Belletristik REZENSIONEN | |
Pia Ritter, die Politmafia und ein sehr informatives "Spezial" | |
Elfi Hartenstein | Über Moldawien (Republik Moldov) |
Moldawisches Roulette | |
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2004, 278 S. | |
Britta Wollenweber / Peter Franke (Redaktion) | Über Moldawien (Republik Moldova) |
Moldowa, Land am Dnjestr | |
Aus dem Russischen von Rita Schick, Valentina Dwinskaja, Nelli Soghomonian Mit zahlreichen Fotos Wostok Verlag, Berlin 2004, 78 S. | |
"Ich habe relativ wenig Angst. Einfach so. Punkt!", sagte Elfi
Hartenstein in einem Interview. Genau das kann man auch von der
Hauptheldin Ihres Buches Moldawisches Roulette Pia Ritter sagen,
die sich ohne Angst - wenn auch ungewollt - in die größten kriminellen
Abenteuer stürzt.
Die Autorin Elfi Hartenstein, Dozentin für das Goethe-Institut, lebte zwei Jahre lang in Moldowas Hauptstadt Chişinau, um moldawischen Studenten am dortigen Institut für Sprache und Literatur der Akademie der Wissenschaften die deutsche Sprache beizubringen; sie selbst lernte während dieser Zeit moldawisch, alle Achtung! Im Buch klagt die Autorin darüber, dass es keine Reiseführer über Moldowa gibt. Wahr ist es.* Leider stand ihr, als sie dieses Buch schrieb, auch noch nicht das überaus informative "Wostok-Spezial Moldowa, Land am Dnjestr" zur Verfügung, das - wie ihr Buch - 2004 erschien. Sonst hört und liest man über Moldowa in unseren Medien wirklich herzlich wenig. Kurz nach Gorbatschows Regierungszeit allerdings war Moldowa oft in den Schlagzeilen, als Beispiel dafür, wie ein klassisches Weinland seiner Antialkoholkampagne zum Opfer gefallen war; ganze Weinberge hatte man damals in Moldowa (und nicht nur dort) vernichtet. Von zwei Millionen Tonnen Weintrauben wurden nur noch etwa 400 000 Tonnen geerntet; die meisten Betriebe wurden gezwungen, auf Saftprodukte umzusteigen. Zur Zeit der " Gorbatschowschen Perestroika fegte die Antialkoholkampagne wie ein Tornado über die Republik". ("Wostok-Spezial") Moldawisches Roulette ist ein spannender Kriminalroman über eine deutsche Lehrerin, die ins Visier der Politmafia gerät, weil sie sich ein bisschen zu sehr für Land und Leute interessiert. Mich hat gerade beeindruckt, dass man aus Elfi Hartensteins Buch so viel erfährt über Land und Leute der ehemaligen Moldawischen Sozialistischen Sowjetrepublik, die im August 1991 ihre Unabhängigkeit erklärte. Heute ist sie von den ehemaligen fünfzehn Sowjetrepubliken die ärmste. Was einen von Elfi Hartensteins Buchhelden sagen lässt: "Demokratie hin oder her. Und natürlich wollten wir alle frei sein. Bloß lässt sich leider nicht leugnen, dass es uns in Unfreiheit und unter den Kommunisten besser ging." Prompt haben dann in Moldova auch bei den letzten Parlamentswahlen (im März 2005) die Kommunisten gesiegt; die als "pro-europäisch" geltende Partei von Präsident Wladimir Woronin sicherte sich 46,1 Prozent der Stimmen. Elfi Hartensteins Krimistory handelt von Geldwäsche, dem Handel mit Waffen und Drogen, von Prostitution, Korruption, der Mafia und dem KGB, von Bombenattentaten auf das Spielcasino Seabeco (dem Treffpunkt "der oberen Unterwelt") und auf die Banca de Economii, von einem hochkarätigen Diebstahl aus dem ehemaligen Weinkeller von Hermann Göring, von einigen Morden, Erpressung und Wirtschaftskriminalität... Verständlich, dass die Ich-Erzählerin Pia Ritter das Gefühl hat, "in ein Puzzle geraten zu sein, dessen Dimensionen ich bisher nicht im Traum erahnt habe und wahrscheinlich niemals ganz erfassen werde". Einen ganz besonderen Reiz übt der Roman auch dadurch aus, dass die Autorin in der Gestalt der Pia Ritters so viel von sich selbst preisgibt: dass sie sich liebend gerne aus einem geregelten Tagesablauf ausklinkt und gern alles auf den Kopf stellt: "Bei Gleichförmigkeit gehe ich ein." Dass sie am meisten die Tage liebt, die es ihr gestatten, in Ruhe in Gang zu kommen. Dass sie mit einem Bücherstapel neben dem Bett eine ganze Menge grauer Tage überstehen kann. Dass sie unfähig ist, sich auf Dauer einem bestimmtem Rhythmus anzuvertrauen. Dass ihr das Kofferpacken verhasst ist, obwohl sie so gerne unterwegs ist. Dass sie viel raucht, zu viel Kognak trinkt, zu wenig schläft. Dass sie in Deutschland einen Geliebten hat, in Odessa einen alten Freund, in Österreich einen guten Bekannten, in den