf, sondern in ganz Tschetschenien, man sah in ihm den künftigen Führungskader der Republik. Um den bösen Tschetschenen zu fangen, sind allen Instanzen alle Mittel recht. Warum gerade ein Tschetschene der Bösewicht des Romans sein muss? Polina Daschkowa fühlt sich immerhin bemüßigt, in Form eines Dialogs zwischen Mutter Julia und der vierzehnjährigen Tochter Schura darauf einzugehen. Die Mutter: "Hör mal, Schura, wieso meinst du, ein Tschetschene müsse unbedingt brutal und ein Bandit sein?" - Die Tochter: "Nicht doch, Mama!" Schura riss die klaren braunen Augen auf. "Das meine ich überhaupt nicht." - Die Mutter: "Schon gut. Hast du gegessen?"

Weitere Hauptfiguren des Krimis, der vom Verlag als Roman ausgewiesen ist, sind diese beiden Männer, die sich weder vom Äußeren noch vom Charakter ähnlich sind. Der eine ist ein ziemlich mieser Kerl mit Namen Stanislaw (Stas) Gerassimow, ein erfolgreicher Unternehmer, der nichts wäre ohne seinen Vater, einem ehemaligen KGB-General, der andere ist Sergej (Serjosha) Loginow, Major der russischen Armee, der schlimm zugerichtet aus tschetschenischer Gefangenschaft ins Rehabilitations- und Ausbildungszentrum des Föderalen Sicherheitsdienstes kommt und dessen  Gesundheit durch "Intrakortikale Transplantation nach der Methode von Doktor Awanessow"  wieder hergestellt wird. Stas ist "verwöhnt, launisch, infantil", leidet an Selbstüberschätzung und hat ein "krankhaftes Bedürfnis nach Bestätigung, das er befriedigt, indem er ständig die Frauen wechselt", er ist "nicht klug, aber schlau. Feige. Gerät in Extremsituationen in Panik. Lügt gern und gut." Serjosha ist "klug, zuverlässig", verfügt über eine "gewisse Härte", er muss oft Entscheidungen treffen, nicht nur für sich, sondern auch für andere. Er ist "belastbar, anspruchslos, verschlossen"; er kämpfte außer in Tschetschenien in Afghanistan und Tadshikistan.

Als Serjosha wieder zusammen geflickt ist, wird durch einen chirurgischen Eingriff sein Gesicht (ohne sein Einverständnis)  zu einem Doppelgänger-Gesicht von Stas umgestaltet; denn Schamil Ismailow, der - so glauben die zuständigen Behörden - Stas nach dem Leben trachtet, weil dessen Vater, der KGB-General, Schamils Vater ins Gefängnis gebracht hatte. Da Stas keiner zutraut, den mit allen Wasser gewaschenen Tschetschenen dingfest zu machen, ist Serjosha dafür vorgesehen. Außerdem ist er der Einzige, der Ismailow aus der Nähe kennt. Seine plastische Operation hat Julia Tichorezkaja vorgenommen, eine  Extrem-Chirurgin in einer großen Privatklinik für plastische Chirurgie, "eine der besten Fachkräfte in ganz Moskau".

Zwischen Serjosha und Julia fängt es schon bald zu knistern an...

In einem zweiten Handlungsstrang von Der falsche Engel verliebt sich während der Studentenzeit Juri Michejew unsterblich in das schönste Mädchen des ganzen Instituts, in Maria (Mascha) Demidowa. Doch auch sein Kommilitone Stas macht mit ihr rum... Als Mascha nach einer Eifersuchtsszene verunglückt, wird als Mörder Michejew ausgemacht und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. In Wahrheit war Mascha in eine Baugrube gefallen und von einem Moniereisen aufgespießt worden. Ein Unfall.

Nun kann der Leser auf über vierhundert Seiten mitfiebern, ob der böse Tschetschene dem armen Stas aus Rache an den Kragen will oder ob der nach zehn Jahren aus dem Lager Entlassene, um seine Jugend Gebrachte, Stas ans Leder will.

