Sachbuch REZENSIONEN

Der Beresowskij der Ukraine?
 
Über den Ukrainer Rabinovich
Der Oligarch
Vadim Rabinovich bricht das Schweigen
Europa Verlag, Hamburg-Wien 2001, 233 S.

Der Inspektor Gerhard W. aus dem Wiener Innenministerium bot dem Enthüllungs-Autor Jürgen Roth* im Auftrag von Hintermännern 600 000 Mark an, wenn er sein Buch Der Oligarch vor dem Erscheinen zurückziehe. Dieser Wiener Beamte, der Roth** gegenüber desillusioniert behauptete, der Russenmafia sei kein Einhalt mehr zu gebieten, gehörte zu einer Spezialeinheit, zuständig für die Bekämpfung des Organisierten Verbrechens in osteuropäischen Ländern. Er wurde verhaftet, vom Dienst suspendiert, seine Hintermänner nannte er bis heute nicht: "Da könnte ich mir ja gleich die Kugel geben."

Im dreizehnten Buch des investigativen Journalisten plaudert Vadim Zinovievich Rabinovich  - bekennender Jude, der in der Ukraine lebt und inzwischen israelischer Staatsbürger ist - mit Roth über Interna der Organisierten Kriminalität der Ex-UdSSR, über Mafia-Strukturen und Mafia-Organisationen, über Geldwäsche und kriminelle Verstrickungen mit den sich gerade an der Macht befindlichen Politikern.

Ein Oligarch gebraucht seine Macht aus eigennützigem Interesse; die Bezeichnung Oligarchie ist der griechischen Staatstheorie entlehnt und als Verfallsform der Aristokratie beschrieben; heute gebraucht man den Begriff "Oligarch" für den Boss einer großen, unüberschaubaren Finanz- und Industriegruppe in der ehemaligen Sowjetunion. Wolfgang Seiffert spricht in seinem Buch "Wladimir W. Putin, Wiedergeburt einer Weltmacht?" davon, dass sich in Russland etwa sieben Finanz- und Industriegruppen, so genannte "Oligarchien" herausgebildet haben.

Obwohl Rabinovich - einer der reichsten und einflussreichsten Männer der Ukraine mit engen Beziehungen zu den politischen Machtzirkeln und Oligarchen in Russland, aber auch zu internationalen Politikern und Wirtschaftsmagnaten - längst nicht jede Frage Roths beantwortet, sich oftmals sehr  diplomatisch aus der Affäre zieht, verstehe ich bis zum Schluss des Buches nicht, warum er sich dazu entschlossen hat, Interna zu verraten über "das System" und die vielen "dreckigen" milliardenschweren Geschäfte, zu denen er sich durchaus selbst auch bekennt. Hat er keine Angst, einen Kopf kürzer gemacht zu werden? Warum also packt der Familienvater Rabinovich aus? Er habe 1997 den damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, getroffen. "Vadim", soll der ihm ins Gewissen geredet haben, "wenn du deinen Namen nicht reinigst, bist du nicht würdig, den Vorsitz der Vereinigten Jüdischen Gemeinden der Ukraine auszuüben und musst abtreten, weil du unserer Sache schadest."

Deshalb also die zehn Treffs (Beichte-Treffs?) mit Roth? Polizeidienststellen behaupten, Rabinovich sei das wichtigste Verbindungsglied zwischen legalen und kriminellen Geschäftsmännern in der ehemaligen Sowjetunion; er wird observiert und hat für die USA Einreiseverbot.

Rabinovich - einst im russischen Arbeitslager, in der Psychiatrie und  1991 sogar der König der Strafanstalt von Charkow - formuliert, inwiefern er sich seinem Selbstverständnis nach von den anderen Oligarchen unterscheidet: "Meine Art, Geschäfte zu machen, ist eine ganz andere als die von Beresowskij (obwohl ich ihn, ich möchte das nochmals betonen, sehr schätze). Er lebt allein dafür, andere Unternehmen zu verschlingen, und fühlt sich nur dann wohl, wenn ihm das gelingt. Wenn mein wichtigstes Ziel gewesen wäre, immer mehr zu besitzen, wenn ich nur Geld im Kopf gehabt hätte, würde ich jetzt hundertfach reicher sein und heute in der Ukraine alles unter meiner Kontrolle haben. Damit keine Mißverständnisse entstehen: Natürlich will ich Geld verdienen. Aber ich lege Wert darauf, dass das nicht meine oberste Priorität war und ist. Ich versuche zugleich, etwas Interessantes zu machen, eine Synagoge zu bauen, eine Kirche, eine Mensa für hungrige Menschen, wo sie kostenlos etwas zu essen bekommen. Ich spende für humanitäre Zwecke, beteilige mich an vielen karikativen Einrichtungen. Das ist für mich viel wichtiger. Beresowskijs Philosophie gleicht der von Nietzsche: Nur der Stärkere gewinnt. Der Unterschied zwischen uns liegt also nicht im Geschäft, sondern tief im Herzen."