Niederlanden einen nicht ganz so alten Bekannten. Sie alle und noch viel mehr (Moldawier meist) gehen mit ihr auf Verbrechersuche, und einige davon retten sie aus dem Schlamassel, das darin besteht, dass die Mafia sie in ein unterirdisches Gefängnis gesperrt hat, das erst 1996 wiederentdeckt wurde - als zugemauerter unterirdischer Gulag aus Stalins Zeiten. Von ihrer moldawischen Freundin Tamara wird sie - wieder wohlbehalten bei den Ihren - aufgeklärt: "Dass es Deportationen gegeben hat, weißt du ja wohl, Pia, aber die Ausmaße kannst du dir wahrscheinlich nicht vorstellen. (...) Es gibt eine Dunkelziffer von etwa einer Million Menschen, die nach Ende des Großen Vaterländischen Krieges, genauer gesagt nach 1944, verschwunden und nie wieder aufgetaucht sind. (...) Eine Million Menschen - (...) das sind etwa 25 Prozent der Vorkriegsbevölkerung." In ihrem Nachwort schreibt Steffi Hartenstein, dass ihre volle Bewunderung den Menschen gehöre, die sie in der Stadt und auf dem Land getroffen habe. "Ich meine damit nicht das neureiche Stammpublikum der Nobelrestaurants, dem die alte wie auch die neue Schattenwirtschaft es erlaubt, sich protzige, hoch gesicherte Villen hinzustellen - wie etwa im Chişinauer Stadtviertel Telecentro - , sich die Schränke mit Designerklamotten voll zuhängen, Neuwagen mit Luxusausstattung zu fahren und im Urlaub nach Zypern oder an die Riviera zu fahren. - Mindestens 95 Prozent der Bewohner dieses Landes sind von dieser Entwicklung ausgeschlossen. Sie kämpfen darum, auf legalem Weg wenigstens den Lebensstandard, den sie vor dem Zerfall der Sowjetunion einmal hatten, wiederzuerlangen (...) Trotzdem ist mir bei uns im Westen nirgendwo je so viel Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft begegnet wie dort in Moldawien, so viel sprichwörtlicher Überlebensmut." Elfi Hartenstein, 1948 in Starnberg geboren, studierte Germanistik und Geschichte. Sie ist seit 1989 freiberufliche Autorin, Übersetzerin, Lektorin und Ghostwriter in Regensburg, und weilte als Dozentin nicht nur in Moldowa, sondern auch in Rumänien, der Ukraine, in Kasachstan und in Kyrgysstan. Marcel Reich-Ranicki, dem sie sich 1985 im Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt stellte, nannte sie eine begabte Frau, "aber leider behandelt sie immer die falschen Themen". Ich finde, dass Elfi Hartenstein sowohl mit ihren älteren Büchern (z. B. dem Fachbuch "Sanft heilen mit Bienen-Produkten" - ihr Großvater war Imker -, "Frauen im goldenen Käfig", "Jüdische Frauen im New Yorker Exil", "Fünf Geschichten mit Herbst") als auch mit ihrem neuesten Buch Moldawisches Roulette durchaus richtige Themen wählt! Allerdings: Beklagt Elfi Hartenstein in ihrem Kriminalroman, dass es in Moldova keine ausländischen Zeitungen gibt, dass in den Haushalten oft der Strom ausfällt, dass man Monate lang kein warmes Wasser hat, die Mafia in Moldova wütet - "nicht ganz so stark wie in Rumänien oder der Ukraine", dass Chişinau trist und öde ist und "Dazu kommt die ständige Angst, man könnte überfallen und ausgeraubt werden.", so ist darüber im "Moldowa-Spezial" so gut wie nichts zu lesen. Ich habe nicht den Eindruck, dass in diesem Heft gelogen wird, aber - es wird doch einiges weggelassen; denn schließlich will Moldova, Land am Dnjestr Touristen nach Moldowa locken. Und das zu Recht - wie mir scheint... Dieses "Spezial", vorrangig von Moldawiern geschrieben, ist sehr kenntnis- und aufschlussreich: Es behandelt -
die Multinationalität Moldowas. (Mihai Mihailov schreibt über Ukrainer, Russen, Juden,
Zigeuner, Armenier, Polen, Türken, Gagausen, Deutsche, Iraner, Litauer, Letten, Bergjuden, Pakistaner, Griechen, Tschetschenen, Bulgaren,
Tataren, Belarussen, Esten
und Moldawier - nur 64 Prozent der Gesamtbevölkerung - sogar Afrikaner haben in Moldowa eine
Landsmannschaft - sind Moldawier.)
* Wahr ist es nicht mehr, denn inzwischen gibt es Moldowa, Land am Dnjestr. | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de | |
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Am 26.05.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 22.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
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Moldawisches Ornament - wie es die Oberkante des "Spezials" hätte schmücken können. |
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