Belletristik REZENSIONEN | ||||||||||||||||||||
Mordet Jack the Ripper auch in Moskau? | ||||||||||||||||||||
Boris Akunin | Russe | |||||||||||||||||||
Die Schönheit der toten Mädchen Fandorin ermittelt Aus dem Russischen von Thomas Reschke | Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2003, 222 S.
Im Frühjahr 1889 wird in
Moskau
eine Prostituierte besonders grausam
umgebracht. Die "Handschrift" des Mordes ruft den Ermittler
Erast Petrowitsch Fandorin,
Sonderbeauftragter des Gouverneurs von
Moskau und Träger
russischer und ausländischer Orden, auf den Plan. Den in der Welt
herumgekommenen Mann erinnert dieser Fall an die ungeheuerlichen
Untaten, die Jack the Ripper im vergangenen Jahr in London verübte.
Sollte sich der berüchtigte Serienmörder nun in
Russland aufhalten?
Manche finden diese Idee Fandorins verrückt und finden auch seine
Vorsicht maßlos übertrieben, den Zaren von seinem Osterbesuch in der
Stadt abzuraten. Doch tatsächlich, dem einen Mord folgen weitere.
Insgesamt kann Fandorin am Schluss des Buches dem Mörder, einer
"unersättlichen blutgierigen Bestie", acht Morde in England und zehn Morde in
Russland nachweisen*.
| Die Schönheit der toten Mädchen ist bis jetzt Akunins blutrünstigster Krimi. Zum Beispiel sagt Fandorin über die Prostituierte Mary Jane Kelly, die in der Londoner Dorset Street in ihrer Kammer gefunden wurde, wo sie gewöhnlich ihre Freier empfing: "Die Kehle war durchtrennt, die Brüste abgeschnitten, die inneren Organe ordentlich auf dem Bett ausgebreitet, der Magen geöffnet - man vermutete, daß der Mörder seinen Inhalt zu sich genommen hatte." Oder als die Prostituierten-Leiche in Moskau gefunden wird, klingt der Monolog Sacharows so: "Na, was haben wir denn da?" schnurrte neugierig der Gerichtsmediziner Jegor Williamowitsch Sacharow und hob mit dem Gummihandschuh etwas schwammiges Blaurotes vom Boden auf. "Das ist ja die Milz, die Gute. Ausgezeichnet. In die Tüte damit, in die Tüte. Noch was Inneres, die linke Niere, nun haben wir alles beisammen bis auf ein paar Kleinigkeiten... Was haben Sie denn da unter dem Stiefel, Monsieur Tulpow? Gekröse?" - Als der Mörder eine Schwangere getötet hatte, sinniert er: "Als ich mit ungeduldig zitternden Händen die Gebärmutter öffne, überkommt mich Ekel. Der lebende Embryo ist häßlich (...). Er sieht genauso aus wie die Mißgeburten in den Spiritusgläsern auf dem Katheder von Professor Linz. Er bewegt sich, sperrt den kleinen Mäusemund auf. Angewidert schleudere ich ihn beiseite." Akunin denkt sich bei seinen Krimis oft besondere "Macharten" aus, diesmal bringt er dem Leser nach jedem Kapitel die Gedankengänge des Mörders nahe. Bald schon erschließen sich uns einige seiner Charakterzüge, und wir erkennen, daß der Mörder nicht normal sein kann. In diesem sechsten Band der Fandorin-Serie spielt sein Assistent Anissi Tulpanow eine besonders große Rolle, indes Fandorin sich grün und käsebleich im Hintergrund hält. Die "unerwartete Dünnhäutigkeit des vergötterten, stets so kaltblütigen und jeder Gefühsduselei abholden Chefs beunruhigt Anissi". Wir erinnern uns, dass Fandorin den "unscheinbaren jungen Mann mit vielen Pickeln und abstehenden Ohren" in "Russisches Pocker" für sich als Mitarbeiter entdeckte. Ich schrieb damals in meiner Rezension, dass Akunin Acht geben sollte, dass der oft von Skrupeln geplagte Anissi dem skrupellosen Fandorin nicht den Rang abläuft - was die Sympathie des Lesers anbelangt... Und tatsächlich: Ab Band 7 wird der unattraktive, aber kriminalistisch begabte junge Mann nicht mehr agieren. Das erste Mal erleben wir an Fandorins Seite eine "feste" Frau, mit der er in "wilder Ehe" lebt. Leider bleibt Angelina trotz aller Schönheit farblos und nicht besonders interessant, weshalb wir ihr auch keine Träne nachweinen, als sie ins Kloster geht. B. Akunin (Bakunin!) ist das Pseudonym von Grigori Schalwowitsch Tschchartischwili, 1956 im georgischen Tbilissi geboren. Einst Redakteur und Übersetzer aus dem Japanischen, scheint es dem Intellektuellen Tschchartischwili doch ein wenig peinlich zu sein, Kriminalromane zu schreiben; denn er überarbeitete flugs Tschechows "Die Möwe", um zu zeigen - wie man in Moskau munkelt - dass das literarische Metier sein eigentliches Anliegen sei. Sein Stück wird in Moskau abwechselnd mit dem Original gespielt. Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de * Gegenwart: Im russischen Ural wurde ein Massengrab mit etwa dreißig jungen Frauen entdeckt. Viele der Opfer im Alter von 13 bis 26 Jahren seien Prostituierte gewesen, schreibt das "Neue Deutschland" vom 3./4.02.07.
|