So, so...

Rabinovich fleht Roth (und uns, die Leser) geradezu um Verständnis an, wenn er sagt: "Schauen Sie bitte, in welcher Situation ich mich befinde. Auf der einen Schulter hocken der amerikanische, der russische und der ukrainische Sicherheitsdienst sowie wirtschaftliche Konkurrenten. Auf der anderen Schulter gibt es eine Menge Banditen, Kriminelle. Ich muß versuchen, mich mit beiden Seiten zu arrangieren, um meine Geschäfte zu machen, um letztlich am Leben bleiben zu können."

Tja, Geld waschen die anderen, man selbst die Hände in Unschuld...

Nach diesem "Ausbruch" scheint mir, ist auch Roth im Zweifel, ob sich die Welt  so einfach in schwarz und weiß, in Verbrecher und Saubermänner einteilen lässt. Aber in Der Oligarch ist nun mal nicht viel von Saubermännern, sondern viel mehr von kriminellen Machenschaften die Rede, z. B. von denen des ehemaligen ukrainischen Premierministers Pawel Lasarenko, dem "Genie beim Ausplündern der ukrainischen Staatskasse" (Rabinovich). Durch den Verkauf von Gas-Verträgen mit Hilfe der Gasmafia hat dieser Ex-Politiker rund eine Milliarde Dollar ins Ausland geschafft, und als er 1997 von seinem Regierungsamt zurücktrat, kaufte er sich in Kaliforniern eine Villa für 6,7 Millionen Dollar: 41 Zimmer, ein Ballraum, fünf Swimmingpools, zwei Helikopterlandeplätze und - massiv goldene Türknöpfe.

Es wimmelt in Roths Buch von solchen Wirtschaftsverbrechen und damit verbundenen Auftragsmorden. Unfassbar auch, was Roth über die Jelzin-Familie zu berichten weiß. Man kann sich denken, dass es Beresowskij ungeheure Summen gekostet hat, Jelzin - der zu jenem Zeitpunkt nur noch auf eine Anhängerschaft von sechs Prozent zählen konnte - ein zweites Mal in den Präsidentensessel zu hieven. Allerdings soll später auch Putin die finanzielle Hilfe des Oligarchen Boris Beresowskij in Anspruch genommen haben, um Ministerpräsident zu werden...

Besonders unter die Haut gehen Roths Enthüllungen darüber, wohin die Millionenkredite des Internationalen Währungsfonds an Russland versickert sind oder der deutsche Milliardenkredit. "Tatsache ist, dass die Bundesregierung, genauer gesagt, die deutschen Steuerzahler, den erhofften Reformkurs in Russland mit 126 Milliarden Mark in den Jahren 1989 bis 1996 unterstützt haben. Zu einem geringen Teil profitierte die normale Bevölkerung, zum überwiegenden Anteil die Oligarchen und ganz direkt auch kriminelle russische Syndikate." Studien gehen davon aus, dass 1995 das Organisierte Verbrechen 55 Prozent des Bruttosozialprodukts in Russland erwirtschaftete. "Inzwischen", so Roth, "dürften die russischen Oligarchen bis zu 90 Prozent der russischen Wirtschaft kontrollieren (...), die meisten waren einst kleine Komsomolzen." Andererseits leben heute in Russland nach Angaben des Moskauer "Zentrums für die Untersuchung des Lebensstandards" 79  Millionen Russen, also 53 Prozent der Bevölkerung, unterhalb der Armutsschwelle, und ihre Zahl nimmt ständig zu. 57 Prozent der Reichtümer des Landes befinden sich in der Hand von nur zwei Prozent der Bevölkerung."