Ich finde Der falsche Engel ist nicht besonders spannend und verquast konstruiert - mit inhaltlich vollkommen unnötigen Nebenhandlungen und  allzu harten Übergängen. Was zum Beispiel soll die Zwillingsgeburt im Jeep auf einsamer Bergstraße - nur einer der Zwillingsjungen überlebt. - Wozu wird ohne Erklärung ausführlich darüber lamentiert, dass beim ehemaligen KGB-General alles schwarz wird? "Ihm fiel plötzlich ein, wie schwarz sein geliebter silberner Teeglashalter geworden war. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass alles Silber bei der Berührung mit seiner Haut schwarz wurde und den Glanz einbüßte. Aber damit nicht genug: Das goldene Kreuz, das er um den Hals trug, und sein Ehering hatten einen matten rötlichen Schimmer bekommen. Unter dem Ring hatte sich ein nicht mehr abzuwaschender schwarzer Streifen gebildet..." - Wozu muss der Leser wissen, dass der Hausmeister, der nur einmal auftritt, Nikititsch heißt oder der dicke Opa Wederko oder die verrückte des Viertels Dunja... - wo es im Buch vor Namen sowieso nur so wimmelt... -  Und wem gefallen so überkandidelte Sätze wie der über Julias Tochter Schura: " (...) in ihrer Seele tobte eine dumme kleine Apokalypse, tosten Ozeane, hundert Meter hohe Tsunamis verschlangen ganze Städte, Vulkane spukten feurige Lava, ganze Länder verschwanden vom Antlitz der Erde; über den rauchenden Trümmern stand eine feuerrote runde Wolke, und darin eingeschlossen, wie eine Fliege in Bernstein, ruhte das Telefon." - Was hat sich der Verlag dabei gedacht, das Buch der Daschkowa, das im russischen Original "Cheruwim" heißt, Der falsche Engel zu nennen? Ein kleiner Engel, nicht einmal ein falscher, taucht buchstäblich in den drei letzen Zeilen des Buches ein einziges Mal auf, bevor er in den reinen Mittagshimmel entschwebt. - Wenn ich nicht schon gelesen hätte, dass Ganna-Maria Braungardt die Übersetzerin von Der falsche Engel ist, hätte ich es ab Seite 38 ohnehin gewusst, denn wie in dem von ihr übersetzten Buch " Die Liebhaber des Todes" blecken die handelnden Personen wieder einmal allzu oft die Zähne.

Sehr beeindruckend sind die (wenigen) Textstellen, in denen Polina Daschkowa Szenen des Tschetschenienkrieges beschreibt und schildert, mit welchen grausamen Methoden russische Soldaten "umgedreht" werden.

"Die Daschkowa gilt", schreibt der Verlag, "als wichtigste Vertreterin des neuen russischen Spannungsromans". Dabei schrieb sie  - 1960 in Moskau geboren, am Gorki-Literaturinstitut studierend, Ende der siebziger Jahre Gedichte. Später arbeitete sie für den Rundfunk, leitete die Kulturredaktion einer Wochenzeitung und war Parlamentsberichterstatterin. Daneben übersetzte sie Bücher aus dem Englischen und verfasste Tätergutachten für die Kriminalpolizei. Seit Mitte der neunziger Jahre schreibt sie Kriminalromane. Mit ihrem Mann, einem Dokumentarfilmer, und ihren zwei Töchtern lebt Polina Daschkowa in Moskau. "Um mit Puschkin zu sprechen", soll sie gesagt haben, "ich schreibe für mich und verkaufe um des Geldes willen."

Man weiß von ihr, dass sie bis zu zwanzig Seiten am Tag schreibt. Vielleicht wäre weniger mehr?


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

Bernd E. Scholz schreibt am 29.07.2007 an gisela@reller-rezensionen.de (gekürzt):

Sehr geehrte Frau Reller,

weshalb der Aufbau-Verlag den russischen Titel "Cheruvim" mit "Der falsche Engel" vermarktet, weiss nur er allein. Und weshalb in der wirklich guten Übersetzung im dritten Kapitel die russische Bank "Prometej" zu "Triumf" herabgestuft wird, geht mit Sicherheit auch nicht auf die Übersetzerin.

Gutes Gelingen wünscht Ihnen weiterhin

Bernd E. Scholz

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Am 31.03.2008  ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Die Augen fürchten sich, doch die Hände packen zu.
Sprichwort der Russen


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