Wir erinnern uns: Ende Juni 2000 überschlugen sich die westlichen und östlichen Medien mit Berichten, denen zufolge Wladimir Putin mit den Oligarchen - allesamt mehr oder weniger gewiefte Raubritter und Halsabschneider - abrechnen wollte. Schon bald jedoch hörte man nichts mehr über eine Verfolgung dieser Plündergang. Sollte der Wiener Beamte Recht behalten? Ist der russischen (und ukrainischen) Mafia kein Einhalt mehr zu gebieten?

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

Bernd E. Scholz schreibt am 27.10.2007 an www.reller-rezensionen.de

Sehr geehrte Frau Reller,

(Im Zusammenhang mit der letzten Lesung von Polina Daschkowa in Marburg und Bad Homburg bin ich auf Ihre wirklich eindruckvolle Webseite gestossen, da ich die Lesung in Bad Homburg für den Verein "Deutsch-Russische Brücke" moderieren sollte...)

Eine Bemerkung zu Ihrer Rezension von Jürgen Roth: Der Oligarch. Diesem Autor traue ich seit seinem Buch "Die Russenmafia" (Hamburg: Röhrig, 1995/96) keine richtige Zeile mehr zu. Dieses Buch enthält im Namensregister überhaupt nur 50 % der im Buch genannten Namen und die sind größtenteils kaum noch als aus irgendeiner slavischen Sprache herkommend zu erkennen. Mittlerweile sind über 10 Jahre vergangen, und die Welt dreht sich immer noch weiter, ohne dass wir ein Opfer der angeblichen russischen Mafia geworden sind. Auch der ukrainische Oligarch wird daran nichts ändern, denn was sind diese "Oligarchen" schon gegen eine so gesetzestreu schmierende Firma wie Siemens?

Gutes Gelingen wünscht Ihnen weiterhin

Bernd E. Scholz

  * Die "Berliner Zeitung" (02.03.2010) berichtet, dass in der bulgarischen Hauptstadt Sofia gegen den investigativen Autor Jürgen Roth ein Gerichtsverfahren begonnen hat. Der sozialistische Ex-Innenminister Bulgariens, Rumen Petkow, wirft Roth Verleumdung vor; Roth beschreibt in seinem Buch "Die neuen Dämonen", wie kriminelle Strukturen das politische Leben des Balkanlandes beeinflusst haben. - Am 02.03.2010 wurde der bekannte Mafia-Enthüllungsautor Boris Tsankow im Zentrum der bulgarischen Hauptstadt Sofia auf offener Straße erschossen.

** Nach mehr als sieben Monaten Verhandlungsdauer ist der Mafia-Experte Jürgen Roth im Oktober 2010 von einem Gericht in Sofia freigesprochen worden.- Für zusätzliches Aufsehen hatten vor Prozessbeginn die  Ausfälle des bulgarischen Ex-Innenministers gegen Roth gesorgt. Er hatte den Autor als "Lügner, Zyniker sowie Rückgratlosen und Unglücksmenschen" beschimpft und dazu aufgerufen, Roth "aufs Maul, auf die Finger, auf alle Körperteile (zu) hauen". Nach Petkovs Aufruf zur Gewalt war Roth nicht mehr nach Bulgarien gereist, weil er dort nach eigenen Angaben um sein Leben fürchten müsse.

 

Weitere Rezensionen  zum Thema "Mafia":

  • Marek Halter, Die Geheimnisse von Jerusalem.
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  • Andrej Kurkow, Ein Freund des Verblichenen.
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  • Alexandra Marinina, Auf fremdem Terrain.
  • Alexandra Marinina, Der gestohlene Traum.
  • Gary Shteyngart, Handbuch für den russischen Debütanten.
  • Bernhard Thieme, Russisch Roulette.
  • Robin White, Sibirische Tiger.
  • Benno und Petra Zielecinski, Die Fleischfabrik. Ein Russlandreport.
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  • Alexander Panikin, Das Maß der Freiheit.
  • Benno und Petra Zielecinski, Die Fleischfabrik. Ein Russlandreport.

Am 22.11.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Wer zuerst zuschlägt, zieht auch das Fell ab.
Sprichwort der Ukrainer

   
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